
Wenn der Arzt Prof. Dr. Gerhard Trabert zur Arbeit geht, dann macht er sich nicht etwa auf den Weg in eine Praxis oder ein Krankenhaus, nein, er geht auf die Straße, denn hier findet er seine Patientinnen und Patienten. Trabert behandelt Obdachlose und Arme in Mainz. Seine Praxis ist ein zum Arztmobil umgebauter Mercedes-Sprinter. Als erster Arzt in Deutschland bekam er für diese Form der mobilen Praxis eine Kassenzulassung. Jeden Tag fährt der Allgemeinmediziner zu seinen Patientinnen und Patienten, versorgt sie mit Medikamenten, behandelt Erkältungen, verstauchte Gliedmaßen und psychische Erkrankungen.
Was seine Patientinnen und Patienten aber am meisten brauchen, ist Zuwendung und das Gefühl, auf Augenhöhe wahrgenommen zu werden. Das tut Trabert, wenn er sich z.B. zu den Menschen auf den Boden setzt, sie auch einmal umarmt und sie nicht zu seinem Arztmobil kommen lässt, sondern sich mit seiner mobilen Praxis zu ihnen hinbegibt. Damit folgt er dem Prinzip des „aufsuchenden Gesundheitsversorgungskonzepts“, einer Art medizinischem Streetworking, das er auf einer seiner Reisen nach Indien kennenlernte. Der Leitsatz, dem dieses Konzept folgt, lautet: „Wenn der Patient oder die Patientin nicht zum Arzt oder zur Ärztin kommt, kommt der Arzt oder die Ärztin zur Patientin oder zum Patienten“. Trabert wendet diese Grundidee in der Gesundheitsversorgung von wohnungslosen Menschen an.
Mediziner auf Augenhöhe
Die Arbeit mit seinen Patientinnen und Patienten verlangt dem Mediziner viel ab. Aber sie gibt ihm auch viel zurück, weil er Menschen sehr authentisch begegnet, sagt er. „Früher dachte ich, ich bringe diesen Menschen Würde und Respekt. Das stimmt auch, aber auch sie schenken mir Würde und Respekt durch diese Form der ehrlichen zwischenmenschlichen Begegnung.“ Das hat er immer wieder erlebt, in Deutschland und auch in seinen zahlreichen Auslandseinsätzen in Indien, Bangladesch und den USA. Er engagiert sich auch in der Seenotrettung im Mittelmeer, reiste unzählige Male in Kriegs- und Krisengebiete, etwa in Afghanistan, Syrien oder in der Ukraine, und kümmerte sich um Kriegsflüchtlinge.
Die ärztliche Profession war allerdings nicht seine erste Berufswahl. Nach dem Abitur studierte der gebürtige Mainzer zunächst Soziale Arbeit und begann seine Tätigkeit in der Obdachlosenhilfe. Dabei fiel ihm auf, wie schwer es sein Klientel hat, Zugang zu medizinischer Versorgung zu erhalten. 1983 beschloss Trabert darum, Medizin zu studieren. Nach dem Studium arbeitete er zehn Jahre im Krankenhaus, u.a. in der Onkologie. Hier beschäftigte er sich viel mit den sozialen Aspekten der Medizin, unterrichtete Autogenes Training und führte Gesprächskreise. „Ich hatte viele Patientinnen und Patienten, die sehr verunsichert waren, wie sie mit ihren Kindern über ihre Krebserkrankung reden sollten“, erinnert er sich. Damals gab es keine Anlaufstellen für diese psychosozialen „Nebenwirkungen“ einer Krebserkrankung. Daher gründete er 2003 gemeinsam mit einer engagierten Sozialpädagogin „Flüsterpost“, einen Verein, der sich um die Kinder von an Krebs erkrankten Menschen kümmert.
Trabert ließ sich auch zum Notarzt ausbilden und fuhr viele Noteinsätze. Die Arbeit mit den Patientinnen und Patienten gefiel ihm. Was ihm jedoch nicht sonderlich gefiel, war das hierarchische System mit der fachlichen Schwerpunktsetzung in einem Krankenhaus, in dem die psychosoziale Betreuung der Kranken zu kurz kam. „Ich habe gemerkt, dass ich mich immer weiter von meinen Idealen als Arzt entferne.“ 1999 zog er darum die Reißleine und nahm eine Professur für Medizin und Sozialmedizin in Nürnberg an. Hier blieb Trabert bis 2009. Seit 2009 hat er eine Professur für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden inne.
Es ist ihm wichtig, seinen Studierenden zu vermitteln, dass zur sozialen Arbeit sowie zur Medizin gehört, Haltung zu zeigen. Dies drückt für den Humanisten das sogenannte Triple-Mandat der Sozialen Arbeit aus. „Das bedeutet, man ist der Klientin oder dem Klienten und dem Arbeitgeber, aber eben auch der beruflichen Ethik verpflichtet – und das sind die Menschenrechte. Und so wie ich Medizin und Soziale Arbeit verstehe, bedeutet dies immer auch politisch aktiv zu sein “, erklärt Trabert seine Weltsicht. Er kritisiert, dass in der Sozialen Arbeit zu wenig für die Beseitigung struktureller Missstände, die durch die Politik verursacht wurden, getan wird.
Als Mediziner Haltung zeigen
Seine festen moralischen Überzeugungen treiben ihn an, wenn er sich politisch engagiert, ob nun bei seinen Auslandseinsätzen, als Buchautor oder als Mitglied der Nationalen Armutskonferenz. 1997 gründete Trabert den Verein „Armut und Gesundheit in Deutschland“. Der Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, obdachlosen und sozial benachteiligten Menschen zu helfen. Das Thema Armut und deren Folgen ist zu seinem Lebensthema und er zu einem anerkannten Experten geworden. Der Mediziner hat u.a. das Bundesverdienstkreuz, die Paracelsus-Medaille und die Salomon-Neumann-Medaille erhalten. Bei der Bundestagswahl 2021 tritt er als parteiloser Direktkandidat im Wahlkreis 205 Mainz auf dem Platz der Linken an. Ein Jahr später stellt die Linke ihn für die Wahl zum Bundespräsidenten gegen den erneut kandidierenden Amtsinhaber Frank Walter Steinmeier (SPD) auf.
Er wird nicht gewählt, nutzt aber die Kandidatur, um auf Armut und soziale Missstände aufmerksam zu machen. Für Trabert ist ganz eindeutig, dass Armut krank macht. Auch in Deutschland sieht er die Kluft zwischen Arm und Reich durch die Pandemie größer werden, und das versetzt ihn in Sorge. „Ungerechtigkeit können wir uns auch wirtschaftlich nicht leisten“, betont er und fährt fort: „Eine Gesellschaft wird instabil, wenn ein Teil ausgeschlossen wird.“ Das habe auch klare Auswirkungen auf die Gesundheit von Menschen. Darum appelliert er immer wieder an Kolleginnen und Kollegen, Gesundheit in größeren Zusammenhängen zu betrachten.
Die Sorge um die Menschen und sein Unwille, tatenlos zu bleiben, treiben Trabert an. Wenn er nicht auf der Straße arbeitet oder in seinem Verein tätig ist, ist der umtriebige Arzt viel unterwegs: Er reist in Krisengebiete, hält Reden, Vorträge und versucht immer wieder, auch an den gesellschaftspolitischen Strukturen zu rütteln, damit sich etwas zum Besseren verändert. Das ist manchmal frustrierend, weil er immer wieder auf Widerstände stößt, aber davon lässt er sich nicht entmutigen. Denn: „Aufgeben ist keine Option“, sagt der überzeugte Humanist.