
Prof. Dr. Sylvia Thun ist das, was man eine Vorzeigefrau nennt. Sie ist approbierte Ärztin, Diplomingenieurin und profilierte Spezialistin für IT-Standards im Gesundheitswesen. Seit 2011 ist sie als Professorin für Informations- und Kommunikationstechnologie im Gesundheitswesen an der Hochschule Niederrhein tätig, seit 2018 hat sie eine Gastprofessur an der Charité inne und ist Direktorin für E-Health und Interoperabilität am Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIH) der Stiftung Charité, wo sie seit Herbst 2021 eine W3-Professur auf Lebenszeit belegt.
Thun forscht zu Gesundheitsdaten und IT-Themen wie der Elektronischen Gesundheitsakte und ist auch auf Regierungsebene gern konsultierte Expertin für Digitale Medizin. Sie leitet das Projekt "Digitalradar Krankenhaus", das die digitale Reife von Kliniken misst, und das InteropCouncil, das nationale Expertengremium für Interoperabilität.
Frühe Liebe zur Technik
„Als junge Frau wollte ich die Medizin immer mit Technologien verbessern. Darum habe ich zuerst biomedizinische und physikalische Technik studiert“, erzählt Thun. Die gebürtige Kölnerin ist damals so gut und schnell mit dem Studium fertig geworden, dass sie von einem Professor den Vorschlag erhält, zu promovieren. Sie geht an die RWTH Aachen, um ihre Diplomarbeit über die Magnetresonanztherapie zu schreiben. An der RWTH stand zu diesem Zeitpunkt eines der ersten MRT-Geräte Deutschlands.
Dort angekommen, wird sie bald wieder angesprochen. Dieses Mal von Medizinern, die ihr nahelegen, ein Medizinstudium anzuhängen. Dazu muss sie ein Bewerbungsschreiben an die RWTH richten, um für ein Zweitstudium angenommen zu werden. Sie erhält eine Zusage und findet sofort eine Anstellung als wissenschaftliche Hilfskraft in der Radiologie. Von Anfang an bleibt sie ihrer Liebe zur Technik treu. „Ich wusste immer, ich werde nicht als klassische Ärztin arbeiten, sondern im technischen Bereich bleiben“ so Thun. Sie wird jung Mutter von zwei Kindern. Ihr damaliger Partner ist ebenfalls Medizinstudent. Damals verdienen PJ-ler kein Geld, also entschließt sie sich, in einer Beratungsfirma im Gesundheitswesen zu arbeiten und das Geld für die Familie zu verdienen. „Das hat mir viel Spaß gemacht“; erinnert sie sich.
2004 zieht es sie wieder in das wissenschaftliche Umfeld – und zurück in das heimatliche Köln. Die Medizinerin wird wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI). Sie arbeitet an Arzneimittelinformationen und IT-Standards für die Interoperabilität zwischen Softwaresystemen im Gesundheitswesen und in europäischen Projekten zur Gesundheitsakte. 2011 erfolgt die Berufung als Professorin für Informations- und Kommunikationstechnologie an die Hochschule Niederrhein. Das wäre eigentlich Arbeit genug, doch sie schafft es sogar noch, sich nebenbei im wissenschaftlichen Beirat des mibeg-Instituts Medizin, als Dozentin an verschiedenen Hochschulen und Instituten sowie im Präsidium der ärztlichen Fachgesellschaft GMDS zu betätigen.
Seit 2018 arbeitet sie etwa zur Hälfte als Direktorin der Einheit „eHealth und Interoperability“ am Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIH) und zur anderen Hälfte als Professorin an der Hochschule Niederrhein. Zusätzlich ist sie in diversen Verbandsvorständen, Arbeitsgruppen und Organisationen tätig, die sich mit der Standardisierung in der Medizin befassen. 2018 wird Thun vom Bundesforschungsministerium und der Gesellschaft für Informatik zu einem der „Digitalen Köpfe“ Deutschland ernannt.
Vermittlerin zwischen den Welten
Wenn sie mit politischen Vertreterinnen und Vertretern spricht oder an der Weiterentwicklung des digitalen Gesundheitswesens mitwirkt, hat es viele Vorteile für die Wissenschaftlerin, beide Sichtweisen, die der Technikerin und die der Medizinerin, einnehmen zu können. „Ich verstehe Ärztinnen und Ärzte, die in der aktuellen Politik gefangen sind,“ sagt sie. Sie sieht, dass sie mit Systemen arbeiten müssen, die abrechnungsgetrieben und aus ihrer Sicht meist technikunfreundlich sind.
