Arbeitsrecht: Schluss mit der Willkür nach Gutsherrenart

26 Januar, 2021 - 07:31
Dr. iur. Torsten Nölling
Arzt mit Megaphon vor dem Gesicht und erhobenem Zeigefinger vor blauer Wand

Das Bundesarbeitsgericht hat eine alte Streitfrage zum Weisungsrecht geklärt. Nunmehr dürfen Arbeitnehmer unbillige Weisungen ignorieren. Doch tragen sie das Risiko, in einem Prozess zu unterliegen.

Arbeitgeber haben ein allgemeines Weisungsrecht. Dieses Recht ist jedoch nicht grenzenlos. Das ärztliche Berufsrecht kennt die Ausnahme, nach der es ein Weisungsrecht in der Medizin nur unter Ärzten gibt. Nichtärztliche Geschäftsführer beispielsweise dürfen keine medizinischen Weisungen erteilen. Einer solchen „nichtigen Weisung“ müssen Arbeitnehmer nicht folgen. Nichtig sind Weisungen, die gegen ein gesetzliches Verbot oder gegen die guten Sitten verstoßen, die willkürlich oder missbräuchlich sind. Ihnen steht die Unwirksamkeit quasi auf der Stirn. Schwieriger ist die Abgrenzung, wenn es um „unbillige Weisungen“ geht. Wann eine Weisung noch „billig“, im Sinne von gerechtfertigt, und wann „unbillig“, also nicht gerechtfertigt ist, entscheidet der Einzelfall.

Im Jahr 2012 hatte das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden, dass Arbeitnehmer vorläufig an unbillige Weisungen gebunden sind, wenn sie nicht aus sonstigen Gründen unwirksam waren. Die Konsequenz war, dass Arbeitnehmer strittige Weisungen zunächst befolgen mussten, um ihre Vergütungsansprüche nicht zu verlieren oder einer Kündigung wegen Arbeitsverweigerung zu entgehen. Erst nach einem rechtskräftigen Urteil, das die Unverbindlichkeit der Weisung festgestellt hatte, konnten sie die Leistung verweigern.

Der Fall: Versetzung eines Immobilienkaufmanns

Nunmehr hat das Bundesarbeitsgericht diese Entscheidung revidiert. Die Richter entschieden, dass Arbeitnehmer unbillige Weisungen nicht befolgen müssen (BAG-Urteil vom 18. Oktober 2017, Az.: 10 AZR 330/16). Die Parteien stritten unter anderem darüber, ob eine Versetzung wirksam war. Der Arbeitnehmer war als Immobilienkaufmann in Dortmund beschäftigt. Dem Arbeitsvertrag zufolge war die Arbeitgeberin berechtigt, dem Arbeitnehmer eine andere, seinen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit zu übertragen, auch an einem anderen Arbeitsort. Die Arbeitgeberin versetzte den Arbeitnehmer für sechs Monate an den Standort Berlin. Sie erinnerte zudem an die Alternative, das Arbeitsverhältnis einvernehmlich aufzulösen. Der Arbeitnehmer forderte die Arbeitgeberin auf, die Weisung zurückzunehmen, was diese ablehnte. Weisungswidrig nahm er die Arbeit am Standort Berlin nicht auf, worauf ihn die Arbeitgeberin wegen unerlaubten Fernbleibens von der Arbeit zweimal abmahnte. Anschließend sprach sie die Kündigung aus. Der Arbeitnehmer war der Auffassung, die Weisung sei unwirksam, weil sie nicht billigem Ermessen entsprochen habe und er sie daher nicht habe befolgen müssen. Daher seien auch die Abmahnungen unwirksam. Die Klage war in allen Instanzen erfolgreich.

