Hypochonder in der Sprechstunde: Tipps zum Umgang

21 Oktober, 2024 - 07:21
Gerti Keller
Arzt mit verängstigtem Patienten

Sie fallen durch exzessive Arztbesuche auf und können einem den letzten Nerv rauben: Menschen, die an schwerer Hypochondrie leiden. Prof. Dr. Ulrich Voderholzer von der Schön Klinik Roseneck in Prien behandelt seit vielen Jahren Betroffene. Er informiert über Hintergründe und gibt Kolleginnen und Kollegen pragmatische Ratschläge.

Herr Prof. Voderholzer, was mache ich, wenn ein Patient ständig wieder kommt und trotz erfolgter unauffälliger Untersuchungen einfach nicht glauben will, dass er körperlich gesund ist?

Prof. Dr. Ulrich Voderholzer: Bei übermäßiger Krankheitsangst sollten Sie nicht dagegen anreden oder gar ärgerlich reagieren, sondern den Menschen in seiner Not validieren, da er sich sonst nicht ernst genommen fühlt. Sie können zum Beispiel sagen: „Ich sehe, dass Sie ständig diese Ängste haben“ – und raten, dass man Ihnen als Arzt vertrauen kann, da Sie wissen, wie häufig Kontrollen notwendig sind. Und dann – das ist das Wichtigste – versuchen, ihm den kontraproduktiven Zusammenhang seines Verhaltens klar zu machen. Denn Betroffene befinden sich in einem Teufelskreis: Das ständige Rückversichern beruhigt nur kurzzeitig, langfristig verstärkt es die Unsicherheit. Wer Angst vor einem Schlaganfall hat, wird diese noch verstärken, wenn er 20mal am Tag seinen Blutdruck misst.

Aber so ein Gespräch braucht Zeit, und die hat man meistens kaum. Aber wenn man sich die Zeit nimmt, kann das schon nutzen. Das gilt zumindest für die leichteren Fälle, bei schwereren sollte man immer zur Psychotherapie raten.

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Also auch keine Extra-Termine ausmachen?

Prof. Dr. Ulrich Voderholzer: Ich würde nur veranlassen, was medizinisch in einem adäquaten Zeitraum angemessen ist und nicht lediglich den Sinn hat, einen überängstlichen Patienten zu beruhigen. Bei öfters leicht erhöhten Blutdruckwerten wäre zum Beispiel einmal eine 24-Stunden-Messung angemessen. Wenn die in Ordnung ist, dann kontrolliert man das im nächsten Jahr nicht wieder – es sei denn, es haben sich gravierende Dinge im Leben verändert. Das würde ich auch so vermitteln und klare Grenzen setzen.

Ich habe gehört, man sollte sich gemeinsam die Befunde durchschauen und die Aufmerksamkeit auf die positiven Sachen lenken. Richtig?

Prof. Dr. Ulrich Voderholzer: Ich denke, es würde Betroffene nicht beruhigen zu sagen: „Jetzt schau mal auf das gute Blutbild und nicht auf die Leberwerte“. Besser ist es, zu erklären, wie man die Befunde interpretiert und was jetzt aus medizinischer Sicht sinnvoll ist – und was eben nicht. Sehr schwer Betroffene erreicht man so allerdings nicht mehr. Da ist guter Rat teuer. Man wird erleben, dass diese Menschen nicht lockerlassen. Ein Patient einer Hausarztpraxis hatte große Angst, eine Blutvergiftung zu bekommen. Er wusste, dass Entzündungswerte ein Hinweis sein können. Wenn er sich nur ein bisschen unwohl fühlte, verlangte er, dass der Entzündungswert überprüft wird – und dass sehr vehement und teilweise mehrmals pro Woche. Er war mit Argumenten, dass dies stark übertrieben ist, nicht mehr erreichbar.

Im schlimmsten Fall, wenn jemand dann wirklich etwas hat, übersieht man es glatt. Ärztinnen und Ärzte befinden sich da schon in einem gewissen Dilemma.

Krebs, Herzinfarkt oder Schlaganfall: Haben Hypochonder vor allem vor diesen häufigen Krankheiten Angst? Oder kann das „alles Mögliche“ sein?

Prof. Dr. Ulrich Voderholzer: Kernmerkmal der hypochondrischen Störung ist immer die Befürchtung, eine schwere Krankheit zu haben oder zu bekommen. Oft handelt es sich dabei um diese häufigen Todesursachen. Aber die Palette ist breit. Das kann auch eine Sepsis betreffen oder etwas ganz Ungewöhnliches, wie eine seltene Augenkrankheit.

Eine Augenkrankheit?

