Die Praxis am Südpol

31 Juli, 2023 - 07:24
Gerti Keller
Neumayer-Station III in der Antarktis
Die Neumayer-Station III in der Antarktis

Alle zwei Jahre wird auf der Neumayer-Station III in der Antarktis eine Arztstelle frei. Das bedeutet: acht Wochen Polarnacht, extreme Stürme und bis zu -50 Grad, aber auch Pinguine, Polarlichter und atemberaubende Natur. Zudem kann man dort sogar ein eigenes Theaterstück aufführen. Dr. Tim Heitland war schon ein paarmal da, als Arzt und Expeditionsleiter. Er erzählt, was einen in der Antarktis erwartet – von Inventur über Wurzelbehandlungen bis zur Not-OP.

Im Sommer sind mehr als 50 Personen dort, im Winter gerade mal neun. Der Patientenstamm ist also recht überschaubar. Dr. Tim Heitland, der die Station des Alfred-Wegener-Instituts gerne mit einem Schiff vergleicht, erläutert: „Meist sind neben den üblichen Routinebehandlungen höchstens kleine Verletzungen zu versorgen. Die Mannschaft wurde ja zuvor im wahrsten Sinne des Wortes auf Herz und Nieren geprüft.“ Das ist insbesondere wichtig, um heil durch den Polarwinter zu kommen. Denn wenn der letzte Flieger weg ist, reist niemand mehr aus. Dann ist, wie Heitland sagt, „Schicht im Schacht“.

Allerdings wird bestens vorgesorgt. Passieren kann schließlich immer etwas. „Zumal wir mit schweren Maschinen arbeiten, mitunter auch in der Höhe an Antennenmasten“, beschreibt der gebürtige Tübinger. Für den Fall der Fälle steht dort ein ganzes Hospital bereit. „Das ist unfassbar gut ausgestattet, mit voll funktionsfähigem OP, verschiedenen Röntgenanlagen, inklusive C-Bogen und digitalem Röntgen, Videolaryngoskop, 12-Kanal EKG, Sonografie, Laborgeräten, Steri, OP-Sieben bis zu einem Impressionstonometer zur Messung des Augeninnendrucks. Wir haben nur kein MR und kein CT.“

Operieren via Telemedizin

Sollte eine OP anstehen, wird diese in Echtzeit vom Kontaktkrankenhaus Reinkenheide in Bremerhaven überwacht. „Das müssen Sie vor Ort stemmen, die Kollegen und Kolleginnen in Bremerhaven halten Ihnen dabei aber kontinuierlich das Händchen. Sie sehen auch alle Vitalparameter, der Monitor wird eins zu eins gespiegelt“, erläutert Heitland, der das aus eigener Erfahrung kennt. „Wir operierten zum Beispiel vor 2,5 Jahren eine komplizierte Sprunggelenksfraktur. Dafür habe ich tatsächlich die Spinalanästhesie übernommen.“ Zudem steht eine Zahnbehandlungseinheit zur Verfügung. Denn „verrückterweise haben wir ziemlich viel Zahnprobleme“. Einen Zahn ziehen musste er noch nicht, aber Wurzelbehandlungen wurden bereits durchgeführt. Das ganze Equipment gilt es außerdem zu warten, damit alles in Schuss bleibt. Auch die Telemedizin wird monatlich getestet.

Wissenschaftliche Arbeiten für die Weltraumforschung

Zu den ärztlichen Aufgaben gehört ferner die Betreuung von medizinischen Studien, die unter anderem von der LMU und der Charité aufgesetzt werden Die Inhalte drehen sich im weitesten Sinne meist um Weltraummedizin. Denn Neumayer III ist ein gutes Analogmodell für die Raumfahrt. Da geht es um den Einfluss der Isolation auf Physis und Psyche mit so spannenden Fragen wie: Kann man im Raum navigieren, wenn man lange einer reizarmen Umgebung ausgesetzt ist? Was passiert mit der Konzentration und der Merkfähigkeit? Oder mit dem Immunsystem und Allergien?

