Dr. Ingo Tusk: Sportmediziner aus Leidenschaft

28 Oktober, 2024 - 06:06
Lisa von Prondzinski
Dr. Ingo Tusk, Kickers Offenbach
Dr. Ingo Tusk (links) im Einsatz als Mannschaftsarzt bei den Kickers Offenbach

Bundesweit gibt es rund 17.000 Sportärztinnen und -ärzte. Einer von ihnen ist Dr. Ingo Tusk. Zu den Patienten des 58-jährigen Sportorthopäden aus Frankfurt am Main zählen Amateur- und Profisportler sowie -sportlerinnen. Viele aus dem Fußball. Mit der Nationalmannschaft der Frauen war Tusk als einer ihrer Mannschaftsärzte sogar bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio dabei.

Herr Dr. Tusk, welche spezifischen Aspekte müssen Sie bei Spitzensportlern besonders berücksichtigen?

Dr. Ingo Tusk: Für Spitzensportler hat Gesundheit eine ganz andere Bedeutung als für Freizeitsportler. Ihre ganze Karriere hängt davon ab, ob Knie, Hüfte oder Sprunggelenk funktionieren. Ein Büroangestellter, der in seiner Freizeit radelt oder schwimmt, kann das noch mit leichten Gelenkproblemen tun. Aber im Leistungssport? Keine Chance. Da ist jede kleine Beeinträchtigung ein potenzielles Karriere-Aus. Oder nehmen wir ein wichtiges Spiel im Profifußball: Da kann es für die gesamte Mannschaft entscheidend sein, eine zentrale Spielerin mit einer Sprunggelenksverletzung zu tapen, damit sie weiterspielen kann. Das muss ist dann schnell entscheiden. Außerdem gibt es bei Spitzensportlern ganz andere Möglichkeiten, sie schnell wieder fit zu machen: Sie werden täglich behandelt, ein Team von Physiotherapeuten steht ihnen zur Seite.

Gibt es einen Sportlertyp, der besonders herausfordernd ist?

Dr. Ingo Tusk: Im Freizeitsport können dies ambitionierte Späteinsteiger im mittleren Alter sein. Oft sind es beruflich erfolgreiche Menschen wie Anwälte oder Banker, die lange keinen Sport getrieben haben, untrainiert und eventuell übergewichtig sind. Wenn die dann von jetzt auf gleich exzessiv trainieren, kommt es häufig zu Überlastungsbeschwerden oder Verletzungen wie Achillessehnenriss oder Fersensporn. Solche Patienten müssen zur Mäßigung angehalten werden, ihre Körperstatik sollte überprüft und eine Laufanalyse durchgeführt werden. Ein moderater, angepasster Trainingsplan kann ihnen helfen, gesund und dauerhaft Sport zu treiben.

Ein wichtiges Thema im Sport ist auch Ernährung.

Dr. Ingo Tusk: Absolut. Wenn es um Leistungssteigerung geht, sage ich immer: 'Leute, wenn ihr euch vernünftig ernährt, könnt ihr eure Leistung um drei Prozent steigern, ohne auch nur eine Minute im Fitnessstudio gewesen zu sein'. Mit einer Ernährung ohne hochverarbeitete Lebensmittel, möglichst viel Gemüse und Obst und Gemüse, nicht so viel Fleisch, fettem Tiefseefisch, guten Ölen und so weiter. Angenommen, ich bin etwas älter, laufe jetzt dreimal die Woche und möchte meine Schnelligkeit verbessern, dann kann ich mit einem Sportmediziner ein auf mich zugeschnittenes Konzept besprechen.
Sportmediziner selbst müssen keine Sportler sein. Doch ich habe gelesen, dass viele in ihrer Jugend sportlich aktiv waren oder es noch sind.

Wie sieht das bei Ihnen aus?

Dr. Ingo Tusk: Sport und Bewegung haben für mich schon immer eine große Rolle gespielt. Heute fahre ich täglich mit dem Fahrrad zur Arbeit, laufe Ski, gehe Wandern und mein leidenschaftliches Hobby war und ist das Gleitschirmfliegen – jetzt, wo die Kinder groß sind, habe ich auch wieder mehr Zeit dafür (lacht).

Gibt es in Ihrer Familie Sportorthopäden oder war etwas anderes ausschlaggebend für Ihre Berufswahl?

