
Hautstraffung, Brustverkleinerung, Behandlung von Verletzungen und Fehlbildungen, Haut-Muskel-Knochen-Transplantationen: Seit Jahren steigt nicht nur die Nachfrage nach ästhetischen, sondern auch der Bedarf an rekonstruktiven chirurgischen Eingriffen. Für Prof. Dr. Anja M. Boos, Direktorin der Klinik für Plastische Chirurgie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck, ist die Vielseitigkeit und Komplexität ihres Berufes spannend.
Frau Professor Boos, wie schätzen Sie den Stellenwert der Ästhetik in unserer Gesellschaft ein?
Prof. Dr. Anja M. Boos: Ein ästhetisches Erscheinungsbild spielt eine sehr große Rolle für das Selbstwertgefühl, die Selbstdarstellung und die Außendarstellung. Man steht jemandem gegenüber und hat sofort einen ersten Eindruck. So werden wir sozialisiert. Das war schon immer so und wird heute durch die sozialen Medien massiv verstärkt. Im Zusammenhang mit Ästhetik können psychosoziale Komponenten sehr bedeutsam sein. Ich erlebe täglich, wie sehr Menschen mit Verletzungen im Gesicht oder am Körper leiden, wenn beispielsweise nach einem Unfall oder einer Tumorentfernung nicht mehr alles so aussieht und funktioniert wie früher. Deshalb versuchen wir, eine Hand, eine Nase oder eine verbrannte Hautstelle nicht nur funktionell, sondern auch ästhetisch ansprechend wiederherzustellen. So helfen wir den Patientinnen und Patienten, wieder ins „normale“ Leben zurückzufinden.
Was zeichnet Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen besonders aus?
Prof. Dr. Anja M. Boos: Unsere Arbeit erfordert ein hohes Maß an manueller Präzision, also handwerkliches Geschick. Hinzu kommt ein gutes Gefühl für Formen sowie die Fähigkeit, sich Rekonstruktionen dreidimensional vorstellen zu können, zum Beispiel bei der Transplantation von Lappenplastiken.
Welche Schwerpunkte setzen Sie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck?
Prof. Dr. Anja M. Boos: Mein Schwerpunkt liegt vor allem in der rekonstruktiven Chirurgie. Eines meiner Spezialgebiete ist die Brustrekonstruktion nach einer Mastektomie. Bei diesem komplexen Eingriff wird nicht nur ein Stück Gewebe aus dem Unterbauch oder dem Oberschenkel verpflanzt, sondern auch Gewebe geformt, im Idealfall mit Blutgefäßen und Nerven. Eventuell sind noch kleinere Nachoperationen nötig, wenn man selbst oder die Patientin noch etwas korrigieren möchte. Aber so eine Rekonstruktion ist etwas für das ganze Leben, denn die Brust altert praktisch mit. Manche dieser Patientinnen haben auch ein Lymphödem im Arm, das wir direkt mitbehandeln können. Früher konnte der Lymphabfluss in solchen Fällen nur durch eine Lymphdrainage oder ein Kompressionsstrumpf verbessert werden. Heute haben wir andere Möglichkeiten und können unter dem Operationsmikroskop mit verschiedenen Instrumenten Querverbindungen zwischen Lymphgefäßen und Venen herstellen. Oder wir verpflanzen Lymphknoten von einer Körperstelle an eine andere. Auch das ist eines meiner Spezialgebiete. In Deutschland wird das noch nicht an so vielen Zentren gemacht.
Welche weiteren Fälle behandeln Sie?
Prof. Dr. Anja M. Boos: Das Spektrum ist breit gefächert: Handverletzungen nach Arbeitsunfällen, Narbenkorrekturen, Sarkome im Muskel- oder Fettgewebe und in letzter Zeit vermehrt Kriegsverletzte aus der Ukraine, die über das Kleeblattsystem in Deutschland verteilt werden. Wir haben unter anderem Patienten mit Schuss- oder Explosionsverletzungen am Oberarm, denen dort der Knochen fehlt. Wir „bauen“ dann sozusagen einen neuen Oberarm, indem wir ein Stück Wadenbein aus dem Unterschenkel als Knochenersatz in den Arm nehmen, ein Stück Muskel aus dem Rücken und dann ein Stück Haut aus dem Oberschenkel „draufsetzen“.
Wie eng arbeitet die Plastische Chirurgie mit angrenzenden Fachgebieten zusammen?
Prof. Dr. Anja M. Boos: Die Plastische Chirurgie ist ein interdisziplinäres Fach. Überschneidungen gibt es naturgemäß vor allem mit der Unfall- und Gefäßchirurgie, aber auch mit der Neuro- und Viszeralchirurgie. Außerdem arbeiten wir mit Kollegen aus der Inneren Medizin zusammen, weil wegen der demografischen Entwicklung unsere Patientinnen und Patienten älter und kränker werden. Und durch die Zunahme multiresistenter Keime haben wir auch immer wieder mit der Infektiologie und Hygiene zu tun. Deshalb sind Kommunikations- und Teamfähigkeit, Führung und die Bildung interdisziplinärer Teams wichtige Bestandteile unserer Arbeit.
Führen Sie auch ästhetische Eingriffe durch, für die es keinen zwingenden medizinischen Grund gibt? Also das, was man im Volksmund Schönheitschirurgie nennt?
