Die Doktorarbeit – lohnt sich das für Ärztinnen und Ärzte noch?

12 Dezember, 2024 - 07:06
Gerti Keller
Junge Ärztin mit Doktorhut

Eine Doktorarbeit kostet Zeit und Energie, aber dann hat man den Titel sein Leben lang. Doch wie wichtig ist der „Dr.med.“ überhaupt noch? Wie findet man ein gutes Thema? Und wie sollte man das Vorhaben am besten anpacken? Dr. Ursula Kessen, Leiterin des Graduiertenzentrum Medizin der Universität Düsseldorf, gibt hilfreiche Tipps.

Frau Dr. Kessen, welchen Stellenwert hat die Doktorarbeit in der Medizin heutzutage?

Dr. Ursula Kessen: Der Doktortitel ist für junge Mediziner und Medizinerinnen nach wie vor von Vorteil. Viele Patientinnen und Patienten erwarten immer noch, dass Sie ein „richtiger Doktor“ sind. Ebenfalls wichtig: Durch die Doktorarbeit lernen die Promovierenden wissenschaftliches Arbeiten. Damit geht einher, dass ich recherchieren kann, weiß, wo ich welche – gerade auch aktuelle – Studien finde und wie ich die interpretieren muss, um meine Patientinnen und Patienten bestmöglich behandeln zu können.

Aber Karriere geht inzwischen auch ohne, oder?

Dr. Ursula Kessen: Ja. Im Gegensatz zu früher, ist der Dr. med. dafür nicht mehr überall zwingend notwendig. Es kommt darauf an, wo Sie hinmöchten. Für die akademische Laufbahn, Habilitation und Professur braucht man ihn. Für alle, die in die Forschung gehen wollen, ist der Titel der Einstieg in das wissenschaftliche Arbeiten. Meiner Erfahrung nach gilt das für die freie Wirtschaft oder öffentliche Krankenhäuser aber nicht unbedingt. Ich kann mir jedoch gut vorstellen, dass manche Kliniken dann höhere Einstiegsgehälter zahlen. Es ist ja auch eine Weiterqualifikation. Strebt man eine Führungsposition an, stellt er in jedem Fall einen nützlichen Wettbewerbsfaktor dar. Für die Niederlassung spielt er wohl noch die kleinste Rolle.

Wie merke ich, dass „mein Thema“ funktioniert? 

Dr. Ursula Kessen: Künftige Doktorandinnen und Doktoranden können zu Beginn meist gar nicht beurteilen, ob etwas dabei „rauskommt“. Das zeigt sich meist erst im Verlauf. Mein Tipp zu Beginn: Wählen Sie eine Fragestellung, die Sie selber spannend finden. Da muss man sich ein bisschen auf sein Bauchgefühl verlassen. Wer sich nicht sicher ist, sollte ruhig auch mal Mitstudierende fragen, was sie von der Idee halten. Vielleicht empfiehlt es sich, zwischendurch auch mal innezuhalten und kritisch zu reflektieren, ob sich das Thema wirklich als ergiebig genug erweist. Man kann auch mit der Doktormutter oder dem -vater eine Zwischen-Evaluation machen und ganz offen und ernsthaft darüber sprechen, wie erfolgreich sich das Projekt eigentlich gestaltet. Also nicht Augen zu und durch! Am Ende kommt es übrigens nicht drauf an, in welchem Fach ich promoviert habe. Hauptsache, ich habe ordentlich gearbeitet.

Einen Ratschlag, wie ich „mein Thema“ finden kann?

Dr. Ursula Kessen: Ich rate allen Promotionsinteressierten, möglichst viel zu lesen und Kontakte zu knüpfen. Wenn Sie beispielsweise eine Vorlesung oder ein Seminar besuchen, können Sie vorher recherchieren, an welchen Themen die Lehrkraft arbeitet. Die meisten an der Uni forschen ja. Klingt das für Sie interessant, sollten Sie mit dieser Person mal ein informelles Gespräch führen. Einfach höflich anklopfen nach der Devise „ich finde Ihr Thema sehr interessant. Kann ich mit Ihnen mal darüber sprechen“. Die meisten tauschen sich gerne über ihre Forschung aus. Und sich nebenbei vielleicht erklären lassen, wie Forschung dort allgemein funktioniert – am besten ohne zunächst das eigene Promotionsinteresse zur Sprache zu bringen.