Dr. Ingo Tusk: Eigentlich bin ich mit 19 Jahren durch einen Skiunfall dazu gekommen: Ich hatte einen Kreuzbandriss, im Krankenhaus dann wollte ich alles ganz genau wissen über die Behandlung. Von da an war klar: Ich möchte Medizin und Sport verbinden. Während des Medizinstudiums habe ich festgestellt, dass es noch keine sportphysiologischen Untersuchungen zum Gleitschirmfliegen gibt. Also habe ich meine Doktorarbeit über diese damals noch junge Sportart geschrieben.

Sie sind Chefarzt der Abteilung für Sportorthopädie und Endoprothetik an den Rotkreuzkliniken in Frankfurt am Main. Welche Patientinnen und Patienten behandeln Sie?

Dr. Ingo Tusk: Unsere Abteilung ist mittlerweile das größte zertifizierte Endoprothetik-Zentrum in Hessen und genießt einen guten Ruf. 2006 habe ich hier als One-Man-Show angefangen, heute sind zwei Oberärzte mit an Bord. Wir setzen "ganz normalen Patienten" mit Verschleißerscheinungen vor allem neue Hüft- oder Kniegelenke ein und behandeln Amateur- sowie Profisportler mit Sportverletzungen: ein gebrochener Zeh, eine Gelenkreizung, ein Meniskusschaden und so weiter.

Es gibt – wenn auch wenige – Studien, die zeigen, dass sich Frauen beim Sport häufig andere Verletzungen zuziehen als Männer. Was sind typische geschlechtsspezifische Verletzungsmuster?

Dr. Ingo Tusk: Bei Fußballerinnen, auf die ich mich spezialisiert habe, ist die Verletzung des vorderen Kreuzbandes, das den Oberschenkelknochen mit dem Schienbein verbindet, der große Klassiker. Sie tritt bei Frauen häufiger auf als bei Männern. Als mögliche Ursachen werden der Körperbau, das breitere Becken, die häufigere X-Bein-Stellung oder ein möglicher Einfluss des Menstruationszyklus diskutiert. Grundsätzlich positiv ist die Entwicklung in der Sportmedizin, dass Verletzungsrisiken endlich geschlechtsspezifisch betrachtet werden. Auch im Training sollten die Unterschiede stärker berücksichtigt werden.

Der Frauenfußball war früher gar nicht so sichtbar wie heute. Wie hat Ihre Karriere als Mannschaftsarzt begonnen?

Dr. Ingo Tusk: Angefangen habe ich 2003 als „Vertretung“ bei den Männern der Eintracht Frankfurt, 2005 wurde ich dann als Mannschaftsarzt der Kickers Offenbach in der 2. Bundesliga verpflichtet. Ein Jahr später übernahm ich zusätzlich die Frauen des FFC Frankfurt, die in der 1. Bundesliga spielten und schließlich mit der Eintracht Frankfurt fusionierten. Dort war ich bis vor einem Jahr tätig. Und mit der Frauen-Nationalmannschaft haben wir bei den Olympischen Spielen in Rio Gold geholt. Mehr geht eigentlich nicht.

Wie fühlt sich "Gold" an?

Dr. Ingo Tusk: Das war für uns alle das absolute Highlight. Der Gewinn der Goldmedaille gehört neben der Geburt meiner Kinder zu den schönsten Erlebnissen in meinem Leben. Für die Vorrundenspiele sind wir damals quer durch Brasilien geflogen. Ins olympische Dorf in Rio sind wir erst gekommen, als wir das Finale erreicht hatten – sonst hätten wir Rio gar nicht gesehen. Im olympischen Dorf, in der gigantischen Kantine, saßen Athleten aller Nationen in ihren Trikots zusammen. Wir Deutschen haben uns zusammengefunden, und ein erfahrener Ringer sagte: "Gold gewinnst du nur, wenn alles stimmt." Und genau das war bei uns im Maracanã-Stadion der Fall. So etwas erleben zu dürfen, ist unvergesslich.

Ihre Karriere als Mannschaftsarzt hatte ein rasendes Tempo. Der Normalfall ist das nicht. Was ist eher typisch?

Dr. Ingo Tusk: Meistens fängt man in der Heimatregion an. Bei kleineren Turnieren sammelt man wertvolle Erfahrungen in der Betreuung der Sportlerinnen und Sportler und macht sich langsam einen Namen. Besonders wichtig sind Freundlichkeit, Ehrlichkeit und eine gute Betreuung der Spielerinnen und Spieler. Und dann wird man vielleicht von einem besseren Verein "abgeworben". Natürlich spielt auch das Glück eine Rolle, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.

