Prof. Dr. Christian Haasen über Suchterkrankungen bei Ärztinnen und Ärzten

19 April, 2021 - 07:21
Stefanie Hanke
Älterer Arzt trinkt Alkohol am Schreibtisch
Alkohol bei der Arbeit ist ein Risiko: für die Sicherheit der Patienten, aber auch für die eigene Approbation.

Alkohol, Beruhigungsmittel oder sogar harte Drogen: Auch Ärztinnen und Ärzte können unter Suchterkrankungen leiden. Gründe sind unter anderem die hohe Arbeitsbelastung im Klinikalltag und die hohe Verantwortung. Im Interview erklärt Prof. Dr. Christian Haasen von der Ärztekammer Hamburg, wie die Kammer den Betroffenen helfen kann – und wann eine Sucht die Approbation gefährdet.

Prof. Haasen, wie verbreitet sind Suchterkrankungen in der Ärzteschaft? Und über welche Suchtmittel sprechen wir da?

Prof. Dr. Christian Haasen: In Bezug auf Süchte wie Alkohol und harte Drogen sind Ärztinnen und Ärzte genauso betroffen wie der Rest der Bevölkerung. Bei der Abhängigkeit von Arzneimitteln – beispielsweise von Beruhigungsmitteln wie Benzodiazepinen, aber auch von Opiaten – sind Ärztinnen und Ärzte allerdings stärker betroffen als andere. Der Grund dafür ist, dass sie viel leichter an diese Medikamente herankommen als andere Menschen. Das führt dazu, dass sie einer größeren Gefahr ausgesetzt sind, in diesem Bereich eine Abhängigkeit zu entwickeln.

Heißt das, dass Medikamentenabhängigkeit bei anderen Menschen nur deshalb weniger verbreitet ist, weil sie schlechter an diese Substanzen herankommen?

Prof. Dr. Christian Haasen: Im Umgang mit Süchten ist ja die Frage des Zugangs zu dem Suchtmittel ein wichtiger Faktor. In Bezug auf Alkohol halte ich als Suchtmediziner die Zugangsschwelle generell für zu niedrig: Alkohol ist überall problemlos verfügbar. Wenn jemand abhängig von einem bestimmten Medikament ist, ist auch die Frage entscheidend, wie leicht dieses Medikament für ihn verfügbar ist. Und während andere Menschen dann ihren Arzt um ein Rezept bitten müssen, können die Mediziner selbst einfach in die Apotheke gehen und bekommen die Medikamente mit ihrem Arztausweis.

Welche Rolle spielen die Besonderheiten des Arztberufs beim Suchtrisiko?

Prof. Dr. Christian Haasen: Ich denke nicht, dass sich Ärzte da von anderen unterscheiden. Das Suchtrisiko wird ja unter anderem von genetischen Faktoren beeinflusst. Aber natürlich ist auch die Arbeitsbelastung im Arztberuf ein Faktor. Und es gehört natürlich zum Arztberuf, Symptome zu beeinflussen. Das bedeutet: Wenn sie beispielsweise an sich selbst Symptome wie Stress und Schlafstörungen feststellen, haben Ärzte auch die Tendenz, sich selbst ein Mittel dagegen zu verschreiben. Das kann ein Glas Rotwein zur Entspannung sein, aber auch ein rezeptpflichtiges Schlafmittel. Das erhöht natürlich das Risiko einer Abhängigkeit.

Wenn aus einem Glas Rotwein oder einer Tablette mehr wird, kann das aber auch Auswirkungen auf die Arbeit der Betroffenen haben…

Prof. Dr. Christian Haasen: Aus unserer Sicht als Ärztekammer sind dabei zwei Aspekte wichtig: Auf der einen Seite ist ein Arzt mit einer Suchterkrankung ein Patient, den wir dabei unterstützen wollen, die Sucht zu überwinden. Auf der anderen Seite müssen wir sicherstellen, dass Patienten nicht durch Ärzte gefährdet werden. Wenn die Ärzte weiter praktizieren, dürfen sie dabei nicht unter dem Einfluss von psychoaktiven Substanzen stehen.