Prof. Dr. Ulrich Voderholzer: Ich erinnere mich an eine Mitte 20-jährige Patientin, die befürchtete, zu erblinden. Sie war dadurch extrem belastet und konsultierte Dr. Google bis zu fünf Stunden am Tag. Auch bei dieser nicht alltäglichen Variante lassen sich schon viele typische Verhaltensweisen erkennen. Man verspürt einen Druck im Auge, eine Trockenheit oder ein Flimmern. Im Internet liest man dann, dass dies ein frühes Anzeichen eines Tumors im Auge oder einer anderen schlimmen Augenerkrankung sein könnte. Die erhöhte Aufmerksamkeit auf körperliche Symptome ist ein Kennzeichen, ebenso wie die Fehlinterpretation und Überbewertung von irgendwelchen Anzeichen. Eine andere Patientin befürchtete jahrelang, an einem Plasmozytom zu erkranken, und hatte bereits unzählige Untersuchungen hinter sich. Die Ergebnisse heftete sie in Ordnern ab, die sie sich jeden Tag stundenlang ansah, um sich zu vergewissern, dass ihre Werte in Ordnung waren.

Wie kommen Menschen denn auf sowas?

Prof. Dr. Ulrich Voderholzer: Betroffene bringen oft eine gewisse Disposition mit. Menschen, die generell zu mehr Selbstbeobachtung neigen und eine erhöhte Ängstlichkeit aufweisen, sind anfälliger als andere. Häufig beginnt das schon in der Jugend oder als junge Erwachsene, ähnlich wie bei anderen Zwangsstörungen. Viele, die bei uns in Behandlung waren, haben in der Lebensgeschichte traumatische oder sehr belastende Ereignisse erlebt, wie den Tod naher Angehöriger. Da ist dann bereits die Mutter oder Oma an genau dieser Krankheit gestorben. Ich erinnere mich an einen Patienten, dessen Vater an Lungenkrebs litt. Er hat miterlebt, wie dieser am Ende Blut spuckte. Später kontrollierte er sich ständig selbst, ob in seiner Spucke irgendwelche Blutbeimengungen sind.

Gibt es Trends? Auch durch „Morbus Google“?

Prof. Dr. Ulrich Voderholzer: Die Ängste vor Krankheiten hängen auch davon ab, was in der Gesellschaft diskutiert wird. Ich hatte früher sehr viele Patienten, die Angst vor Aids hatten. Das hat nachgelassen. Während der Pandemie war es Corona. Die Angst vor Krebs ist, salopp formuliert, fast ein „Dauerbrenner“. Manche Frauen tasten ständig ihre Brust ab, weil man ja auch hört, wie verbreitet das ist und dass auch junge Frauen am Mammakarzinom sterben. Betroffene suchen ständig nach Sicherheit durch exzessive Arztbesuche und Doktor-Hopping, sie fragen permanent ihre Partner und betreiben meist exzessives Googlen, ein echter Risikofaktor – einfach, weil so viel im Internet steht.

Nimmt Hypochondrie zu?

Prof. Dr. Ulrich Voderholzer: Ich kann das nur aus Sicht unserer Klinik bewerten. Wir haben viele Patientinnen und Patienten mit hypochondrischer Störung, wenn sie überhaupt in Behandlung gehen. Denn leider dauert es oft viele Jahre, bis es dazu kommt. Ich kann jedoch nicht anhand von Zahlen bestätigen, dass es mehr oder weniger werden. Aber ich habe das Gefühl, dass unterschiedliche Ängste in der Bevölkerung insgesamt zunehmen. Wir leben in einer Zeit der Polykrisen und der generellen Verunsicherung. Die hypochondrische Störung als wirkliche Diagnose – wir sprechen dann davon, dass das Leben deutlich beeinträchtigt ist – betrifft etwa ein Prozent der Bevölkerung. Männer und Frauen sind etwa gleich häufig betroffen.

Wie stark ist die Beeinträchtigung?

Prof. Dr. Ulrich Voderholzer: Man kann sich kaum vorstellen, wie eingeschränkt das Leben ist. Eine schwere hypochondrische Störung hat vielfältige Auswirkungen auf den Alltag. Diese Menschen können oftmals nicht in Urlaub fahren oder an Veranstaltungen teilnehmen. Ständige Angst und Anspannung können das Leben stark beeinträchtigen und die Stimmung drücken.

Lässt das irgendwann von alleine nach?

Prof. Dr. Ulrich Voderholzer: Unbehandelt bleibt die Störung oft lange Zeit bestehen. Schwere Ängste und Zwänge haben allerdings eine gewisse Fluktuation. Sie können in Stress- oder Belastungsphasen nachlassen oder wieder zunehmen. Ich erinnere mich an eine Frau, die zwar schon immer etwas ängstlich war, aber eine schwere hypochondrische Störung entwickelte, als zwei ihrer Freundinnen an Krebs gestorben sind.