Weisungsrecht: Partnerschaftliches Miteinander

Das BAG begründete sein Urteil ausführlich: Ein Arbeitsverhältnis sei kein Über-/Unterordnungsverhältnis, wie zum Beispiel zwischen Behörde und Bürgern, und eine Weisung sei kein Verwaltungsakt. Andernfalls werde der effektive Rechtsschutz unnötig erschwert. Das Weisungsrecht solle dem Arbeitgeber ermöglichen, den Arbeitsvertrag und die Arbeitspflicht in der von ihm gewollten Form zu konkretisieren. Dabei seien die Grenzen des „billigen Ermessens“ einzuhalten (§ 106 GewO, § 315 BGB). Das Weisungsrecht im Arbeitsverhältnis soll den Richtern zufolge in einem „eher partnerschaftlichen Miteinander“ ausgeübt werden. Eine Bindung an unbillige Weisungen sei damit unvereinbar. Gäbe es eine vorläufige Bindung an unbillige Weisungen und folgte der Arbeitnehmer ihnen nicht, wäre er Sanktionen bis hin zu einer verhaltensbedingten Kündigung ausgesetzt. Folgte der Arbeitnehmer ihnen hingegen und stellte das Gericht später deren Unbilligkeit fest, hätte dies für den Arbeitgeber kaum Nachteile. Damit gäbe es aus Sicht des BAG eine nicht hinnehmbare „Spielwiese für trennungswillige Arbeitgeber“.

Im konkreten Fall stellte das BAG fest, würden die Interessen des Arbeitnehmers die der Arbeitgeberin überwiegen. Das Interesse des Arbeitnehmers am Beibehalten seines Arbeitsplatzes am bisherigen Arbeitsort, seines sozialen Umfelds und seiner häuslichen Umgebung überwiege das grundsätzlich anerkennenswerte Interesse der Arbeitgeberin, durch die Versetzung den Betriebsfrieden wiederherzustellen.

Abwägung wechselseitiger Interessen

Mit dem Urteil stellt das BAG die „Waffengleichheit“ zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in der Frage des Weisungsrechts wieder her. Zwar bleibt dem Arbeitgeber das Weisungsrecht erhalten. Doch ist er an Recht und Gesetz im Sinne des „billigen Ermessens“ gebunden. Für eine Willkür nach Gutsherrenart ist kein Raum. In jedem Einzelfall ist es erforderlich, die wechselseitigen Interessen nach verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Wertentscheidungen, den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit, Angemessenheit, der Verkehrssitte und Zumutbarkeit abzuwägen. Dabei sind alle Umstände des Einzelfalls einzubeziehen. Dazu gehören unter anderem außervertragliche Vor- und Nachteile, Einkommensverhältnisse sowie soziale Lebensverhältnisse wie familiäre Pflichten und Unterhaltsverpflichtungen.

Nach der neuen Rechtsprechung können Arbeitgeber nicht länger ohne Folgen absichtlich unbillige Weisungen erteilen, um Sachverhalte für Kündigungen zu schaffen. Doch birgt die Entscheidung für beide Seiten weiterhin Risiken. Wenn der Arbeitnehmer einer Weisung nicht folgt, weil er sie als unbillig ansieht, und die Arbeitsleistung verweigert, trägt er das Risiko, im Prozess zu unterliegen. Dann würden Abmahnungen, die Kündigung und der Verlust des Vergütungsanspruchs wirksam. Der Arbeitgeber hingegen trägt das Risiko der Unwirksamkeit der (unbilligen) Weisung und damit der in der Folge ausgesprochenen Sanktionen. Als Folge des Urteils könnten Arbeitgeber in Zukunft schneller eine Änderungskündigung aussprechen. Arbeitnehmer stünden dann vor der Frage, ob die Änderungskündigung wirksam ist. Das wäre durch eine Klage gerichtlich zu klären.

Stillschweigende, vertragliche Einigung

Arbeitnehmer sollten beachten, dass eine stillschweigende, vertragliche Einigung möglich ist. Das bedeutet: Wenn der Arbeitnehmer die Weisung zunächst widerspruchslos längere Zeit hinnimmt, darf der Arbeitgeber davon ausgehen, dass der Arbeitnehmer die Weisung akzeptiert. Damit kann der Arbeitnehmer sein Recht verwirken, Unbilligkeit geltend zu machen.

Dtsch Arztebl 2021; 118(4): [2]
 


Der Autor:

Dr. iur. Torsten Nölling
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Medizinrecht
04229 Leipzig

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