19.12.2024, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Zürich 1

Die Ärztekammer Hamburg hilft Ärztinnen und Ärzten bei der Bewältigung ihrer Suchterkrankung seit über 20 Jahren nach dem Prinzip „Hilfe statt Strafe“. Wie gehen Sie da vor?

Prof. Dr. Christian Haasen: Bei uns in Hamburg gibt es dazu ein Interventionsprogramm – ähnliche Modelle gibt es auch in allen anderen Landesärztekammern. Einer der wichtigsten Punkte ist zunächst die Aufklärung der Situation. Das bedeutet: Wir finden heraus, um was es sich genau handelt: Ist es eine Abhängigkeitserkrankung oder bewegt sich der Suchtmittelkonsum im schädlichen Rahmen, ohne dass eine Abhängigkeit vorliegt? Ist es eine Momentaufnahme oder ein längerfristiges Problem? Um das zu untersuchen, sprechen wir mit dem Arzt und arbeiten auch mit Laborparametern wie Blut- und Urinuntersuchungen und Haaranalysen. Wenn klar ist, dass es sich um eine Suchterkrankung handelt, beraten wir den Arzt und unterstützen ihn bei der Behandlung.

Welche Möglichkeiten gibt es da?

Prof. Dr. Christian Haasen: Manchen empfehlen wir zum Beispiel eine Entzugsbehandlung in einer Klinik. Nach dem eigentlichen Entzug geht es dann um die Begleitung und Nachsorge. Da kommt beispielsweise eine ambulante Behandlung infrage. In dieser Zeit bleiben wir von der Kammer regelmäßig mit dem Arzt in Kontakt, weil wir möglichst sichergehen wollen, dass er auch weiterhin abstinent bleibt.

Wie können sie das prüfen?

Prof. Dr. Christian Haasen: Wir erwarten von den Ärztinnen und Ärzten, dass sie sich regelmäßig kontrollieren lassen und zum Beispiel Urin oder eine Haarprobe abgeben. Damit können wir überprüfen, ob es zu Rückfällen gekommen ist. Wir arbeiten dabei eng mit dem Rechtsmedizinischen Institut der Uniklinik Hamburg zusammen. Die Ärztinnen und Ärzte werden nach dem Zufallsprinzip für den nächsten Tag eingeladen. Wir berücksichtigen dabei Urlaube und Schichtpläne, aber die kurzfristige Einladung ist wichtig, damit jemand nicht gezielt nur vor dem Test abstinent bleibt. Speziell bei Alkohol ist das Zeitfenster relativ klein. Andere Substanzen lassen sich auch noch länger nachweisen.

Was passiert, wenn Sie in so einer Kontrolle feststellen, dass jemand rückfällig geworden ist?

Prof. Dr. Christian Haasen: Dann konfrontieren wir den Arzt mit dem Ergebnis und schauen, wie es zu dem Rückfall gekommen ist. Der Arzt soll unsere Tätigkeit ja nicht nur als Kontrolle wahrnehmen, sondern als Hilfe – die meisten arbeiten also gut mit uns zusammen und sprechen offen darüber. Zur Sucht gehört auch der Rückfall – das ist ein Teil der Krankheit, und manche brauchen ein paar Jahre, bis sie es schaffen, dauerhaft abstinent zu bleiben. Uns ist aber auch hier wichtig, dass niemand unter dem Einfluss der Substanz arbeitet, sondern sich im Notfall zum Beispiel krankmeldet.

Wie finden die Betroffenen überhaupt den Einstieg in Ihr Programm?