In Sachen Digitalisierung gibt es für die IT-Expertin noch viel zu tun. „In Deutschland denken wir z.B. bei der elektronischen Patientenakte, dass wir einfach alles elektronifizieren, was wir vorher analog gemacht haben. Das ist natürlich falsch!“, betont sie. Für Ärztinnen und Ärzte seien die Vorteile der Entwicklungen aus der Medizintechnik nachvollziehbar, weil sie ihre Arbeit und die Patientenversorgung erleichtern. Was die Digitalisierung des Gesundheitswesens angeht, sei das nicht so klar. „Bei den meisten Ärztinnen und Ärzten ist davon nicht viel angekommen, außer Technologie, die sehr fehlerhaft ist.“
Die Technologien, mit denen Medizinerinnen und Mediziner vor allem im niedergelassenen Bereich heute arbeiten müssen, sind veraltet. „Dass hier noch mit Plastikkarten hantiert wird, ist ein Unding“, findet Thun. Ein anderes Problem sieht sie in der starken Bindung von IT-Systemen an Hersteller. Diese stellen in sich geschlossene Systeme her, die einen Anbieterwechsel oder Erweiterungen mit Lösungen anderer Anbieter erschweren oder unmöglich machen.
Doch sie sieht nicht nur die Hersteller und die politische Seite in der Pflicht. Auch aufseiten der Ärztinnen und Ärzte muss es ihrer Meinung nach ein Umdenken geben, wie diese mit der Digitalisierung umgehen. Angefangen dabei, wieviel in den Praxen für IT-Systeme ausgegeben wird, bis hin zur inneren Einstellung gegenüber der Technologie und der neuen Prozesse.
Langfristig, so ist sich Thun sicher, werden Gesundheitsdaten auf dem Smartphone oder Tablet sein und auch darüber ausgetauscht werden. Technologisch ist das bereits alles möglich. „Damit es auch umgesetzt wird, braucht es einerseits Investitionen und einen anderen Stellenwert von Innovationen bei dem Arzt bzw. der Ärztin und andererseits müssten Softwarehersteller gute Software entwickeln“, betont sie.
Weibliche Vorreiterin
Thun ist eine ausgewiesene Expertin in ihrem Gebiet, wirkt aktiv an der Digitalisierung des Gesundheitswesens und der Etablierung von IT-Standards mit. Für ihre Verdienste erhält sie 2022 das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens. Ähnlich qualifizierte männliche Kollegen zu finden, dürfte schwierig werden. Dennoch erlebt sie immer wieder, dass etwa ein männlicher IT-Experte für ein TV-Interview bevorzugt wird. „Das ärgert mich, denn Repräsentation ist wichtig.“ Sie will junge Frauen und Mädchen ermutigen, den Schritt in Richtung einer beruflichen Karriere in der IT zu machen. Sie plädiert auch dafür, die Ausbildung von Fachärztinnen und -ärzten besser an die Bedürfnisse und Lebenssituation von Frauen anzupassen. Im Hinblick darauf, dass die Medizin inzwischen weiblich dominiert ist, ist das auch dringend notwendig.
In ihrer Abteilung, die sie an der Berliner Charité leitet, sind 26 junge Mitarbeitende beschäftigt. „Ich höre immer gut hin, was sie brauchen“, berichtet Thun. Mit Erfolg: Inzwischen kommen immer mehr junge Ärztinnen und Wissenschaftlerinnen, um bei ihr zu arbeiten, eben weil die Medizinerin sich so bemüht, gute Arbeitsbedingungen für Frauen zu schaffen. In Zukunft wünscht sie sich, dass in den Digital Health Bereich Gleichberechtigung herrscht. „Es gibt keine Behörde oder Unternehmen für Digital Health, das von einer Frau geleitet wird. Ich bin immer die Einzige, die sie rausholen und dann sitze ich fast nur mit Männern auf dem Podium“, kritisiert sie. Sie ist die Vorzeigefrau, doch das reicht Thun nicht. Sie will mehr Platz für andere Frauen schaffen. Diese Aufgabe hat sie auch noch übernommen.