Ärztinnen und Ärzte haben täglich mit kranken Menschen zu tun. Aber selbst zu erkranken, ist immer noch ein Tabu. Was das für das ärztliche Selbstverständnis bedeutet, erklärt im Interview Dr. med. Sandra Apondo. Sie muss es wissen – denn sie war als junge Ärztin selbst an Krebs erkrankt.
Frau Dr. Apondo, welches Selbstbild haben Ärztinnen und Ärzte, wenn es um die eigene Gesundheit geht?
Dr. Sandra Apondo: Das ist das Selbstbild, das auch beispielsweise in den Medien kursiert: Danach sind Ärztinnen und Ärzte unverwundbare Heiler, gesunde Helfende. Und damit identifizieren wir uns ja auch gerne. Gerade beim Berufsstart ist es ja auch schön und spannend, endlich diesen Beruf ausüben zu können und anderen zu helfen. Aber trotzdem sind wir keine Superheldinnen und -helden und alles andere als unverwundbar. Im Gegenteil: Wir sind in unserem Beruf sogar besonders großen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Und dem wird leider viel zu wenig Beachtung geschenkt.
Kommt dieses Thema im Studium überhaupt vor?
Dr. Sandra Apondo: Es kommt allenfalls punktuell vor. Das ist leider ein großes Problem, weil wir natürlich im Medizinstudium den Studierenden viel Fachwissen an die Hand geben – auch an Skills, Techniken und praktischen Fertigkeiten. Und das ist ja auch sehr wichtig, um auf die ärztliche Tätigkeit vorzubereiten. Aber diese Soft-Skills – alles, was damit zu tun hat, wer ich eigentlich als Arzt oder Ärztin bin, wie ich mich selbst sehe, wie ich auch in diesem anspruchsvollen System empathisch bleiben kann und wie ich mit meinen Patientinnen und Patienten umgehen will – diese wichtigen Fragen zur ärztlichen Identität werden nicht gelehrt.
Sie haben eben schon die hohen gesundheitlichen Risiken im Arztberuf angesprochen. Von welchen Risiken sprechen wir hier?
Dr. Sandra Apondo: Das sind die Risiken für Burnout und Depressionen. Das sind arbeitsplatz- und stressbezogene Risiken, die sich aus unserem hochanspruchsvollen und verantwortungsvollen Job ergeben. Aber es hat nicht nur damit zu tun, sondern auch mit dem Selbstbild, mit dem man in dieses System hineinkommt und wie es dort geformt wird. In unseren Kliniken gibt es immer wieder auch unausgesprochene Regeln, dass es normal ist, auch länger zu bleiben und auf Pausen zu verzichten, weil man eben Leistung bringen muss, und dadurch immer ein Stück über die eigenen Grenzen geht. Wenn man sich jahrelang nach diesen Regeln richtet, kann es sein, dass man gar nicht mehr spürt, wie es einem tatsächlich geht.
Sie sind selbst schwer krank geworden. Was war los?
Dr. Sandra Apondo: Vor meiner Diagnose habe ich mich auch selbst als weitgehend unverwundbare Helfende gesehen. Dann habe ich plötzlich schwere Symptome bekommen, die sich als ein aggressives Non-Hodgkin-Lymphom herausgestellt haben. Das hat Monate der stationären Behandlung und Chemotherapie nach sich gezogen. Das hat meinen Blick auf meine eigene Rolle, aber auch auf die Medizin und die Art, wie wir Medizin lehren, ganz fundamental verändert.
Was hat dieser Perspektivwechsel – von der Ärztin zur Patientin – in Ihnen ausgelöst?
Dr. Sandra Apondo: Schon in meinem ersten „Breaking Bad News“-Gespräch – also als ich die Diagnose bekommen habe – hat sich für mich ganz klar gezeigt, dass wir in der Medizin eine Zweiteilung haben. Wir haben einfach die Welt der Gesunden und der Helfenden, und dann haben wir die Welt der Kranken und Hilfsbedürftigen, die auf uns als Helfende angewiesen sind. Und das ist eigentlich nur eine konstruierte Zweiteilung. Das habe ich durch diesen Perspektivwechsel gemerkt – denn natürlich gibt es gerade auch unter den ärztlichen Kolleginnen und Kollegen sehr viele Menschen, die auch Erkrankungserfahrungen haben. Darunter auch einige mit schweren Erkrankungen, die damit nicht offen umgehen und das Thema bewusst ausklammern oder verheimlichen. Und natürlich gibt es auch Menschen mit psychischen Belastungen, die genauso hilfsbedürftig sind wie die Patientinnen und Patienten – aber Schwierigkeiten haben, sich das einzugestehen oder es sich zumindest im klinischen Umfeld nicht eingestehen können, weil dort andere Regeln und Selbstbilder vorherrschen.
Sie dagegen reden ganz offen über Ihre Krankheitserfahrungen. Warum haben Sie sich dazu entschieden?