Auch könnten Sie anschließend gleich fragen „würden Sie mir noch jemand empfehlen, der ebenfalls Interesse hätte, über sein Projekt zu sprechen?“. Dann gehen Sie da gleich mit einem Anknüpfungspunkt raus, können den nächsten Kandidaten anschreiben nach dem Motto „Herr XY hat mir empfohlen, ich dürfte Sie kontaktieren“. So kann man herausfinden, welche Themenfelder es gibt und bekommt ein Bild von potenziellen Betreuungspersonen. Denn der Knackpunkt ist zudem, wie sympathisch mir der/die Betreuer/in ist. Habe ich zu ihm/ihr einen guten Draht? Das ist die „Sollbruchstelle", hier ist ein vertrauensvolles Verhältnis elementar. Stimmt die Chemie, ist das schon die halbe Miete.

Was sollte man nicht tun?

Dr. Ursula Kessen: Verschicken Sie keine Massen-E-Mails mit Inhalten wie „ich habe jetzt Zeit, würde gerne promovieren, haben Sie was für mich?“. Die meisten Lehrpersonen sind viel zu beschäftigt, um darüber nachzudenken. Ich empfehle meinen Promotionsinteressierten immer, ihre Anfragen so zu ernst nehmen wie Bewerbungen. Man sollte sich gewissenhaft auf das Vorhaben vorbereiten, wissen, woran eine potenzielle Betreuungsperson arbeitet und zeigen, dass man die Publikationen oder den Forschungsbereich durchdrungen hat, indem man qualifizierte Fragen stellt. So merken Sie schon während der Vorbereitung, ob Sie das Thema interessiert. Das ist natürlich ein bisschen Arbeit, aber bei guter Vorbereitung und einem geeigneten Projekt haben Sie dann von der Doktorarbeit schon 40 Prozent geschafft.

Viele fangen die Doktorarbeit an, aber nicht alle bringen sie zu Ende. Kann man die eigentlich ein paar Jahre liegen lassen?

Dr. Ursula Kessen: Früher ging das, aber wenn eine angefangene Arbeit erstmal zehn Jahre vor sich hin staubt, verliert sie ihren Neuheitswert. Meistens ist sie überholt, vielleicht haben andere das Thema in der Zwischenzeit schon bearbeitet. Mit der Dissertation soll schließlich neues Wissen geschaffen werden.

Man kann natürlich auch erst das Studium beenden und sich danach ein paar Monate Zeit nehmen. Theoretisch kann ich dann an jeder Hochschule im In- und Ausland promovieren, wobei es an der Heimatuni in der Regel am unkompliziertesten ist. Das sollte aber auch dort ein bisschen vorbereitet werden. Also nicht weggehen, ohne vorher Kontakte geknüpft zu haben.

Gibt es denn einen festen Zeitrahmen?

Dr. Ursula Kessen: Das wird von den Universitäten unterschiedlich gehandhabt. Bei uns hatte man früher so lange Zeit, wie man wollte. Seit 2017 haben wir die Promotionszeit auf vier Jahre nach Anmeldung begrenzt. Man darf noch einmal verlängern und, zum Beispiel im Krankheitsfall, noch mal um Aufschub ersuchen. Wir möchten, dass unsere Doktoranden dranbleiben. Denn wenn einem das Leben dazwischenkommt, der Facharzt oder die Familie, ist es unfassbar schwer, erneut daran anzuknüpfen. Dann muss man sich erst mal wieder einarbeiten – ein Kraftakt. Unter Umständen ist auch der Betreuer oder die Betreuerin nicht mehr am Standort.

Was gibt es für Hilfestellungen? Zum Beispiel strukturierte Promotionsprogramme?

Dr. Ursula Kessen: Mittlerweile haben etliche Hochschulen so genannte strukturierten Promotionsprogramme, auf die man sich bewerben kann. Das ist schon etwas Exklusives für einige wenige Promovierende. Da bin ich ganz anders eingebunden in einen Forschungsverbund, werde sehr engmaschig betreut und erhalte ein Stipendium. An unserer Fakultät strukturieren wir die Promotion für alle unsere Doktorandinnen und Doktoranden, um ihnen gute Bedingungen zu ermöglichen, allerdings ohne eine Finanzierung. Betreuende und Promovierende schließen analog zu den Programmen eine Betreuungsvereinbarung. Damit wird ein Anfang definiert sowie das Projekt beschrieben. Darüber hinaus müssen alle Promovierenden ein strukturiertes Curriculum durchlaufen. In diesem Rahmen bieten wir ihnen eine große Vielzahl an Workshops im Bereich Schlüsselqualifikationen und Kernkompetenzen an.

