
Etwa 20 Prozent der Menschen gelten als „hochsensibel“ – je nach Schätzung. Sie erleben äußere Reize und Emotionen intensiver als andere. Was das im Beruf bedeutet und warum Hochsensibilität eine wertvolle Eigenschaft für Führungskräfte ist, erklärt im Beitrag der Hochsensibilitäts- und Führungskräfte-Coach Benjamin Schäfer.
„Hochsensibilität ist keine Diagnose“, stellt Schäfer schon gleich zu Beginn klar. Denn: Es handle sich dabei nicht um eine Krankheit, sondern um eine Eigenschaft. Hochsensible Menschen nehmen ihre Umwelt anders wahr – sie erleben beispielsweise äußere Reize wie Licht, Geräusche oder Gerüche intensiver als andere. Und auch die eigenen Gefühle werden tiefer empfunden.
Hochsensibilität: Positive und negative Seiten
Das Risiko dabei: Zu viele Impulse können leicht zu einer Reizüberflutung führen, wenn ein Zuviel an Eindrücken nicht mehr verarbeitet werden kann – beispielsweise an lauten, sehr belebten Orten. Benjamin Schäfer spricht von einem „Meltdown“ – ein Begriff, den man auch im Bereich Autismus kennt: „Hochsensible Menschen reagieren in diesem Zustand nicht mehr rational. Man ist hungrig, erschöpft und nicht mehr in der Lage, klar zu denken. Wie in der Snickers-Werbung: ‚Du bist nicht Du, wenn Du hungrig bist‘.“
Aber was zumindest in bestimmten Situationen schwierig klingt, hat auch viele Vorteile: Hochsensible erleben ihre Umwelt nuancierter, haben ein feineres Gespür für die Bedürfnisse und Emotionen anderer Menschen und eine ausgeprägte Intuition, gerade im zwischenmenschlichen Bereich. Sie erkennen beispielsweise leichter Zwischentöne bei der Körpersprache und Wortwahl anderer Menschen. Das kann Ärztinnen und Ärzten unter anderem im Umgang mit Patientinnen und Patienten helfen, aber auch bei der Zusammenarbeit im Team.
Was Hochsensible zu guten Führungskräften macht
Für Benjamin Schäfer sind diese Eigenschaften speziell für Führungskräfte ein Vorteil. Er ist selbst hochsensibel und hat vor seiner Selbstständigkeit viele Jahre als Führungskraft und HR-Verantwortlicher in verschiedenen Unternehmen gearbeitet. Seine Hochsensibilität ermöglichte es ihm dabei, schnell vertrauensvolle Beziehungen zu seinen Mitarbeitenden aufzubauen und Konflikte frühzeitig zu erkennen und zu entschärfen: „Wenn ich jemandem zu nah getreten bin, habe ich das sofort gespürt und konnte darauf reagieren – sei es direkt im Gespräch oder im Nachgang, um Missverständnisse zu klären.“
Ein hohes Maß an Empathie und Intuition hilft hochsensiblen Führungskräften dabei in vielen verschiedenen Situationen: Sei es, besondere Potenziale in Mitarbeitenden zu erkennen und zu fördern, oder sich in andere hineinzuversetzen und ihre Bedürfnisse und Standpunkte besser zu verstehen. Diese Eigenschaften fördern Vertrauen im Team und sorgen für eine angenehme Unternehmenskultur, in der sich die Mitarbeitenden gesehen und wertgeschätzt fühlen – etwas, was sich auch auf die Motivation, die Loyalität und damit auch auf den Erfolg eines Unternehmens niederschlägt.
Führen durch Authentizität und Haltung
Dieser Führungsstil unterscheidet sich von dem hierarchischen Denken, das in vielen Unternehmen – auch in Kliniken – oft noch an der Tagesordnung ist. „Hochsensible Führungskräfte führen nicht durch Lautstärke oder Macht, sondern durch Klarheit, Authentizität und Integrität – eine neue Art der Führung, die Menschlichkeit in den Mittelpunkt stellt“, fasst Schäfer zusammen.
