Dr. Kieser: „Die Komplexität der Psychiatrie finde ich nach wie vor faszinierend“

22 April, 2021 - 08:28
Dr. Sabine Glöser
Köpfe und Karriere: Dr. Christian Kieser
Dr. Christian Kieser ist seit 1. Januar 2021 Ärztlicher Direktor des Klinikums Ernst von Bergmann in Potsdam.

Über wichtige Erfahrungen, gewonnene Einsichten und ausgefallene Wünsche spricht aerztestellen.de mit erfolgreichen Ärztinnen und Ärzten. Dieses Mal stellt sich Dr. med. Christian Kieser unseren Fragen. Seit 1. Januar 2021 ist er Ärztlicher Direktor des Klinikums Ernst von Bergmann in Potsdam.

Herr Dr. Kieser, warum eigentlich sind Sie Psychiater geworden?

Dr. Christian Kieser: Zu Beginn meines Studiums galt meine Leidenschaft neben der Medizin insbesondere der Philosophie und Soziologie. Mir wurde klar, dass das Fach Psychiatrie die medizinische Disziplin ist, die es mir am ehesten ermöglicht, meine Interessen mit meiner Studien- und Berufswahl zu verbinden. Für die Psychiatrie sind neben Diagnostik und Therapie die Lebensgeschichten, Umgebungsfaktoren, Lebensrealitäten, soziale und familiäre Aspekte der Menschen bedeutsam. Zudem sind politische und gesellschaftliche Entwicklungen und soziokulturelle Bedingungen gleichermaßen zu berücksichtigen. In der Zusammenschau mit vielen anderen wissenschaftlichen Disziplinen, wie den Geistes- und Sozialwissenschaften, eröffnet die Psychiatrie die Möglichkeit, menschliche und zwischenmenschliche Phänomene umfassend zu beschreiben und vielleicht auch ansatzweise zu begreifen, zu verstehen, zu erklären. Diese Komplexität der Psychiatrie finde ich nach wie vor faszinierend.

Was ist für Sie unabdingbar, damit Sie gut arbeiten können?

Dr. Christian Kieser: Wichtige Voraussetzung ist für mich die Arbeit in einem Team mit engagierten Mitarbeitern. Nötig ist ein kreatives Umfeld, in dem interessante und neue Ideen generiert werden können, Räume für unkonventionelles Denken gegeben sind, Offenheit für kontroverse Diskussionen vorhanden ist, die Neugier an unterschiedlichen Perspektiven gefördert wird und Ziele diskutiert werden, auf die sich alle gemeinsam verständigen. Hinzu kommen ein konstruktiver Umgang mit Irrtümern und Fehlern sowie die Falsifikation als wichtigster Schritt der Erkenntnis und entscheidender Katalysator für Entwicklungen.

Wie lautet der beste Rat, den Sie auf Ihrem Karriereweg bekommen haben?

Dr. Christian Kieser: Folge Deinem Wertekanon, lege Deinen fachlichen Überlegungen Evidenz und Empirie zugrunde, setze Deine Entscheidungen mit Mut und Demut um, und stelle Deine Überzeugungen immer wieder kritisch in Frage.

Was schätzen Sie an anderen Menschen am meisten?

Dr. Christian Kieser: Humor und Witz, Intelligenz und Klugheit, Engagement und Leidenschaft, sich für seine Überzeugungen einzusetzen. Respekt im Umgang insbesondere in der Kontroverse, klar im Inhalt, wertschätzend im Ton. Die Fähigkeit, konstruktiv zu denken, zukunftsorientiert zu handeln und Probleme immer wieder positiv zu wenden.

30.04.2024, AGAPLESION FRANKFURTER DIAKONIE KLINIKEN gGmbH
Frankfurt am Main
11.05.2024, Werra-Meissner-Kreis
Eschwege

Was treibt Sie an?

Dr. Christian Kieser: Mich treibt an, einen bescheidenen Beitrag zu leisten, die Welt jeden Tag ein kleines Stück besser zu machen.

Mit wem würden Sie gern einmal einen Abend verbringen?

Dr. Christian Kieser: Mit Nelson Mandela, meinem Nachbarn, der zwei Etagen unter mir wohnt und den ich immer flüchtig im Treppenhaus begegne, und Hans Strotzka, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie aus meiner Studienzeit, der leider vor vielen Jahren verstorben ist.

Was raten Sie jungen Ärztinnen und Ärzten?

Dr. Christian Kieser: Folgen Sie Ihren Leidenschaften und Interessen, bleiben Sie Ihren Idealen und Werten treu, erhalten Sie sich Ihre Neugier, legen Sie Ihre beruflichen Schwerpunkte in Bereiche, von denen Sie überzeugt sind und in denen Sie sich engagiert einbringen wollen. Folgen Sie selbstbewusst Ihren Weg, setzen Sie sich Ziele, die für Sie persönlich wichtig sind.

Wie gelingt Ihnen eine gesunde Work-Life-Balance?

Dr. Christian Kieser: Das bleibt eine Herausforderung. Ich setze mir zeitliche Limits, wie kein Handy nach 20 Uhr, was mir nicht immer gelingt. Auszeiten wie Urlaub versuche ich konsequent einzuhalten. Ich treibe regelmäßig dreimal pro Woche Sport, pflege auch unter den aktuellen Pandemie-Bedingungen soziale Beziehungen, halte an meinen Hobbies wie Musik, Film und Literatur fest und höre auf die Hinweise und Ratschläge meiner Familie und Freunde.

Woran mangelt es dem deutschen Gesundheitssystem?

Dr. Christian Kieser: Das System ist zu einzelleistungs- und institutionsorientiert. In einem zukunftsfähigen Gesundheitssystem sind die Patientenbedarfe uneingeschränkt in den Mittelpunkt zu stellen. Dieser Prämisse haben die Struktur und Organisation der Leistungserbringer sowie die Systematik der Leistungsträger konsequent zu folgen. Dazu gilt es, die Sektorengrenzen zwischen dem stationären und ambulanten Bereich im Sinne einer regionalen Verantwortung aller Leistungserbringer zu überwinden. Überversorgung ist abzubauen, Fehl- und Unterversorgung sind zu kompensieren, regionale Unterschiede auszugleichen. Ressourcen sind insgesamt effizienter zu nutzen.

Wann sind Sie glücklich?

Dr. Christian Kieser: Glück ist eine zu hohe Erwartung. Zufriedenheit finde ich angemessener und erlebe ich immer dann, wenn es mir gelingt, Ziele, und seien es noch so kleine positive Schritte dahin, zu erreichen.

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