Wie gut lässt sich das behandeln?

Prof. Dr. Ulrich Voderholzer: Verhaltenstherapeutisch sehr gut, wenn Betroffene motiviert und einsichtig sind. In der Therapie geht es unter anderem darum, an den gedanklichen Bewertungen der Körpersymptome zu arbeiten sowie um die Anwendung von Aufmerksamkeitsumlenkung, weg vom Körper. Entscheidend ist dabei, dass die Betroffenen ihre Kontrollzwänge aufgeben und sich den angstbesetzten Gedanken und Situationen stellen, ohne sich rückzuversichern. Diese Expositionsbehandlung ist sowohl bei hypochondrischen Störungen als auch bei typischen Zwangsstörungen in der Regel gut wirksam. In der Therapie spielen wir teilweise auch das Szenario: „Was wäre, wenn ich wirklich Krebs bekäme“ in sensu durch. Das wirkt tatsächlich entängstigend. Natürlich muss immer geprüft werden, welche sonstigen aufrechterhaltenden Probleme im Hintergrund bestehen. Und wenn Psychotherapie nicht ausreichend wirkt, können auch Antidepressiva eingesetzt werden, die wir aber nicht als Therapie der ersten Wahl sehen.

Steht am Ende die Heilung? 

Prof. Dr. Ulrich Voderholzer: Eine gut durchgeführte Therapie kann die Störung wesentlich verbessern und den Betroffenen wieder zu mehr Lebensqualität verhelfen. Meist verschwinden die Ängste nicht vollständig. Eine Tendenz, dass Betroffene in Bezug auf ihre Gesundheit ängstlicher sind, wird in der Regel bleiben. Aber sie werden ein wesentlich besseres Leben führen können.

Es gibt ja auch den Begriff der „Medical Students Disease“, bei der sich Medizinstudierende die Krankheiten einbilden, die sie gerade im Studium behandeln. Ist da was dran?

Prof. Dr. Ulrich Voderholzer: Das ist nicht eindeutig belegt. In der Literatur aus anderen Ländern wird dieses Phänomen zwar beschrieben, aber nicht überzeugend. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass wir schon Medizinstudierende deswegen behandelt haben – und ich arbeite in einer wirklich großen Klinik. Wir sehen jedoch häufig Patientinnen mit Anorexia nervosa beim Nachwuchs.

Sicherlich kann es während des Medizinstudiums durch die Beschäftigung mit den Krankheiten zu einer temporären Phase kommen. In meinem fünften Studienjahr wurde ein junger Mann mit Lymphom vorgestellt und gefragt, wie das anfing. Er antwortete, mit einer Lymphknotenschwellung am Hals. Und dann konnten sie beobachten, wie sich Hunderte von Studenten im Raum an den Hals fassten.

Haben Sie mal „Der eingebildete Kranke“ gelesen? Molière, der die Rolle des Titelhelden selbst spielte, erlitt bei der vierten Vorstellung einen Blutsturz und starb in seinem Kostüm.

Prof. Dr. Ulrich Voderholzer: Ich kenne die Geschichte, habe aber das berühmte Theaterstück nicht gesehen. Aber ich kann eins dazu sagen: Laut einer Langzeitstudie sterben Hypochonder tatsächlich früher. Das liegt daran, dass es die gleichen Risikofaktoren gibt wie bei anderen psychischen Störungen. Manche entwickeln ein Schonverhalten, sie bewegen sich weniger, leben zurückgezogener. Ich habe sehr oft erlebt, dass daraus eine sekundäre Depression entsteht. In der neuen Klassifikation wird die Hypochondrie aufgrund der Ähnlichkeiten auch zu den Zwangsstörungen gezählt.

Warum haben Sie sich auf diesen Bereich spezialisiert?

Prof. Dr. Ulrich Voderholzer: Mich persönlich faszinieren die fließenden Grenzen zwischen gesund und krank. Es fällt mir leicht, mich in die Betroffenen einzufühlen. Auf der anderen Seite begeistert mich, dass man das wirklich gut behandeln kann. Das ist sehr befriedigend. Depressionen kommen und gehen oft – und manchmal weiß man nicht, ob sie auch von alleine mit der Zeit besser geworden wären. Aber bei diesen chronischen Angst- und Zwangsstörungen sieht man den Erfolg seiner Arbeit, insbesondere der Expositionsbehandlung, unmittelbar und hat sehr dankbare Menschen.

Der Experte:

Prof. Dr. Ulrich Voderholzer

Prof. Dr. Ulrich Voderholzer
Psychiater, Buchautor, Ärztlicher Direktor, Schön Klinik Roseneck, Prien/Rosenheim.

Bild: © Schön Klinik Gruppe

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