Gender Pay Gap in der Medizin: 30 Prozent!

30 Juni, 2021 - 07:20
Gerti Keller
Symbolbild Gender Pay Gap: Zwei Stapel mit Münzen und den Symbolen für Männlich und Weiblich

Im Durchschnitt verdienen Ärztinnen und Ärzte in Deutschland vor Steuern aktuell 150.000 Euro pro Jahr. Je nach Fachrichtung mal mehr, mal weniger. Aber: Die größte Differenz existiert nach wie vor zwischen Männern und Frauen, die in Vollzeit arbeiten. Auch 2020 betrug der Gender Pay Gap hier knapp 30 Prozent.

Systemrelevant und trotzdem viel weniger auf dem Konto: Von einer „Gender Equality“ sind Ärztinnen in Deutschland immer noch meilenweit entfernt. Während bei ihren männlichen Kollegen durchschnittlich 161.000 Euro die Lohntüten füllten, mussten sie sich im vergangenen Jahr mit 114.000 Euro abfinden – und zwar bei beiden Geschlechtern für eine Wochenarbeitszeit von rund 52 Stunden. Das geht aus dem Medscape Gehaltreport 2021 hervor. Damit liegt der Pay-Gap in der Ärzteschaft weiterhin deutlich höher als im gesamten Bundesdurchschnitt. Dort beträgt er neuesten Zahlen zufolge 18 Prozent.

„Die Unterschiede beginnen nach wie vor auf dem Level, auf dem die außertariflichen Verträge anfangen, also bei Funktionsoberarzt-, Oberarzt- und Chefarztstellen“, erklärt Dr. Christiane Groß, Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes e.V. (DÄB). Das hat mehrere Gründe. „Zum einen verhandeln Frauen meist nicht so hart. Und sie wissen auch nicht, was ihr meist männlicher Vorgänger bekommen hat. Ihren Kollegen kommt hierbei oft der sogenannte, auch aus der freien Wirtschaft bekannte ‚Thomas-Kreislauf‘ zugute. Da hat sich der Chef seinen Nachfolger schon ausgesucht, klopft ihm auf die Schulter und sagt ‚Junge, du weißt ja, was du rausholen kannst‘“, beschreibt Groß.

29.03.2024, klinik Werk.
29.03.2024, Clienia Littenheid AG
Sirnach

Außerdem wählen viele Medizinerinnen immer noch die eher „weichen“ Disziplinen, in denen mehr kommuniziert wird – die aber weniger einbringen. Dazu zählen die sogenannten P-Fächer, hausärztliche Medizin oder Kinderheilkunde. Zwar wurden die Honorare für die sprechende Medizin mit der EMB-Reform 2020 deutlich erhöht, aber: „Es ist noch lange nicht ausgewogen. Die technik-lastigen Fächer, die von Männern bevorzugt werden, stehen nach wie vor finanziell besser da. Auch, weil es für Gespräche kaum neue Techniken und daher auch keine neuen Analogziffern geben kann“, kritisiert Groß.

Mehr Zuwendung, höhere Heilungschancen

„Frauen nehmen sich zudem mehr Zeit für die Patienten, selbst wenn sie im gleichen Fach arbeiten. Dadurch haben sie eine niedrigere Schlagzahl und weniger Einkommen. Gleichzeitig erzielen sie damit aber einen höheren Behandlungserfolg, gerade bei chronisch Kranken. Das wird jedoch nicht bewertet“, führt Groß aus. Dies legt auch die Harvard-Studie „Physician Work Hours and the Gender Pay Gap — Evidence from Primary Care” offen. Danach widmen amerikanische Ärztinnen ihren Patienten rund 16 Prozent mehr Zeit, erteilen aber bei weniger Durchläufen pro Sprechstunde gleichzeitig mehr Diagnosen und Aufträge für Nachuntersuchungen und Behandlungen.

Hinzu kommt „das alte Lied“ der Nachteile durch Schwangerschaft, Kinderbetreuung und Teilzeit. Das alles wirkt sich auf den Geldbeutel und den Lebensstandard aus. So ließ Medscape die 700 Teilnehmer der Online-Umfrage alle Besitztümer zusammenzählen. Bei Männern kam dabei ein durchschnittliches Nettovermögen von 400.000 Euro heraus, Frauen errechneten 234.000 Euro. Die alten Rollenmuster spiegeln sich auch im Familienmodell, das sich nur langsam verändert. 66 Prozent der Ärzte gaben an, dass ihre Partnerin deutlich weniger verdient, bei den Ärztinnen waren dies 35 Prozent.