Dazu gehört, dass sich auch Führungskräfte als emotionale Wesen zeigen – zum Beispiel, wenn man angesichts einer schwierigen Situation von Gefühlen überwältigt wird. Für Benjamin Schäfer ist das kein Zeichen von Schwäche, sondern von Menschlichkeit: „Ich habe schon vor meinem Team geweint – beispielsweise, als viele Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden mussten. Mich überkam es in dem Moment. Das zeigt nur, dass ich ein Mensch bin.“
Herausforderungen für hochsensible Führungskräfte
Allerdings ist so ein offener Umgang mit Gefühlen bei Führungskräften oft noch ein Tabu – vor allem in einem Umfeld, in dem ein eher autoritärer Führungsstil vorherrscht. Hier kann es für Hochsensible eine Herausforderung sein, sich zu behaupten. „Dabei können Hochsensible mit Authentizität punkten“, erklärt der Experte, „wer echt ist, muss nicht laut sein“. Hochsensible führen durch Haltung – und das sei langfristig erfolgreicher, weil es die Beziehungen innerhalb des Teams stärke. „Ich habe meinem Team immer gesagt und gezeigt, dass ich hinter ihnen stehe – egal, was passiert. Das schafft Vertrauen und stärkt die Position gegenüber autoritären Führungskräften.“
Gerade in einem stressigen Arbeitsalltag, in dem viele verschiedene Aufgaben und Anforderungen auf sie einprasseln, besteht für hochsensible Führungskräfte schnell die Gefahr der Reizüberflutung. „Dafür ist es wichtig, die eigenen Energieressourcen zu managen, klare Grenzen zu setzen und sich bewusst Zeiten zur Regeneration einzuplanen – gerade in stressigen Phasen“, empfiehlt Schäfer. Dazu zählen beispielsweise regelmäßige, bewusste Pausen und eine gute Organisation der anstehenden Aufgaben. Generell sei eine gute Selbstführung für hochsensible Führungskräfte wichtig – für das eigene Wohlbefinden und als Vorbild für andere.
Fazit
Studien zufolge sind etwa 20 Prozent aller Menschen hochsensibel – damit stellt diese Gruppe rein statistisch auch einen wesentlichen Anteil der Beschäftigten im Gesundheitswesen. Das bedeutet: Viele Führungskräfte sind entweder selbst hochsensibel oder haben hochsensible Menschen in ihrem Team. Es lohnt sich also, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Dabei bringen hochsensible Menschen einige Eigenschaften mit, die sie zu guten Führungskräften machen – darunter Empathie, Intuition und Integrität. Um erfolgreich zu sein und sich nicht zu überfordern, sollten sie aber gut auf sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse achten. Dann können sie Vorreiter einer modernen Führungskultur werden und wichtige Impulse für eine positive, wertschätzende Unternehmenskultur geben.
Woran erkennt man Hochsensibilität?
- Intensive Wahrnehmung: Hochsensible Menschen nehmen Geräusche, Gerüche, Stimmungen und Emotionen stärker und tiefer wahr.
- Ausgeprägte Empathie: Hochsensible Menschen fühlen sich stark in andere hinein und spüren deren Emotionen oft intuitiv.
- Reizüberflutung: In lauten oder hektischen Umgebungen fühlen hochsensible Menschen sich schnell überfordert und brauchen Rückzugsmöglichkeiten.
- Starke emotionale Reaktionen: Hochsensible Menschen weinen schneller oder reagieren intensiver auf emotionale Eindrücke wie Filme oder Musik.
- Feines Gespür für Ungerechtigkeiten: Ein starker Gerechtigkeitssinn und die Fähigkeit, Konflikte frühzeitig zu erkennen, sind typisch für hochsensible Menschen.
Im Internet gibt es verschiedene Tests zum Thema Hochsensibilität – beispielsweise den Sensory Processing Sensitivity Questionnaire (SPSQ) der Universität Leiden (NL).



