Expertin im Gespräch: Prof. Dr. Sabine Oertelt-Prigione über geschlechtersensible Medizin

17 August, 2022 - 07:15
Stefanie Hanke
Expertin im Gespräch: Prof. Dr. Sabine Oertelt-Prigione
Prof. Dr. Sabine Oertelt-Prigione lehrt an der Radboud-Universität Nijmegen und an der Universität Bielefeld. Ihr Schwerpunkt ist die geschlechtersensible Medizin.

Wirken Medikamente bei Frauen anders als bei Männern? Und zeigen sie vielleicht auch verschiedene Symptome bei bestimmten Krankheiten? Dass es in medizinischer Hinsicht Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt, ist keine ganz neue Erkenntnis. Prof. Dr. Sabine Oertelt-Prigione hat 2021 an der Uni Bielefeld die bundesweit erste Professur zum Thema „Geschlechtersensible Medizin“ übernommen. Im Interview spricht sie darüber, wo wir aktuell stehen und welche Rolle das Thema in Zukunft spielen wird.

Frau Prof. Oertelt-Prigione, Sie haben in Bielefeld den bundesweit ersten Lehrstuhl zum Thema „Geschlechtersensible Medizin“ übernommen. Ist dieses Thema bisher zu kurz gekommen?

Prof. Sabine Oertelt-Prigione: Dem Thema wurde bislang zwar wenig Aufmerksamkeit gewidmet, aber die Professur beginnt nicht bei Null. Sie ist das Ergebnis eines Prozesses, der mehrere Jahrzehnte gedauert hat und der aus der Frauengesundheitsbewegung entstanden ist. Sicherlich hätten wir natürlich auch schon vorher eine Professur mit diesem Namen haben können. Trotzdem ist es ein neues Thema in der Medizin, und das erfordert einen veränderten Blickwinkel. Eigentlich geht es darum, das Geschlecht als Querschnittsthema überall in der Medizin zu berücksichtigen – das ist natürlich schwieriger, als einfach eine neue Fachrichtung zu etablieren. Es geht um einen breiten Veränderungsprozess, und wir alle wissen, dass so etwas sehr lange dauern und oft auch auf Widerstände stoßen kann.

Wie reagieren denn andere Medizinerinnen und Mediziner auf dieses Thema?

Prof. Sabine Oertelt-Prigione: In den letzten Jahren hat sich da einiges verändert. Ich beschäftige mich seit bald 20 Jahren mit der geschlechtersensiblen Medizin. Am Anfang gab es noch viel Unverständnis und viele Missverständnisse. Viele Kolleginnen und Kollegen glaubten damals, dass ich als Chirurgin geschlechtsangleichende Operationen durchführe – dabei komme ich aus der Inneren Medizin. Die Versorgung von Transgender-Personen ist primär nicht das, was wir machen. Daher finde ich auch die Bezeichnung „Geschlechtersensible Medizin“ präziser als „Gendermedizin“. Inzwischen gibt es aber definitiv eine größere Offenheit für das Thema – Gender-Themen sind im Mainstream angekommen. Und wir haben jetzt viel mehr wissenschaftliche Daten, die belegen, wie wichtig es ist, auch in der Medizin auf das Geschlecht zu gucken. Das überzeugt viele, die das anfangs für unwissenschaftlich gehalten haben.

Welche Rolle spielt die geschlechtersensible Medizin aktuell überhaupt im Medizinstudium?

Prof. Sabine Oertelt-Prigione: Aktuell ist das Thema in der Pflichtlehre nur in zwei Fakultäten verankert: Das ist die Charité in Berlin und das sind wir in Bielefeld. Ob das Thema an den anderen Universitäten gelehrt wird, ist den einzelnen Dozierenden überlassen. Wenn sich jemand konkret darum kümmert, gibt es vielleicht Wahlfächer oder Ringvorlesungen dazu. Das ist aber immer sehr abhängig von einzelnen Personen und nicht Teil des Curriculums. Allerdings wird sich das wahrscheinlich ändern. Wir haben einen nationalen Lernzielkatalog, der vor einigen Jahren erneuert wurde. Dabei wurde für viele Lernziele festgelegt, dass sie geschlechter- und kultursensibel sein sollten. Außerdem wird es 2025 eine neue Approbationsordnung geben. Auch hier soll die geschlechtersensible Medizin aufgenommen werden. Das beides übt einen gewissen Druck auf die Fakultäten aus, diese Themen künftig stärker zu berücksichtigen.