Ein großer Berg MHDs…

Weitere Schwerpunkte sind Inventur und Bestellung. „Wir halten eine Riesen-Apotheke vor und ganz viel Verbrauchsmaterial. Deswegen muss man sich irgendwann durch einen Berg MHDs quälen“, so der Viszeralchirurg. Auch die Hygiene gehört zum Arzt-Job im ewigen Eis: „Traditionellerweise ist der Arzt für die Sauberkeit mitverantwortlich. Wir sind daher auch für Trinkwasseruntersuchungen zuständig, wozu ebenfalls die Reinigung der Getränkeleitungen gehört. Auch die Arbeitssicherheit fällt in unser Aufgabengebiet. So muss man zum Beispiel schauen, dass die Trassen in Schuss sind.“ Und: Der Arztposten hat in Personalunion die Stationsleitung inne mit all ihren Aufgaben, inklusive der Beantwortung von Medienanfragen. Und damit hat man schon einigermaßen einen Fulltime-Job.

Darüber hinaus unterstützen sich alle „Üwis“, wie die Überwinternden genannt werden, gegenseitig – für Heitland ein weiterer interessanter Aspekt. „Hier braucht jeder mal eine Hand“, wie er sagt. Und wo sonst lernen Mediziner verschiedene Schweißverfahren kennen, begleiten den Ölfilterwechsel am Blockheizkraftwerk oder gehen mit den Geophysikern auf Exkursionen ins Feld, um Seismometer auszugraben? Zudem wird die Station im Winter gemeinsam geputzt – wie in einer WG.

Feierabend und Wochenende am Ende der Welt

„Die Freizeitmöglichkeiten sind vielfältig“, informiert der passionierte Südpol-Fan. Dafür sorgt in erster Linie die überwältigende Natur. „Wer sie nicht kennt, denkt vielleicht, dass das ewige Weiß langweilig werden könnte, aber es ist eine grandiose Landschaft mit unfassbaren Lichtstimmungen – so einzigartig, dass das eigentlich schon ausreichen würde“. Darüber hinaus stehen in sechs Kilometern Entfernung 24.000 Pinguine auf dem Meereis.

Zudem gibt es eine Sauna und einen Sportraum. Man kann Musik machen, vor Ort sind ein E-Piano und eine Gitarre. Die freien Stunden verbringen die Teams oft gemeinsam. Manche haben ein Theaterstück eingeübt, andere eine Band gegründet und: „Sie können ohne Ende fotografieren. Es ist fast nicht möglich, schlechte Fotos in der Antarktis zu machen“, betont der Mediziner.

Kann ich einfach so vor die Tür?

Wenn das Wetter mitspielt, ist das oft möglich. Wer sich abmeldet und auch sonst an die Regeln hält, begibt sich nicht in Gefahr. Zur Verfügung stehen verschiedene Fortbewegungsmittel. Dazu zählen vor allen Dingen die Skidoos, die Motorschlitten, die man auch privat nutzen darf – aber immer mindestens zu zweit plus Survival-Equipment im Gepäck. „Die Trassen sind ausgeflaggt mit Bambusstangen, da drohen keine Gletscherspalten. Sie können auch mit Schneeschuhen oder Langlaufski unterwegs sein und sogar joggen gehen. Im Umfeld von 1,5 Kilometern um die Station herum darf man sich frei bewegen“, berichtet Heitland. Es sei auch nicht immer so kalt, manchmal sogar „nur“ -1 Grad.

Und die Ausstattung des Stelzenhauses?

„Es ist ein freundlicher, lichtdurchfluteter Ort, außer in der Polarnacht, da ist es nur freundlich. Alles ist extrem gepflegt“, schildert der erfahrene Polararzt. Es gibt eine Lounge, in der ein gemütliches Sofa steht plus Billard und Kicker, sowie einen großen Speisesaal. Die Zimmer sind einfach, aber nett. Die Üwis bewohnen jeweils ein Einzelzimmer – außer während der Übergabe von circa sechs Wochen, da teilt man sich den Raum zu zweit. Wer nur im Sommer kommt, wird zu viert untergebracht. Ein eigenes Bad gibt es nicht.

Kommunizieren mit zuhause ist dank guter Satellitenanbindung kein Problem. Zwar ist die Bandbreite beschränkt und dient in erster Linie der Wissenschaft. Aber man kann jederzeit telefonieren und WhatsApp schreiben, nur Videotelefonie sprengt das Netz.

Was muss ich mitbringen? Und wie fit sollte ich sein?