Bescheidenheit ist keine Zier

„Auch wählen Ärztinnen eher überschaubarere Einzelniederlassungen ohne OP-Möglichkeit. Hier konkurrieren sie dann mit großen Praxisverbünden oder MVZs. Erschwerend kommt hinzu, dass auch Praxisübernahmen immer teurer werden. Da bleiben viele lieber angestellt – und sagen ‚Nee, das tue ich mir nicht an‘. Männer sind bis heute risikobereiter“, so Groß.

Ihr pragmatischer Rat: „Ärztinnen sollten das Gehalt ihres Vorgängers herausfinden oder sich über Mentorinnen-Netzwerke erkundigen, was üblich ist und das dann auch klar verlangen. Eine Eigenschaft, die man uns kaum beigebracht hat. Wir müssen also auch unsere Töchter anders erziehen“, sagt die 67-jährige Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie. Wie aktuell das weiterhin ist, zeigt ein Psychologie-Experiment des Boston College. Hier ließen die Forscherinnen Sophie Arnold und Katherine McAuliffe 240 Kinder zwischen vier und neun Jahren für eine geleistete Arbeit um einen Bonus – ihre Lieblingssticker – verhandeln, und zwar einmal mit einem weiblichen und einmal mit einem männlichen „Chef“. Die Jungs verlangten von beiden die gleiche Belohnung. Mädchen ab acht Jahren gaben sich mit weniger zufrieden bei, wohlgemerkt, dem männlichen Verhandlungspartner.

36,5 Prozent Radiologinnen

Immerhin: Die Medizin wird kontinuierlich weiblicher. Der Frauenanteil steigt überall, in den für sie klassischen, aber auch untypischen Fächern. Ein Vergleich der Statistiken der Bundesärztekammer der letzten zehn Jahre zeigt: Bis zum Jahr 2020 kletterte der Anteil der Psychiaterinnen und Psychotherapeutinnen auf 53 Prozent, die Kinder- und Jugendmedizinerinnen legten auf 61,5 Prozent zu und die Gynäkologinnen auf 70 Prozent. Mittlerweile gibt es aber auch knapp 22,5 Prozent Chirurginnen und 36,5 Prozent Radiologinnen, die bestbezahlte Disziplin.

Die ganz große Lücke von 30 Prozent Lohngefälle werden die Ärztinnen aber wohl nicht mehr aufholen. „Dass der Gender Pay Gap bei Medizinern so viel höher ausfällt als im Durchschnitt aller Berufe, liegt wohl auch daran, dass in die Berechnungen alte Chefarztverträge einfließen, die früher viel mehr verdient haben“, vermutet die DÄB-Präsidentin. Heute ist dieser Posten auch in anderer Hinsicht unattraktiver als vor 30 Jahren. „Jetzt bestimmt die Klinikverwaltung und die Zahlen müssen stimmen. Inzwischen wollen das auch viele junge Ärzte nicht mehr machen“, ergänzt Groß.

Arbeitszeiten-Limits für alle

Ein Blick in die Welt beweist, dass das Lohngefälle in der Ärzteschaft ein globales Phänomen ist. Und Corona scheint das sogar noch zu verstärken. Laut des „2020 Physician Compensation Report“ des US-Mediziner-Netzwerks Doximity hat sich der Abstand zwischen den Geschlechtern bei der Gesamtvergütung von 2019 bis 2020 von 25 auf 28 Prozent erhöht. Der neue „Mend the Gap“-Bericht der Manchester Metropolitan University – übrigens die umfassendste Untersuchung, die je zu diesem Thema im britischen öffentlichen Sektor durchgeführt wurde – fordert im Fazit „revolutionäres Handeln“. Ein Vorschlag sind Arbeitszeiten-Limits für alle, damit Teilzeitarbeiter nicht unverhältnismäßig benachteiligt werden.

Wie zäh dieses Lohngefälle sein kann, beleuchten auch die Gehaltszettel eines anderen Berufs im Gesundheitswesen: der Medizinischen Fachangestellten. Sie sind fast ausschließlich weiblich. Trotzdem gibt es einige wenige männliche Kollegen. Und die verdienen laut einer Information von gehalt.de aus dem Jahr 2020 rund 31.400 Euro im Jahr, im Gegensatz zu den 31.100 Euro der großen Mehrheit.

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