Mit der Professur in Bielefeld sind Sie dabei in der Position einer Vorreiterin. Wie ist das Thema dort im Curriculum eingebunden?

Prof. Sabine Oertelt-Prigione: Da es in Bielefeld erst seit dem Wintersemester 2021/22 möglich ist, Medizin zu studieren, bauen wir unser Curriculum natürlich ganz neu auf. Dadurch sind wir in einer privilegierten Position. Außerdem hat sich unsere Fakultät in Bielefeld auf die Fahnen geschrieben, geschlechtersensibel zu lehren. Meine Kollegin und ich sind aktuell bei allen Planungsrunden dabei, die das neue Curriculum betreffen. Dadurch ist es sehr einfach, unsere eigenen Veranstaltungen einzubringen. Eine größere Hürde ist es, alle anderen mitzunehmen. Wir wollen ja nicht nur drei Vorlesungen zur geschlechtersensiblen Medizin gestalten, sondern wir wollen, dass das Thema auch in alle anderen Lehrveranstaltungen einfließt. Und das erfordert viel Arbeit, die anderen Dozierenden dafür zu gewinnen.

Was erleben Sie für Reaktionen?

Prof. Sabine Oertelt-Prigione: Bei einigen Disziplinen erleben wir eine große Offenheit, beispielsweise in der Allgemeinmedizin, in der Pathologie oder der Neurologie – da gibt es Einzelne, die an uns herantreten und über die konkrete Zusammenarbeit sprechen wollen. Andere sind noch zurückhaltender. Das ist ein Prozess, dafür brauchen wir Geduld. Wer das Thema interessant findet, kommt direkt auf uns zu. Andere sind grundsätzlich offen, wissen aber noch nicht, ob es für sie wirklich relevant ist. Diese Leute wollen wir nach und nach für das Thema sensibilisieren. Eine dritte Gruppe ist grundsätzlich dagegen. Hier muss man sich im Klaren darüber sein, dass man nicht alle erreichen kann. Aber wir planen das Curriculum ja für fünf Jahre – ich gehe davon aus, dass sich in diesem Zeitraum noch einiges entwickelt. Es ist eine Lernspirale – nicht nur für die Studierenden, sondern für das gesamte Dozierenden-Kollegium.

Ist die geschlechtersensible Medizin für einige Fachgebiete relevanter als für andere? Oder betrifft das Thema alle gleichermaßen?

Prof. Sabine Oertelt-Prigione: Grundsätzlich kann es alle betreffen. In einigen Fachrichtungen ist das Thema aber schon bekannter. Ein Beispiel ist die Kardiologie: Dass Frauen bei einem Herzinfarkt andere Symptome haben als Männer, ist inzwischen nicht nur in medizinischen Fachkreisen bekannt. Die geschlechtersensible Medizin, wie wir sie heute kennen, ist in den 1990er Jahren in den USA durch die Herzinfarkt-Forschung entstanden. Daher gibt es in der Kardiologie die meiste Forschung dazu. Aber inzwischen wird das Thema auch in der Onkologie und der Neurologie immer stärker aufgegriffen. Sobald sich jemand in einem Fachgebiet damit beschäftigt, wird meistens deutlich, dass es Aspekte gibt, bei denen das Geschlecht eine Rolle spielt. Ich denke, so etwas lässt sich in allen Fachdisziplinen finden. Andere Themen, wie die ärztliche Kommunikation, betreffen sowieso alle. Hier spielen Genderaspekte natürlich eine Rolle, weil es wichtig ist, den Patientinnen und Patienten entgegenzukommen und alle in ihrer Individualität ernst zu nehmen.

