
Die Flexibilisierung ärztlicher Arbeit ist eine Antwort auf die Herausforderungen einer alternden Gesellschaft, eines überlasteten Gesundheitssystems und einer bedrohten Berufsgruppe. Teilzeit, Jobsharing und Telemedizin ermöglichen es Ärztinnen und Ärzten, im Beruf zu bleiben, ohne sich selbst aufzugeben.
Die medizinische Versorgung in Deutschland steht unter einem zunehmenden strukturellen Druck, der längst nicht mehr nur intern diskutiert wird, sondern sich spürbar sowohl auf Patientinnen und Patienten als auch auf die Bevölkerung auswirkt. Drei Entwicklungen wirken dabei in einer Weise zusammen, die das System an seine Grenzen bringt: der demografische Wandel, der Fachkräftemangel und die hohe Belastung der Ärztinnen und Ärzte.
Mit dem altersbedingten Ausscheiden der geburtenstarken Jahrgänge aus dem Berufsleben entsteht eine Versorgungslücke. Gleichzeitig wächst die Zahl älterer, chronisch kranker Patienten kontinuierlich. Bis 2035 wird fast ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland über 65 Jahre alt sein – mit entsprechend steigendem medizinischem Versorgungsbedarf. Zugleich wird es immer schwieriger, ärztlichen Nachwuchs für klassische Vollzeitstrukturen in Klinik und Praxis zu gewinnen. Zwar steigt die absolute Zahl der berufstätigen Ärztinnen und Ärzte. Doch die tatsächliche Verfügbarkeit sinkt, da viele junge Kolleginnen und Kollegen aus Gründen der Vereinbarkeit, Selbstfürsorge oder Erschöpfung in Teilzeit arbeiten. Die Arbeitsrealität ist allerdings oft auf ein Vollzeitmodell ausgelegt, das mit den Lebensentwürfen junger Ärztinnen und Ärzte immer weniger vereinbar ist.
Psychische Belastung der jungen Ärztegeneration
Besonders besorgniserregend ist dabei die hohe Rate an psychischer Belastung in der jungen Ärztegeneration. Schon während der Weiterbildung berichten viele von Überforderung, chronischer Erschöpfung und Symptomen eines beginnenden Burn-out-Syndroms. Studien zeigen, dass bis zur Hälfte der Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung psychisch stark belastet ist – ein Frühwarnsignal, das nicht ignoriert werden darf.
Denn wer die Fürsorge für andere dauerhaft trägt, ohne selbst Unterstützung und Gestaltungsspielräume zu erfahren, verlässt früher oder später das System. Dieser Verlust betrifft dabei nicht nur einzelne Biografien, sondern er gefährdet die Versorgungsfähigkeit des gesamten Landes. Unter welchen Bedingungen mehr Ärztinnen und Ärzte im Beruf bleiben – gesund, motiviert und langfristig, ist deshalb keine rein berufspolitische Frage, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Flexible Arbeitszeitmodelle sind dabei kein nebensächliches Detail, sondern strukturelles Kerninstrument.
Teilzeitmodelle statt 60-Stunden-Woche
Flexible Arbeitszeitmodelle ermöglichen eine neue Balance zwischen beruflicher Verantwortung und persönlicher Lebensführung. Sie bieten damit genau den Spielraum, den eine moderne Ärztegeneration benötigt, um dauerhaft in der Versorgung zu bleiben. Ihre Wirksamkeit zeigt sich in drei Bereichen besonders deutlich:
- in der ambulanten Versorgung,
- in der ärztlichen Weiterbildung und
- in der spezialisierten stationären Medizin.
In der ambulanten Versorgung kann die gezielte Einführung von Teilzeitmodellen dazu beitragen, Praxen in strukturschwachen Regionen langfristig aufrechtzuerhalten. Viele junge Ärztinnen und Ärzte sind bereit, Verantwortung zu übernehmen, jedoch nicht im Rahmen eines überholten 60-Wochenstunden-Arbeitsmodells. Mit Teilzeitlösungen, klarer Aufgabenverteilung und digital gestützter Organisation lassen sich auch große Patientenkollektive stabil, zuverlässig und mit hoher Versorgungsqualität betreuen. So entsteht eine echte Win-win-Situation: Ärztinnen und Ärzte behalten ihre psychische und physische Gesundheit und Patientinnen und Patienten profitieren von Kontinuität und Präsenz.
Jobsharing als zukunftsweisende Lösung
In der Weiterbildungszeit ist das Jobsharing eine zukunftsweisende Lösungsoption. Wenn sich zwei Assistenzärztinnen oder Assistenzärzte eine Vollzeitstelle teilen, entsteht für beide ein realisierbarer Raum für Familienleben, Pflegeverantwortung oder gezielte Erholung. Gleichzeitig bleibt die fachärztliche Ausbildung auf einem qualitativ hohen Niveau, da sie mit strukturierten Übergaben, geteilten Lernprozessen und kollegialer Rückkopplung unterstützt wird. Auch wenn sich der Qualifikationsweg verlängert, ist der Gewinn für das Gesamtsystem erheblich: Gut ausgebildete Ärztinnen und Ärzte bleiben den Versorgungssystemen erhalten und sind motiviert und belastbar.
In der spezialisierten stationären Versorgung kann Telemedizin dazu beitragen, erfahrene Fachkräfte auch außerhalb des physischen Klinikbetriebs einzubinden. Ärztinnen und Ärzte in Elternzeit, Pflegezeit oder in geografischer Distanz können per Videosprechstunde, Fallkonferenz oder digitaler Supervision ihr Wissen einbringen – ohne Präsenzpflicht und dennoch mit hoher Wirkung. Gerade in Bereichen mit geringer fachlicher Dichte, etwa bei Seltenen Erkrankungen oder komplexen chirurgischen Fragen, bleibt auf diese Art und Weise wertvolle Expertise im System. Telemedizin wird damit nicht zur Notlösung, sondern zur tragenden Säule einer differenzierten, flexiblen Versorgungsarchitektur.
Flexibilität ist eine Investition in Stabilität
Das Flexibilisieren der ärztlichen Arbeit ist kein Entgegenkommen an individuelle Lebensentwürfe. Es ist vielmehr eine notwendige strukturelle Antwort auf die Herausforderungen einer alternden Gesellschaft, eines überlasteten Gesundheitssystems und einer bedrohten Berufsgruppe. Flexible Arbeitszeitmodelle ermöglichen es Ärztinnen und Ärzten, im Beruf zu bleiben, ohne sich selbst aufzugeben. Sie machen den Weg frei für mehr Vereinbarkeit, Langfristigkeit und Nachhaltigkeit in der medizinischen Versorgung.
Gesellschaftlich betrachtet ist Flexibilität kein Risiko, sondern eine Investition in Stabilität. Denn nur wer die Bedingungen für ärztliche Tätigkeit so gestaltet, dass sie mit Leben, Gesundheit und Entwicklung vereinbar sind, sichert die medizinische Versorgung von morgen. Die Frage, wie wir als Gesellschaft mit dem ärztlichen Personal umgehen, ist auch eine Frage, wie viel uns unsere eigene Versorgung wert ist. Flexible Medizin ist verlässliche Medizin – für uns alle.
Dtsch Arztebl 2025; 122(18): [2]
Der Autor:
Prof. Dr. med. Alexander Ghanem
Chefarzt Innere Medizin II
Kardiologie & internistische Intensivmedizin
Asklepios Klinik Nord
22417 Hamburg