Prof. Dr. Anja M. Boos: Ästhetische Eingriffe führen mein Team und ich auch durch, allerdings vergleichsweise wenige. Meist in Fällen mit medizinischer Indikation und Kostenübernahme durch die Krankenkasse. Das können Brustverkleinerungen sein, Bauchdecken- oder Oberarmstraffungen, wenn eine Patientin beispielsweise 50 Kilogramm abgenommen hat. Für die reine Ästhetik ohne zwingenden medizinischen Grund wie Filler, Botox und Facelift gibt es um uns herum viele Anbieter, die damit ihr Tagesgeschäft machen.
Die Schönheitschirurgie boomt. Schon junge Menschen lassen sich die Lippen aufspritzen, Fett absaugen oder die Brüste vergrößern. Wie betrachten Sie diese Entwicklung?
Prof. Dr. Anja M. Boos: Diese Entwicklung ist teilweise problematisch. Während rekonstruktive Patienten oft ein schweres Trauma erlitten haben, wünschen ästhetische Patienten meist einen Eingriff, um ihr Selbstwertgefühl zu steigern. Diese unterschiedlichen Motivationen spiegeln sich auch in den Bedürfnissen und Erwartungen der Patienten wider. Viele ästhetische Patienten haben ein überzogenes ästhetisches Ideal und riskieren manchmal ihre Gesundheit, um diesem Ideal näher zu kommen. Ein Beispiel sind Füllmaterialien, die ins Gesicht gespritzt werden: Sie sind nicht harmlos, sondern können sich einkapseln und entzünden. Das kann zur Schädigung der Gesichtsnerven und im schlimmsten Fall zur Erblindung führen. Außerdem ist die Berufsbezeichnung „Schönheitschirurg“ in Deutschland nicht geschützt. Im Prinzip kann sich jeder Arzt so nennen. Und ein unseriöser Behandler wird einer jungen Patientin vor einer Brustvergrößerung nicht unbedingt sagen, dass im Laufe ihres Lebens wahrscheinlich mehrere Wechseloperationen nötig werden, weil die Prothese irgendwann einkapselt. Wer einen solchen Eingriff plant, sollte sich an einen zertifizierten Plastischen Chirurgen wenden, der Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie ist, die sich Grundprinzipien wie einer guten Aufklärung verpflichtet hat.
Wollten Sie schon immer diese Facharztrichtung einschlagen oder wie kam es dazu?
Prof. Dr. Anja M. Boos: Das hat sich im Laufe der Zeit so ergeben. Eigentlich hatte ich dran gedacht, Tierärztin zu werden. Während eines Praktikums bei einem Groß-Tierarzt war ich auch bei großen Operationen dabei. Doch als schwer verletzte Pferde eingeschläfert werden mussten, war mir klar: Tiermedizin ist nichts für mich, die Chirurgie schon – nur im humanen Bereich. Mit dem breiten Spektrum der Plastischen Chirurgie kam ich zum ersten Mal gleich nach dem Physikum bei einem niedergelassenen Kollegen in meiner Heimatstadt Rastatt in Berührung. Da wusste ich: Das will ich machen.
Was macht für Sie den besonderen Reiz Ihrer Arbeit aus?
Prof. Dr. Anja M. Boos: Keine andere chirurgische Disziplin ist so umfassend wie die Plastische Chirurgie. Diese Vielfalt des Faches ist faszinierend. Zum einen, was die Bandbreite der Krankheitsbilder und Behandlungsfälle angeht, zum anderen, was die Patientenstruktur betrifft. Denn ich behandle Patientinnen und Patienten jeden Alters und aus allen sozialen Schichten. Und wenn ich diesen Menschen nach einer Verletzung oder nach einer Krebserkrankung ein großes Stück Lebensqualität zurückgeben kann, sind sie sehr dankbar. Das zu sehen ist sehr befriedigend.
Und was gefällt Ihnen nicht?
Prof. Dr. Anja M. Boos: Leider nehmen Prozesse wie Abrechnungsmodalitäten und gesetzliche Vorgaben viel Raum im Alltag ein. Man wird in ein starres bürokratisches System gezwängt, um kostendeckend zu arbeiten. Es kann demotivierend sein, wenn einem Patienten eine optimale Therapie nicht angeboten werden kann, weil die Krankenkasse zum Beispiel die Kosten für ein innovatives Material nicht übernimmt. Das muss man dann so akzeptieren.
Aus welchen Gründen würden Sie Ihr Fach dem medizinischen Nachwuchs empfehlen?
Prof. Dr. Anja M. Boos: Die Plastische Chirurgie ist ein Fachgebiet mit Zukunft. Wir vereinen zahlreiche mikrochirurgische Techniken, die es uns ermöglichen, in der rekonstruktiven Chirurgie, der Handchirurgie, der Verbrennungschirurgie und der ästhetischen Chirurgie tätig zu sein. Darüber hinaus sind für die Zukunft in allen Bereichen bedeutende technologische, biologische und digitale Innovationen zu erwarten. Sei es die robotergestützte Mikrochirurgie, die Verwendung patienteneigener Zellen zur Förderung der Geweberegeneration oder die Behandlung größerer Defekte mit im Labor gezüchteten Transplantaten. Darüber hinaus stehen den plastischen Chirurgen praktisch alle Möglichkeiten offen: Man kann sich niederlassen, in kleineren oder größeren Kliniken arbeiten oder eine universitäre Laufbahn einschlagen. Die Weiterbildung zum Facharzt für „Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie“ ist sehr umfangreich und dauert sechs Jahre, doch danach stehen einem alle Wege offen.