Wie sieht es bei wissenschaftlichen Studien aus? Man hört ja, dass viele Studien immer noch hauptsächlich an männlichen Probanden ausgerichtet sind…

Prof. Sabine Oertelt-Prigione: Das hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Die Medien spitzen so etwas gerne stark zu – dadurch ist aber auch ein gewisser Druck entstanden, es anders zu machen. Schwarze Schafe gibt es immer noch: Erst vor zwei Jahren gab es eine Studie zur Postexpositionsprophylaxe bei HIV – dort wurden nur Männer eingeschlossen, als ob Frauen kein HIV bekommen könnten. Aber das ist inzwischen die Ausnahme – es ist inzwischen sehr schwierig, Studien bei den Zulassungsbehörden durchzubekommen, bei denen nicht auch Frauen eingeschlossen wurden. Das Problem liegt eher bei der Publikation der Studien: Hier werden die Daten häufig nicht nach Geschlecht getrennt ausgewertet. Wenn ein Wirkstoff beispielsweise bei Frauen und Männern Unterschiede bei Wirksamkeit und Nebenwirkungen zeigt, wird das längst nicht bei allen Studien systematisch aufgeführt. Dabei sind das die Daten, die man in der klinischen Praxis wirklich braucht. Man bekommt stattdessen Durchschnittswerte, die für beide nicht richtig passen.

In der Zukunft wird es immer mehr individualisierte Medizin geben, die sich am Genom eines bestimmten Patienten oder einer bestimmten Patientin orientiert. Braucht es die geschlechtersensible Medizin dann überhaupt noch?

Prof. Sabine Oertelt-Prigione: Selbst, wenn wir uns die Menschen künftig auf einer genetischen Ebene anschauen, um über Therapien zu entscheiden: Natürlich spielen dabei auch die Sexualchromosomen, die Hormone und damit das Geschlecht weiterhin eine Rolle. Dieser Aspekt fällt dadurch nicht plötzlich weg. Außerdem denke ich, die individualisierte Medizin wird kein Standard für alle Therapien werden, sondern mittelfristig eher ein Einzelfall, beispielsweise in der Krebstherapie oder der Transplantationsmedizin, bleiben. Wer mit einer Erkältung zur Hausärztin geht, lässt sich dort nicht als erstes das Genom untersuchen, um eine individualisierte Therapie zu bekommen. Die individualisierte Medizin wird auch auf absehbare Zeit mit enormen Kosten verbunden bleiben. Damit wird es das auch in Zukunft nur für einige Krankheitsbilder und vor allem nur für Menschen in reichen Ländern geben. Beim Großteil der Erkrankungen müssen wir weiterhin mit bestimmten Kategorien arbeiten, und da bleibt das Geschlecht ein ganz wichtiger Aspekt, wie beispielsweise auch das Alter oder eventuell die ethnische Herkunft.

Welche Rolle spielen Transgender und nichtbinäre Menschen für die geschlechtersensible Medizin?

Prof. Sabine Oertelt-Prigione: Alle Menschen kommen zu Ärztinnen und Ärzten – und wir müssen dafür sorgen, dass sich alle bei uns gut aufgehoben fühlen. Daher sind auch diese Zielgruppen für geschlechtersensible Medizin wichtig. Viele Studien gehen von einem binären Geschlechterverständnis aus. Aber auch das ändert sich langsam, speziell bei Bevölkerungsstudien. Das Robert-Koch-Institut wird künftig in Studien sowohl das biologische Geschlecht als auch die Genderidentität erfassen. Die aktuelle politische Debatte blickt vor allem auf die Genderidentität – also, wer ist eine Frau bzw. ein Mann. Aber das ist ja nur ein kleiner Teil dessen, was Gender ausmacht. Wir blicken in unseren Studien beispielsweise auch auf Gendernormen und Stereotypen – dann zeigt sich, dass das Thema auf einmal eine andere Wertigkeit hat.