Prof. Dr. Christian Haasen: Die Leute werden häufig von anderen gemeldet: Oft sind das Patienten, aber auch Mitarbeiter, Kollegen oder die Ehepartner der Betroffenen. Manchmal kommen die Betroffenen selbst zu uns – vielleicht nach Aufforderung durch einen Vorgesetzten. Durch unsere Arbeit ist auch das Verständnis der Chefärzte größer geworden: Wir wollen erreichen, dass die Betroffenen weiterarbeiten können. Und in Zeiten des Ärztemangels ist unser Programm eine gute Alternative, um den Arzt halten zu können. Manchmal werden wir auch von einer Behörde auf jemanden aufmerksam gemacht – beispielsweise, weil jemand mit Alkohol am Steuer erwischt wurde und deshalb seinen Führerschein abgeben muss.

Wie erleben Sie die Betroffenen am Anfang des Programms?

Prof. Dr. Christian Haasen: Das ist ganz unterschiedlich. Manche sind misstrauisch und fühlen sich gezwungen, an dem Programm teilzunehmen. Ein bisschen stimmt das natürlich. Aber wenn sie verstehen, dass sie weiterarbeiten können, wenn sie an dem Programm teilnehmen, werden sie auch schnell kooperativer. Sie wollen natürlich ihre Approbation behalten – das ist eine große Motivation. Mit der Zeit begreifen sie das Programm immer mehr als Hilfe, wirklich abstinent zu bleiben.

19.12.2024, Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Zürich 1

Gibt es auch Ärztinnen und Ärzte, die diese Hilfe nicht annehmen?

Prof. Dr. Christian Haasen: Ja, das kommt vor, aber nur ganz selten. Dann empfehlen wir dem Arzt, seine Arbeit ruhen zu lassen. Wenn er dann immer noch uneinsichtig ist, geben wir den Fall an die zuständige Behörde weiter. Hier in Hamburg ist das die Sozialbehörde. Dort wird dann geprüft, ob die Approbation ruhen muss. Mir fällt dazu aus den vergangenen Jahren aber nur ein einziger Fall ein.

Ärztinnen und Ärzte sind ja normalerweise die, die anderen helfen – das gehört zum Selbstverständnis. Wie gehen sie damit um, wenn sie auf einmal selbst Hilfe brauchen?

Prof. Dr. Christian Haasen: Das ist ein Prozess, der für viele nicht ganz einfach ist. Viele können die Hilfe nur schwer annehmen und finden sich nicht in die Patientenrolle hinein. Aber mit der Zeit gelingt der Perspektivwechsel den meisten dann doch.

Was kann ich selbst tun, wenn ich das Gefühl habe, dass mein Kollege oder Vorgesetzter ein Suchtproblem haben könnte?

Prof. Dr. Christian Haasen: Als erstes sollte man versuchen, die Person anzusprechen. Die meisten Süchtigen denken ja, dass niemand von der Sucht weiß. Aber wenn sie persönlich angesprochen werden, wird ihnen klar, dass sie auffallen – und dass sie eventuell etwas tun sollten. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sich der oder die Betroffene Hilfe sucht. Wenn ein direktes Gespräch nicht möglich ist, sollte man sich bei einem Verdacht an den nächsten Vorgesetzten wenden. Und wir bekommen auch bei der Kammer Hinweise – teilweise auch anonym. Manche wollen nur Tipps, wie sie mit der Situation umgehen können. Und manchmal rufen auch die Betroffenen selbst anonym bei uns an – das kann dann ein erster Schritt sein. Dann können wir ihnen erklären, welche Möglichkeiten es gibt – und welche Risiken sie eingehen, wenn sie nichts tun.

Der Experte:

Christian Haasen

Prof. Dr. Christian Haasen ist Psychiater und Suchtmediziner. Er leitet bei der Ärztekammer Hamburg den Bereich Aus-, Fort- und Weiterbildung und begleitet suchtkranke Ärztinnen und Ärzte im Rahmen des Interventionsprogramms der Kammer.

Mehr Informationen zum Programm und Kontakt unter www.aerztekammer-hamburg.org/arztgesundheit.html 

Bild: © privat

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