Welche Ausbildung braucht man, um Sportmediziner zu werden?

Dr. Ingo Tusk: In Deutschland muss zunächst eine Facharztausbildung absolviert werden, an die sich eine Weiterbildung mit der Zusatzbezeichnung "Sportmedizin" anschließt. Dafür gibt es zwei Wege: Entweder man absolviert 240 Stunden Weiterbildung und zusätzlich eine sportärztliche Tätigkeit in einem Sportverein oder einer vergleichbaren Einrichtung. Oder man arbeitet haupt- oder nebenberuflich an einem sportmedizinischen Institut mit Weiterbildungsbefugnis, von denen es in Deutschland allerdings nicht so viele gibt. In Theorie und Praxis lernt man die spezifischen Belastungen verschiedener Sportarten wie Wassersport, Mannschaftssport oder Bergsport kennen. Schwerpunkte sind Prävention, Rehabilitation, Therapie von Sportverletzungen und Leistungssteigerung. Am Ende steht eine Prüfung.

Wo überall kann man danach arbeiten?

Dr. Ingo Tusk: Mögliche Arbeitsfelder sind Institutionen wie Sportvereine und -verbände, Krankenhäuser oder Rehabilitationszentren, in denen Anstellungen möglich sind. Oder der niedergelassene Bereich. Vor allem Internisten, Unfallchirurgen und Orthopäden wie ich machen die Weiterbildung. Dann gibt es noch die Sportkardiologen, die zum Beispiel Echokardiogramme machen, was vor allem für die Beurteilung der Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Leistungssport wichtig ist. Etwas exotischer sind Sportzahnmediziner, Sportgynäkologen oder Sportaugenärzte. Letztere können zum Beispiel einen fehlsichtigen Sportschützen über eine sporttaugliche Brille oder die richtigen Kontaktlinsen beraten.

Wie wirkt sich der drohende Ärztemangel auf die Sportmedizin aus?

Dr. Ingo Tusk: Wir haben das gleiche Problem wie überall: Fachkräftemangel, es fehlt an Nachwuchs. Die Älteren gehen in Rente, die Jüngeren bleiben weg. Die Work-Life-Balance gewinnt an Bedeutung – was auch verständlich ist. Wenn man aber Fußball oder Handball betreut, verbringt man das Wochenende oft auf dem Sportplatz. Viele junge Kolleginnen und Kollegen machen am Wochenende aber lieber etwas anderes. Hinzu kommt, dass sich vor allem kleinere Vereine keinen Sportarzt leisten können. Statt einer angemessenen Bezahlung gibt es meist nur eine kleine Aufwandsentschädigung. Da ist viel Engagement und Leidenschaft gefragt.

Und außerhalb des Vereinswesens? Ist die Bezahlung woanders besser?

Dr. Ingo Tusk: Das hängt von vielen Faktoren ab. In welcher Einrichtung arbeitet man, auf dem Land, in der Stadt, ist man angestellt oder niedergelassen? Insgesamt bringt die Zusatzbezeichnung "Sportmedizin" Niedergelassenen kaum finanzielle Vorteile. Einige Krankenkassen honorieren präventive Untersuchungen und sportmedizinische Check-ups im Rahmen von Bonusprogrammen, aber das war es auch schon. Dabei sind Sportlerinnen und Sportler oft sehr anspruchsvoll, sie nehmen unglaublich viel Zeit in Anspruch. Da muss man sehen, wie sich das wirtschaftlich rechnet.

Was gefällt Ihnen an Ihrem Beruf als Sportorthopäde besonders?

Dr. Ingo Tusk: Was meine Arbeit so spannend macht, ist die Vielfalt meiner Patientinnen und Patienten. Ich betreue ältere und jüngere Menschen, Sportbegeisterte und Profis. Besonders befriedigend ist es, wenn jemand zügig Fortschritte macht und dies mit positiven Rückmeldungen quittiert. Ich würde alles wieder so machen.

Der Experte:

Dr. Ingo Tusk

Dr. Ingo Tusk (58), Orthopäde, Sportarzt und Chefarzt der Abteilung Sportorthopädie und Endoprothetik an den Rotkreuzkliniken in Frankfurt am Main. Zudem ist er Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention e. V. (DGSP) und 1. Vorsitzender des Sportärzteverbandes Hessen e.V.

Bild: © Dr. Ingo Tusk

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