Welche Rolle spielen Stereotypen für die Gesundheitsversorgung?

Prof. Sabine Oertelt-Prigione: Ein Beispiel ist Long-Covid: Daran erkranken mehr Frauen als Männer. Die sind anfangs aber nicht ernst genommen worden. Da hieß es dann, die Patientinnen hatten einfach eine heftige Erkrankung und müssten sich noch erholen. Erst später wurde klar, dass es sich bei Long-Covid im Grunde um eine langfristige Inflammation handelt, unter der Frauen häufiger leiden. Die Frage ist also: Werden Frauen beim Arztbesuch anders behandelt als Männer? Und werde ich vielleicht auch als Ärztin selber anders beurteilt, wenn ich nicht gewissen Gendernormen entspreche? Da gibt es noch viele Dimensionen, die in der erhitzten öffentlichen Debatte aktuell nicht vorkommen, die für die Gesundheitsversorgung aber wichtig sind.

Geschlechtersensible Medizin ist natürlich nicht nur für die Studierenden wichtig. Wie können Ärztinnen und Ärzte, die schon längst im Beruf sind, sich über aktuelle Erkenntnisse informieren?

Prof. Sabine Oertelt-Prigione: Viele Ärztekammern organisieren auch Fortbildungen dazu – die Nachfrage ist da. Vieles davon findet online statt. Wer sich dafür interessiert, kann sich also auch unabhängig vom Standort informieren. Es gibt auch öffentlich zugängliche Ringvorlesungen, bei denen eine bunte Mischung von Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Fachrichtungen zum Thema referiert und Daten aus ihrem Bereich vorstellt. Wer sich konkret für aktuelle Studien, Nebenwirkungen von Medikamenten und ähnliche Themen interessiert: Dazu gibt es Fachbücher und Publikationen. Leider können viele Leitlinien noch nicht entsprechend angepasst werden, weil häufig noch Daten fehlen. Daher ist es aktuell den Ärztinnen und Ärzten in der Praxis überlassen, ob sie die empfohlene Dosierung von Medikamenten für Patientinnen anpassen wollen. Da wird es aber auch in Zukunft mehr geben, woran man sich orientieren kann – die Arzneimittelkommission der Ärztekammer beschäftigt sich beispielsweise auch damit. Und das Thema Kommunikation ist natürlich extrem wichtig. Speziell für Menschen unter 30 spielt das Gender-Thema eine deutlich größere Rolle als früher. Als Arzt oder Ärztin sollte man sich darauf einlassen, um auf diese Menschen und ihre Bedürfnisse eingehen zu können. Viele Hausärztinnen und -ärzte sind häufig sowieso schon sehr engagiert, so gut es bei ihrem engen Zeitplan eben geht.

Warum haben Sie persönlich sich auf geschlechtersensible Medizin spezialisiert?

Prof. Sabine Oertelt-Prigione: Ich bin eher zufällig zur geschlechtersensiblen Medizin gekommen. 2004 war ich in den USA und habe dort als Post-Doc zu Geschlechterunterschieden in der Autoimmunität gearbeitet. Im Anschluss habe ich meine fachärztliche Weiterbildung in der Inneren Medizin fortgesetzt und einen Master in Public Health und eine Fortbildung in Organisationsberatung gemacht. Irgendwie hat das alles gut zusammengepasst. Ich habe grundsätzlich einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Außerdem ermöglicht mir diese Spezialisierung, inhaltlich in der Medizin zu arbeiten und gleichzeitig etwas für mehr soziale Gerechtigkeit zu tun. Ich habe das Gefühl, dass ich hier tatsächlich etwas bewirken und vielleicht Menschen zum Umdenken bringen kann.

Die Expertin

Prof. Dr. Sabine Oertelt-Prigione lehrt an der Radboud-Universität Nijmegen und an der Universität Bielefeld. Ihr Schwerpunkt ist die geschlechtersensible Medizin. Davor forschte sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschlechterforschung in der Medizin (GiM) der Charité.

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