Dr. Sandra Apondo: Ich wurde von ein paar Einzelpersonen dazu inspiriert, die das auch tun. Davon gibt es nur wenige – gerade bei den ärztlichen Kolleginnen und Kollegen mit Krebserkrankungen. Ich möchte durch meine Offenheit einen Diskurs anstoßen und auf dieses Thema aufmerksam machen: Dass wir Ärztinnen und Ärzte genauso erkranken können wie alle anderen Menschen auch. Gerade für psychische Erkrankungen haben wir ein besonders hohes Risiko. Aber gerade die sind es ja, die sich zumindest teilweise vermeiden lassen und gegen die man aktiv etwas tun kann. Das möchte ich gern thematisieren, dass das auch kein Tabu sein sollte.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich, seit ich offen darüber spreche und schreibe, dass sich auch sehr viele Menschen öffnen und ebenfalls sagen, dass es wichtig ist, über diese Dinge zu sprechen. Denn nur, wenn wir auch miteinander darüber sprechen, können wir auch in den Systemen, in denen wir uns bewegen – beispielsweise auf der Station, auf der wir arbeiten – etwas verändern. Dann werden eben nicht mehr die Augen gerollt, wenn man sich mal für zwei Wochen krankmeldet, weil man absolut am Limit ist. Denn vielleicht ist es gerade richtig, sich krank zu melden, um sich zu schützen und langfristig wieder gesund zu werden.
Wie beeinflusst die Erfahrung, selbst krank zu sein, Ihre Arbeit als Ärztin und den Umgang mit Patientinnen und Patienten?
Dr. Sandra Apondo: Ich versuche, mich noch mehr in die Situation der Patientinnen und Patienten hineinzuversetzen. Das fällt mir glaube ich dadurch auch noch leichter. Wenn es passend ist, lege ich auch meine Erkrankung den Patientinnen und Patienten gegenüber offen. Damit habe ich bisher keine schlechten Erfahrungen gemacht. Diese Vorstellung, dass Patienten uns als „Halbgötter in Weiß“ sehen, und man immer Höchstleistungen bringen muss, das ist auch ein vollkommenes Fehlkonzept. Natürlich haben auch die Patientinnen und Patienten einen differenzierten Blick auf die Welt. Die wissen auch, dass wir auch trotz des weißen Kittels Menschen sind. Und wenn man eine verwundbare, menschliche Seite von sich zeigt – wie beispielsweise eine eigene Krankheit – kann das die Arzt-Patienten-Beziehung verbessern.
Wie erleben Sie die aktuelle Studierendengeneration und die jungen Kolleginnen und Kollegen? Sehen Sie, dass sich da etwas ändert?
Dr. Sandra Apondo: Jein. Aber ich habe leise Hoffnung, dass es besser wird. Wir hören ja immer wieder, dass gerade die jungen Kolleginnen und Kollegen beim Berufsstart vermehrt auf geregelte Arbeitszeiten und eine gute Work-Life-Balance achten. Das ist ein indirektes Merkmal dafür, dass sie wollen, dass am Ende eines Arbeitstages noch genug Zeit übrigbleibt, um sich um sich selbst zu kümmern und einen Ausgleich für die Belastungen im Job zu finden. Aber dass es jetzt viel mehr Offenheit im Umgang gerade mit psychischen Belastungen gibt, ist vereinzelt der Fall: Es gibt studentische Initiativen, die das sehr offen zum Thema machen. Aber das sind wirklich noch vereinzelte Stimmen. Im Bereich der Weiterbildung kommt das noch viel, viel weniger vor – dabei wäre es da noch viel wichtiger, weil ja da die ganzentrukturen in der Klinik so richtig zum Tragen kommen und man unter großem Druck steht.
Was raten Sie Kolleginnen und Kollegen, die beispielsweise während der Weiterbildung erkranken?
Dr. Sandra Apondo: Ich würde immer sagen: Gesundheit ist das allerwichtigste. Egal, ob körperlich oder psychisch – Gesundheit muss immer vorgehen. Man kann genauso krank werden, wie jeder andere Mensch auch. Es gehört zu unseren ärztlichen Aufgaben, auch auf die eigene Gesundheit zu achten – das steht in unseren Lernzielkatalogen und im Genfer Gelöbnis. Das muss man wirklich ernst nehmen und sich Hilfe holen – und zwar nicht erst nach zehn Jahren oder nach der Facharzt-Weiterbildung. Nein – wenn man krank ist, ist man krank. Und dann braucht man auch Zeit, sich auszukurieren.
Zur Person:
Dr. med. Sandra Apondo, MHBA, BA ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie an der Klinik für Allgemeine Psychiatrie am Universitätsklinikum Heidelberg. Über ihre Erfahrungen mit ihrer Krebserkrankung berichtete sie unter anderem 2022 in einem Beitrag im Deutschen Ärzteblatt.