
Immer mehr Telenotärztinnen und -ärzte sind bundesweit im Einsatz. Sie sollen mithelfen, die Notfallrettung in Zukunft auch angesichts des Fachkräftemangels zu gewährleisten. Das Angenehme: Man muss nicht mehr raus. Die Herausforderungen: Man muss cool bleiben, gut kommunizieren können und anfangs viel üben. Johannes Becker, Ärztlicher Leiter des ersten Telenotarztstandortes in Rheinland-Pfalz, berichtet von seinen Erfahrungen.
Herr Becker, seit wann gibt es den Telenotarztstandort und bei welchen Fällen kommen Sie zum Einsatz?
Johannes Becker: Wir starteten im Sommer 2023 mit drei Rettungswachen. Inzwischen haben wir zwei größere Wachen angeschlossen, sodass wir mittlerweile zehn RTWs betreuen. Einen großen Teil machen aktuell noch Brot-und-Butter-Einsätze aus, wie die Transportverweigerung, dem womöglich unbeliebtesten Einsatz für den physischen Notarzt. Da gibt es meistens keinen Stress, es ist nur wichtig, eine gute Übergabe und Dokumentation zu machen. Häufig sind auch Behandlungen oder Beratungen bei Blutdruckentgleisungen und Synkopen. So etwas ist zwar nicht spannend, aber gut für den Einstieg. Wir haben aber auch schon ernstere Erkrankungen mitbehandelt, die wir aus der Ferne gut abarbeiten konnten.
Was wird noch dazukommen?
Johannes Becker: Das Einsatzspektrum steht noch nicht endgültig fest. Wir befinden uns in der Erprobungsphase, möchten Erfahrung sammeln. Dann wird entschieden, was dazukommt. Das wesentliche Ziel ist, bestehende Systeme zu ergänzen oder zu entlasten. Heißt konkret, dass die Notarzteinsatzfahrzeuge und Hubschrauber seltener zu den nicht ganz so schlimmen Fällen raus müssen. Was wir in unserem Projekt bereits gut sehen konnten: Die Rettungskräfte vor Ort kommen im täglichen Betrieb mit uns im Ohr schon relativ weit. Wir sind für sie eine Absicherung, andererseits dürfen sie viel weiter agieren, wie bei der Schmerzbekämpfung. Denkbar sind am Ende viele Einsatzmöglichkeiten.
Wie haben Sie Ihren ersten Einsatz erlebt?
Johannes Becker: Ich bin seit mehr als 20 Jahren im Rettungsdienst tätig und war bei meiner Telenotarztpremiere ähnlich aufgeregt wie beim ersten Notarzteinsatz. Es stellte keine medizinische Herausforderung dar, aber ich hatte anfangs einige Schwierigkeiten, mir ohne die Vor-Ort-Eindrücke ein gutes Bild vom Patienten zu machen. Unsere App überträgt live die Vitaldaten des Patienten. Ansonsten bin ich auf die Wahrnehmungen und Interpretationen der Einsatzkräfte vor Ort angewiesen. Das ist eine ganz besondere Situation.
Können Sie das näher schildern?
Johannes Becker: Ich werde alarmiert, gehe in meinen Raum und bin in Sekundenschnelle am Einsatzort, mit Smartphone, Headset und vor dem großen Bildschirm. Die Herausforderung ist: Nun muss man einerseits gut zuhören können, ohne gleich selbst loszulegen. Andererseits ist es wichtig, den Tatendrang der Rettungskräfte vor Ort zu kanalisieren. Ansonsten passiert es schnell, dass man vom Team mehr Informationen bekommt, als man zunächst mitschneiden kann. Hierfür ist es nötig, miteinander ein Tempo und eine Kommunikationsform zu finden, und das auch zu üben. Das muss man anfangs immer wieder einfordern, auch bei Telenotarzt-erfahreneren Fachkräften. Letztendlich funktioniert es gut und wir sehen eine tolle Lernkurve.
Welche Herausforderungen gibt es noch?
Johannes Becker: Der Telenotarzt muss aus der Distanz mit unvorhergesehenen Ereignissen zurechtkommen, falls die Verbindung schlecht wird oder die Technik hakt. Wenn ich vor Ort bin, kann ich eingreifen, selbst fehlende Informationen sammeln. Das trifft im TNA-Einsatz aber nicht zu. Da muss man cool bleiben und sehen, was durch die Leute am Einsatzort machbar ist. Ebenso muss ich mich aus der Ferne vergewissern, ob alle Vorbereitungen für bestimmte Maßnahmen adäquat getroffen wurden, wie zum Beispiel die Möglichkeit, bei einer Analgesie, also einer medikamentösen Schmerztherapie, unmittelbar Sauerstoff geben zu können. Generell sollten alle eine gute Einsatzdisziplin mitbringen. Als Unterstützung können wir Videos von der Einsatzstelle übermittelt bekommen. Auch die Patientinnen und Patienten haben dann die Möglichkeit, uns zu sehen. Das ist manchmal besser als die abstrakte Stimme im Hintergrund.
Wo sehen Sie die Grenzen?
Johannes Becker: Eine der Fragen, die ich gleich zu Beginn stelle, ist: Könnt ihr den Einsatz fachlich und technisch übernehmen? Manchmal wird einfach ein zusätzliches Paar Hände benötigt, zum Beispiel, wenn es mit der Trage eine steile Treppe runtergeht. Da unterstützen im Einsatz vor Ort ja alle, auch der Notarzt. Hier muss man als Telenotarzt überlegen, ob vielleicht noch ein weiterer RTW dazukommen sollte oder die Feuerwehr.
Wenn wir nicht die gleiche Sprache sprechen wie der Patient, wird es auch schwierig. Denn die Betroffenen müssen aufgeklärt werden und dem TNA-Einsatz zustimmen. Ferner muss das Mobilfunknetz, über das der gesamte Austausch läuft, in der Region stabil zur Verfügung stehen. Gerade auf dem Land, wie im Pfälzer Wald, gibt es noch weiße Flecken.
Was war Ihr interessantester Einsatz?
Johannes Becker: Vor kurzem forderte mich eine Kollegin an, weil sie besprechen wollte, wohin sie mit einem Patienten fahren sollte. Der junge Mann bekam mittags am Küchentisch plötzlich schwere Kopfschmerzen und konnte nichts mehr sehen. Das war sehr spannend, weil wir beide wie eine Schwarmintelligenz um ihn kreisten und überlegten, was die Ursache sein könnte. Es sind uns vor allem ernste Diagnosen eingefallen, für die es aber keine richtigen Hinweise gab. Da es sich im ländlichen Gebiet abspielte, ging es nun darum, ob wir ihn zur nahegelegenen kleinen Kinderklinik oder zur weiter entfernten Uniklinik bringen sollten.
Ich habe die Kollegin schlussendlich gebeten, zum Maximalversorger zu fahren und den Patienten auch dort angemeldet. Während der ganzen Fahrt blieb ich in der Leitung, um bei einer Zustandsveränderung jederzeit eingreifen zu können. Letztlich war es eine seltene Form einer Migräne in der Erstdiagnose. Das sind so Einsätze, bei denen man medizinisch weiterdenken muss. Das kann man auch in einem klassischen Notarzteinsatz erleben, aber so war es noch ein bisschen herausfordernder.
Was muss man mitbringen für diese Dienste?
Johannes Becker: Dafür brauchen wir erfahrene Notärztinnen und Notärzte. Dazu kommen ein zusätzlicher 30-Stunden-Kurs sowie einige spezielle Qualifikationen. Mindestens genauso wichtig wie die Fachlichkeit sind kommunikative Skills. Dazu gehört eine besondere Stressresistenz, weil man alles durch ein Medium machen muss und nicht selber anpacken kann. Sie müssen Menschen, die aufgeregt sind oder unter Druck stehen, im digitalen Kontakt dazu bringen, Ihnen die notwendigen Informationen zu liefern. Ihnen quasi helfen, sich ein bisschen zu sortieren.
Was ist reizvoll an dieser Tätigkeit?
Johannes Becker: Toll finde ich die andere Zusammenarbeit mit der nicht-ärztlichen Berufsgruppe. Auch Rettungsfachleute freut es natürlich, dass sie viel breiter arbeiten können. Was für uns als Berufsgruppe zudem interessant werden könnte: Diese Einsätze lassen sich theoretisch von zu Hause aus durchführen. Davon sind wir jetzt zwar noch weit entfernt, aber das könnte zukünftig ein zusätzlicher Anreiz sein, in die Notfallmedizin zu kommen und zu bleiben. Das hoffe ich ehrlich gesagt auch.
Wie groß ist das Team?
Johannes Becker: Die Ausbildung ist ein Nadelöhr sowohl für die Notfallsanitäter, aber auch für die Telenotärzte. Wir mussten dieses Kursformat für Rheinland-Pfalz quasi erstmal erfinden. Aktuell sind wir an der Telenotarztzentrale in Ludwigshafen 13 Notärztinnen und Notärzte. Unsere Kernzeit ist werktags von 8 bis 16 Uhr, meistens sind wir etwas länger da. Ziel ist, das System auch am Wochenende und in der Nacht anzubieten. Gerade das sind die Zeiten, wo wir noch besser helfen könnten, damit die Kolleginnen und Kollegen auf dem NEF und dem Hubschrauber für die Einsätze zur Verfügung stehen, wo sie vor Ort gebraucht werden. Das kann das angefahrene Kind sein, das Polytrauma oder eine Reanimation.
Wollen Sie künftig nur noch am Bildschirm arbeiten?
Johannes Becker: Mir ist sehr daran gelegen, weiterhin praktisch und vor Ort am Patienten tätig zu sein. Ich schätze den Telenotarzt mit einigen Diensten im Monat, weil es eine weitere Erfahrung ist. Aber ich fliege mit großer Leidenschaft auf dem Rettungshubschrauber, bin auch auf dem NEF unterwegs und in der zentralen Notaufnahme. Wir alle machen das parallel. Anderswo sind die Kolleginnen und Kollegen von den Landkreisen oder den Betrieben fest angestellt und machen nur noch Notfallmedizin. Da wird es sicherlich auch welche geben, die rein als Telenotarzt arbeiten.
Wie lange läuft das Projekt noch?
Johannes Becker: Es gibt kein Datum. Wir werden sehen, wie lange es dauern wird, ein flächendeckendes Netz von TNA-Standorten für Rheinland-Pfalz aufzubauen.
Wie weit ist Deutschland mit der Telenotarztmedizin?
Johannes Becker: In fast jedem Bundesland existiert mittlerweile ein Telenotarztprojekt. Das muss jedes Land selbst durchführen, da aufgrund des Föderalismus die Strukturen überall anders sind. Die große Telenotarztzentrale in Aachen zum Beispiel ist seit über zehn Jahren im regulären Betrieb. Die haben das System für Deutschland „erfunden“. Goslar testet seit 2021 mit Erfolg. Aber alles sind Inselprojekte. Wir selbst führen als erste Klinik den Pilotbetrieb für Rheinland-Pfalz durch.