Welche Möglichkeiten zur Finanzierung gibt es?

Dr. Ursula Kessen: Die allermeisten machen ihren Doktor nebenher im Studium ohne Bezahlung. Eine attraktive Möglichkeit ist ein Frei-Semester idealerweise mit einer Anstellung als studentische Hilfskraft. Das ist für die Studierenden am leichtesten umzusetzen. Für eine finanzielle Unterstützung kann man sich auch bei verschiedenen Stiftungen um ein Promotionsstipendium bewerben. Darüber hinaus haben auch die Unis verschiedene Förderangebote. So vergibt die Medizinische Fakultät Düsseldorf zur Durchführung einer experimentellen Promotionsarbeit Stipendien für einen Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten. Auch Graduiertenkollegs und -schulen fördern das Vorhaben.

Bei einer Stipendienvergabe findet eine Besten-Auslese statt. Da sollten sich Bewerbende fragen: Was sind die Erwartungen? Die große Herausforderung ist, dass ich noch nicht wissenschaftlich arbeiten kann und sehr darauf angewiesen bin, dass mir das beigebracht wird. Auf der anderen Seite wird eine hohe Selbstständigkeit erwartet. Das ist natürlich ein Spagat.

Die deutsche Version gilt im Ausland als „Schmalspur-Doktorarbeit“. Kommt das Berufsdoktorat wie in den USA?

Dr. Ursula Kessen: Das Problem ist, dass man im Medizinstudium, im Gegensatz zu anderen Studiengängen, vorher noch gar keine wissenschaftliche Arbeit, zum Beispiel eine Seminar- oder Hausarbeit geschrieben hat. Medizinstudierende dürfen so früh promovieren, weil ihre Ausbildung so lang ist. Wer aber grundsätzlich sagt, der medizinische Doktorgrad sei abgewirtschaftet, tut vielen Doktorandinnen und Doktoranden schon Unrecht. Es gibt sehr kleine Arbeiten, aber auch sehr gehaltvolle und umfangreiche. Wenn man Stellungnahmen vom Medizinischen Fakultätentag liest, positionieren sich die Entscheider eher so, dass kein Berufsdoktorat eingeführt wird, aber an der Qualitätsverbesserung des Dr. med. gearbeitet wird.

Haben Sie noch ein paar Tipps?

Dr. Ursula Kessen: Der Tipp, den ich immer gebe, lautet: Schrauben Sie Ihre Ansprüche an sich selbst nicht so herunter. Machen Sie keine Abstriche bei den Projekten, die Sie sich aussuchen. Ich sage unseren Studierenden, dass sie alle das Zeug dazu haben, gut wissenschaftlich zu arbeiten. Sie haben ja auch den Anspruch, gute Noten zu schreiben. Die Doktorarbeit bietet eine seltene Gelegenheit im Studium, bei der man mal nicht ankreuzen oder auswendig lernen muss, sondern selbstständig eine Fragestellung beantworten kann. Dabei lernen Sie unschätzbar wichtige Fähigkeiten. Die brauchen Sie, wenn Sie später zum Beispiel Besuch von einem Vertreter der Pharmaindustrie bekommen und abwägen sollen, welches neue Medikament für meinen Patienten jetzt das richtige ist. Da kann ich mich nicht zeitlebens auf das verlassen, was ich – vielleicht schon vor einer ganzen Weile – im Studium gelernt habe.

Sagen Sie sich, ich will Teil der Forschungsgemeinschaft sein. Das sollte man wertschätzen und genießen als etwas Besonderes. Wenn Sie mit der richtigen Einstellung da reingehen, dann macht es auch Spaß und gibt Erfüllung.

Die Expertin:

Dr. Ursula Kessen

Dr. Ursula Kessen ist die Leiterin des Graduiertenzentrum Medizin der Medizinischen Fakultät der Universität Düsseldorf. Sie ist Biologin.

Bild: © privat

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