Must-haves sind der Facharzttitel in Chirurgie, Erfahrung und Fachkunde in Notfallmedizin sowie die Fachkunde im Strahlenschutz. In punkto Spezialisierung gibt es keine Ausschusskriterien. „Man kann sich ja selbst ausdenken, was die wahrscheinlichsten Krankheitsbilder oder Verletzungen sein können. Von daher sind natürlich Unfall-, Viszeral- und Allgemeinchirurgie nicht verkehrt. Wir hatten aber auch schon andere Subdisziplinen, zuletzt und sehr erfolgreich eine Gefäßchirurgin als Überwinterungsärztin“, führt Heitland aus. Erfahrungen in Anästhesie und der Zahnheilkunde seien ein nice to have. „Wir brauchen einfach Leute, die ein breites Spektrum abdecken“, fasst der Arzt zusammen, der momentan auch der medizinische Koordinator ist.

Athleten werden übrigens keine gesucht. „Wer psychisch und physisch normal fit ist, kann das machen. Wir ziehen ja nicht selbst irgendwelche Schlitten zum Südpol wie einst Amundsen. Aber man muss belastbar sein, es ist mitunter schon körperlich anstrengend. Ansonsten sollte man wirklich ein Teamplayer sein, weil überwintern Mannschaftssport ist.“

Los geht’s alle zwei Jahre im Juli

Die Üwi-Besatzung wird jedes Mal komplett neu zusammengestellt. Bevor es ins ewige Eis geht, steht eine viermonatige Vorbereitungszeit in Bremerhaven an. Diese beginnt stets Anfang Juli. Dann wohnen alle in einem Haus zusammen, lernen sich also gut kennen. Die Ausbildung wiederum hat verschiedene Facetten. Einige Inhalte betreffen das gesamte Team. Dazu gehört der Kettensägen-Schein sowie der „berühmte“ Gletscherkurs in den Alpen, um das Abseilen in Gletscherspalten und das Biwakieren auf dem Gletscher zu lernen. Auch ein einwöchiger Brandschutzkurs auf dem Marinegelände im holsteinischen Neustadt steht auf dem Programm, wo mit schwerem Atemschutz geübt wird. Denn zur Station eilt ja keine Feuerwehr, wenn es da mal brennt.

Dazu kommen Inhalte für den Fachbereich. In der Medizin ist dies ein dreiwöchiges Praktikum in der Anästhesie: „Da lernt man im Sprint verschiedene Narkoseverfahren kennen – und auch die Kolleginnen und Kollegen, mit denen man später telemedizinisch im Kontakt steht.“ Zudem gibt’s ein ebenfalls dreiwöchiges Praktikum beim Zahnarzt, der die Besatzung und die Befunde kennt und einem während des Winters zur Seite steht. Um den Arzt selbst unterstützen zu können, werden zwei Teammitglieder als Assistenten ausgebildet. Als kleines Krankenhaus-Praktikum absolvieren sie eine Woche im OP und eine in der Notaufnahme. 

Der Einsatz startet immer inmitten der viermonatigen Polar-Sommersaison, Normalerweise kommen die ÜWIs kurz vor Weihnachten an. Zunächst wird man dort von den Vorgängern angelernt. Ende Februar/Anfang März reisen dann fast alle ab. Normalerweise bleiben vier Wissenschaftler, ein Ingenieur, ein Koch, ein Elektriker, ein IT’ler, sowie ein Arzt übrig. Übrigens gab es auch schon mal eine Saison, in der alle Positionen rein weiblich besetzt waren, ansonsten war jeder Posten schon mal von Männern wie Frauen besetzt. Inklusive Überwinterung dauert die seltene Erfahrung vor Ort 14 Monate. Der Vertrag ist auf zwei Jahre befristet, zum Tarif-Lohn winkt eine Erschwerniszulage. Der nächste Einstellungstermin ist der 1. Juli 2024.

Heitland, der auch über die Stellenausschreibung im Deutschen Ärzteblatt dorthin kam, freut sich schon. Im Oktober geht’s für ihn wieder über Kapstadt in die Weiten des Ekström-Schelfeises.

Der Experte

Dr. Tim Heitland

Dr. Tim Heitland, MHBA, ist Facharzt für Chirurgie und Viszeralchirurgie, Proktologe mit Fachkunde Rettungsmedizin. Er war Oberarzt in München bis er 2016 zum ersten Mal in die Antarktis ging. Inzwischen ist er einige Male wiedergekehrt, aktuell medizinischer Koordinator, zuständig für die Überwinterung sowie im Sommer Expeditionsleiter.

Bild: © Dr. Tim Heitland

Das könnte Sie auch interessieren: