Prof. Dr. Thorsten Gehrke über Endoprothetik während der COVID-19-Pandemie

19 November, 2020 - 07:34
Lukas Hoffmann
Prof. Dr. Thorsten Gehrke
Prof. Dr. Thorsten Gehrke: "Der Meister muss dem Gesellen zumindest einen Hauch voraus sein."

Die Helios Endo-Klinik Hamburg ist das größte Endoprothetik-Zentrum Deutschlands. An keiner anderen Kliniken werden mehr künstliche Hüft- und Kniegelenke eingesetzt. Wie es der Fachklinik in der Pandemie geht, erklärt Klinikchef Prof. Dr. med. Thorsten Gehrke im Interview.  

Herr Prof. Dr. Gehrke, wie hat sich Ihr Arbeitsalltag seit dem Shutdown light im November verändert? 

Prof. Dr. Thorsten Gerke: In der Endo-Klinik hat sich eigentlich nichts geändert. Wir haben keine Reduktion der Fallzahlen. Wir haben kaum Patienten, die Selektiveingriffe absagen, aus Sorge sich anzustecken. Wir arbeiten auf ganz normalen Niveau. Das liegt im Grund daran, dass wir eine orthopädische Spezialklinik sind, in der keine Corona-Fälle behandelt werden. Zum anderen hatten wir keine einzige COVID-Übertragung in diesem Jahr. Wir haben fast 7.000 Patienten seit Pandemieausbruch mehrheitlich selektiv operiert und sind trotzdem komplett coronafrei. 

Wie sieht es mit großen Revisionseingriffen aus, die möglicherweise einen Aufenthalt in der Intensivstation notwendig machen und dadurch Betten belegen? Können diese stattfinden? 

Prof. Dr. Thorsten Gerke: Wir operieren im Moment keine Hochrisikopatienten, bei denen abzusehen ist, dass sie auf der Intensivstation landen. Hochrisikopatienten, bei denen es aufgrund eines Notfalls erforderlich ist, werden aber natürlich dennoch operiert. Hier haben wir im Frühjahr ein System entwickelt, das uns bislang vor Transmissionen geschützt hat. Wir gehen vor dem Aufenthalt mit den Patienten einen Fragebogen durch. Wenn der Fragebogen in Ordnung ist und der Patient kein Risiko für Corona aufweist, dann kann er am nächsten Tag in die Klinik kommen und erhält einen Abstrich. Am Abend des Aufnahmetages haben wir das Ergebnis und der Patient kann im Falle eines negativen Abstrichergebnisses am nächsten Tag operiert werden.


 
Die häufigste orthopädische Operationen in Deutschland ist das Einsetzen eines künstlichen Hüftgelenks. In der Helios Endo-Klinik Hamburg wird diese OP bei mehr als 2.500 Patienten pro Jahr vorgenommen, mehr als in jeder anderen Klinik in Deutschland. Sie sind hier Ärztlicher Direktor. Klappt das mit der oft zitierten flachen Hierarchie bei einem großen Team? 

Prof. Dr. Thorsten Gerke: Es ist schon so, dass es in einer Klinik dieser Größenordnung ohne Hierarchie nicht geht. Es muss einen geben, der die Richtung vorgibt. Ich bin dagegen, dass alle mitbestimmen, weil das erfahrungsgemäß zu einem Chaos führen kann. Erst recht in einem hochspezialisierten Krankenhaus mit klar festgelegten standardisierten Prozessen, die auch eingehalten werden müssen. Die von Ihnen genannte hohe Fallzahl lässt sich nur mit einer gewissen Stringenz realisieren. Ich bin kein Freund von flachen Hierarchien, aber ein großer Freund von Kollegialität und Teamgeist.

Wenn man als junger Arzt an Ihrem Haus in die Weiterbildung startet, operiert man dann auch schon in den ersten Jahren? 

Prof. Dr. Thorsten Gerke: Da müssen wir ehrlich sein und die Kirche im Dorf lassen. In so einer Spezialklinik wie dieser ist die primäre Hüftprothese der kleinste Eingriff, den wir hier durchführen. Ein Assistenzarzt, der hier frisch anfängt, wird im ersten und zweiten Jahr nur spärlich operieren. Er hat aber den Vorteil, dass er sehr viele Operationen am Tisch begleitet. Ich gebe den jungen Bewerbern, die von der Uni kommen, meistens den Tipp: Lernen Sie zunächst die chirurgischen Basics kennen. Gehen Sie in eine Unfallchirurgie, lernen Sie dort das Handwerk und kommen Sie dann mit entsprechender Vorerfahrung zu uns zurück. 

Sie selbst haben nach Ihrem Medizinstudium in Hamburg ein Jahr am Anatomischen Institut der Uni Kiel gearbeitet, sich dann aber für die Chirurgie und Orthopädie entschieden. Wie kam es zu dem Wechsel von der theoretischen Anatomie zur praktischen Orthopädie? 

Prof. Dr. Thorsten Gerke: Ich habe mein ganzes Leben intensiv Sport getrieben, mich hat die Lehre des Bewegungsapparats schon immer interessiert, insbesondere die Sportorthopädie. Ich habe noch im Studium angefangen, populärwissenschaftliche Bücher über dieses Thema für den Rowohlt-Verlag zu schreiben. Gegen Ende des Studiums habe ich meine Professoren gefragt, welchen Weg sie mir für die Weiterbildung empfehlen würden. Einer sagte, wenn du ins operative Fach gehen willst und dich auch wissenschaftlich mit dem Thema auseinandersetzen willst, dann gehe doch in die Anatomie, um die Grundlagen zu erlernen. Das habe ich dann ein Jahr gemacht und bin danach anschließend ans Johanniter Krankenhaus Geesthacht in die Chirurgie gewechselt. Damals habe ich mich bewusst für die "Grundausbildung" in einer kleinere Einrichtung entschieden, in der man die oben erwähnten chirurgischen Grundlagen von der Pieke auf in hoher Zahl praktisch erlernen konnte.

Sie sind noch in der Weiterbildung an die Endo-Klinik Hamburg gekommen und dort schnell aufgestiegen. Schon seit 16 Jahren leiten Sie die Klinik als Ärztlicher Direktor. Verspürt man – nach so vielen Jahren im Chefsessel – überhaupt noch die Muße zu operieren? 

Prof. Dr. Thorsten Gerke: Ich bin einer von den ärztlichen Direktoren, die sehr viel operieren und werde in diesem Jahr deutlich über 500 Prothesen einsetzen. Ich operiere hier genauso viel wie alle leitenden Oberärzte auch. Aus meiner Sicht ist es wie im Handwerk: Der Meister muss dem Gesellen zumindest einen Hauch voraus sein. Nur so bekommen Sie den notwendigen Respekt und die fachliche Anerkennung in einem operativen Fach.

Die Herzchirurgin Dr. Dilek Gürsoy hat sich vor Kurzem vergeblich auf einen Chefärztinnen-Posten beworben, obwohl sie für ihre fachliche Expertise berühmt ist. Können Sie sich vorstellen, dass nach Ihnen eine Frau die Endo-Klinik leitet? 

Prof. Dr. Thorsten Gerke: Das fällt mir schwer, weil die Endoprothetik ein sehr physischer Bereich ist. Hier müssen Sie den Kilohammer schwingen und manchmal außerordentlich schwere Extremitäten bewegen. Frauen sind von den Skills oft super und deutlich besser als Männer, stoßen aber leider in der Endoprothetik an ihre körperlichen Grenzen. Wenn Sie z.B. bei einem adipösen Patienten jemanden dazuholen müssen, könnte Ihre Autorität als Chefin leiden. Wenn es um die Hand-, Fuß- oder Schulterchirurgie geht, klar, warum sollte eine Frau eine solche Fachklinik nicht leiten können? Diese physischen Limitationen gibt es in der Herzchirurgie meines Wissens nicht, weshalb es mir nicht einleuchtet, warum Frau  Dr. Dilek Gürsoy nicht auch Chefärztin werden könnte.

Sie waren vor der Pandemie viel in der Welt unterwegs, hatten eine Gastprofessur in Shanghai, sind heute Gastprofessor der Unis in Buenos Aires und Santiago de Chile. Glauben Sie, dass Sie im nächsten Jahr wieder Gastvorlesungen halten können?  

Prof. Dr. Thorsten Gerke: Ich glaube nicht. Realistisch, denke ich, wird das Reisen nach Südamerika, Asien und Südafrika erst Ende nächsten Jahres wieder möglich. Vielleicht geht es auch erst wieder im Jahr 2022 los.
 


Der Experte:

Prof. Dr. med. Thorsten Gehrke hat nach seinem Studium der Humanmedizin in Hamburg die Weiterbildung in der Orthopädie und Unfallchirurgie im Johanniter Krankenhaus Geesthacht, der Christian Albrechts Universität zu Kiel und der Helios Endo-Klinik Hamburg gemacht. Seit 2005 ist er Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Helios Endo-Klinik Hamburg. 

Das könnte Sie auch interessieren: