
Wer Stress reduzieren will, sollte sich immer die Frage stellen, wo exakt er ansetzen kann. Um festzustellen, welche Stressoren realistisch betrachtet verringert werden können, hilft es, ganz konkret zu werden. Anschließend ist wichtig zu klären, welche Stressoren veränderbar sind – und welche nicht.
Stress kann man anhand einer vereinfachten Formel erklären. Er ist das Ergebnis folgender Gleichung: Man multipliziert die eigenen Stressoren mit der Bewertung, die man ihnen beimisst, und teilt dies durch die eigenen Ressourcen. So wird es möglich, Stress nicht nur konkreter zu erklären, sondern auch Ansatzpunkte für Veränderung zu finden.
Ein Beispiel für die Stress-Formel
Ein Beispiel hilft, die Stress-Formel besser zu verstehen: Ein Angehöriger einer Patientin beschwert sich bei der QM-Abteilung eines Krankenhauses darüber, dass keine Visite stattgefunden habe. Bezogen auf die Gleichung ist dies der Stressor. Er wird multipliziert mit der inneren Bewertung, will heißen, welche Bedeutung diese Situation für den Betroffenen hat. Ist er entspannt und freut sich gerade auf das nächste Wochenende, wird die Bedeutung nicht hoch sein. Der Stressor hat zum Beispiel den Faktor 10, die Bewertung den fiktiven Faktor 5. Das Ergebnis ist 50 für den gefühlten Stress. Steigert sich jedoch der innere Widerstand, weil der Betroffene sich aufregt über „diese unverschämten Angehörigen, die überhaupt keine Ahnung haben“, würde sich der Faktor der inneren Bewertung auf 50 erhöhen. Dann wäre das Ergebnis 500 für den gefühlten Stress. Dritte wichtige Größe in der Stress-Formel sind die eigenen Ressourcen, also alles, was den eigenen Akku auffüllt und was guttut. Das kann der Kollege sein, der dabei hilft „tief durchzuatmen“ und darüber zu lächeln, weil ja die Visite stattgefunden hat oder eben auch der Ausflug am Wochenende mit der Familie in den Freizeitpark, wenn man denn Freizeitparks mag.
Um Stress zu reduzieren, stellt sich immer die Frage, wo Betroffene ansetzen können. Betrachtet man die Stressoren, zum Beispiel die Themen, die bei Ärztinnen und Ärzten auf dem Schreibtisch landen, fällt auf, dass diese in den letzten Jahren deutlich zugenommen haben. Sie sind nicht mehr nur für die Versorgung ihrer Patienten verantwortlich, sondern müssen sich zunehmend um Managementaufgaben, Führungsthemen und anderes kümmern. Insbesondere die Coronapandemie und ihre Auswirkungen auf das Gesundheitssystem haben gezeigt, dass immer mehr Aufgaben bei Ärztinnen und Ärzten landen.
Um festzustellen, wie viele Stressoren Betroffene realistisch reduzieren können, sollten sie konkret werden. Aus: „Ich bin so gestresst“ sollte konkret werden: „Das sind meine Stressoren!“ Dabei hilft die sogenannte Mindmap, angepasst auf das Thema Stress. Diese Moderationsmethode, erfunden von Tony Buzan, ist aufgebaut wie ein großer Baum. In der Mitte ist der Stamm, der sich in größere Äste verzweigt, die sich weiterverfeinern bis man schließlich in den Blättern ankommt.
Welches konkrete Verhalten stresst?
Bei der „Stress-Mindmap“ steht das Wort Stress in der Mitte. Die ersten größeren Äste bilden die wichtigsten Bereiche des Lebens ab, in denen Menschen regelmäßig Stress erfahren, also der Beruf und das Privatleben. Danach verzweigen sich die Äste je nach Themen. Im Ast „Beruf“ können zum Beispiel stressen: die jungen Assistenzärztinnen und -ärzte, die Pflege, die ihre Arbeit nicht macht, die eigene Führungskraft, die sehr ungerecht ist, die Geschäftsführung mit all ihren Forderungen, die anderen Fachabteilungen, die keine Ahnung haben. Jetzt geht es darum, welches konkrete Verhalten der Assistenzärzte stresst. Beispielsweise könnte das der Wunsch nach bestimmten Diensten sein, ihre fordernde Haltung oder das Nichterledigen von bestimmten Aufgaben, die ihnen zugeteilt wurden. Als Nächstes schaut man auf die konkreten Situationen, die regelmäßig auftreten.
Danach ist wichtig zu klären, welche Stressoren wirklich veränderbar sind. Hilfreich ist sich zu fragen, was man selbst beeinflussen kann – und was nicht. Die Übergänge sind meist fließend und die Abgrenzung nicht immer gut erkennbar. Manchmal ist der Aufwand, etwas zu verändern, enorm groß und manchmal ist es nicht möglich, Dinge zu ändern, beispielsweise bestimmte Auswirkungen der Coronapandemie auf das Gesundheitssystem. Leider neigen Menschen gerade bei Dingen, die sie nicht ändern können oder wollen, dazu, in eine Form des inneren Widerstands zu gehen. Oder, um die oben genannte Formel anzuwenden, sie erhöhen den Stress dadurch, dass sie die Bewertung nicht nur auf 50, sondern auf 150 setzen, mit entsprechenden Auswirkungen auf ihre Gesundheit.
Wenn-dann-Pläne haben sich bewährt
Damit Betroffene auf bestimmte Stressoren lösungsorientiert und nicht mit Widerstand reagieren, hilft es, im Vorfeld einen konkreten Plan auszuarbeiten. In einigen Teilen der Medizin, die in Hochstresssituationen arbeiten wie die Notaufnahmen, hat es sich bewährt, Wenn-dann-Pläne zu entwickeln: Wenn x passiert, dann reagiere ich mit y! Wenn beispielsweise der polytraumatisierte Patient von der Leitstelle angemeldet wird, dann gibt es optimalerweise Checklisten, die Ärztinnen und Ärzte systematisch abarbeiten können. Dieses Wissen, insbesondere, wenn es verschriftlich wurde, kann in der jeweiligen Situation deutlich besser abgerufen werden. Wer hingegen ohne Vorbereitung handelt, ist meist in einem stressbedingten Tunnelblick gefangen und kommt nicht auf die guten Ideen, die weiterhelfen.
Neben der Arbeit an der inneren Bewertung und den Stressoren, ist auch das Thema der Ressourcen wichtig. Dazu zählen Fragen wie: Wie gelingt es, den eigenen Akku regelmäßig aufzuladen? Wie kann man Dinge tun, die einem Spaß machen, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben? Warum sollte man sich überhaupt um diese Themen kümmern? Teils entfalten recht einfache Tipps enorme Wirkung.
Ressourcen stärken mit der Zehn-Minuten-Regel
Die Zehn-Minuten-Regel ist dafür ein gutes Beispiel: Betroffene fangen mit etwas an und geben sich selbst die Erlaubnis, in zehn Minuten wieder aufhören zu dürfen: „Ich starte mit dem Waldlauf und nach zehn Minuten darf ich aufhören, wenn ich will!“ Da das Gehirn keinen Druck mag („Ich müsste eigentlich“), sondern am besten auf eine Erlaubnis reagiert, ist der Widerstand, der uns vom Laufen abhält, deutlich geringer. Und die wenigsten hören wirklich nach zehn Minuten wieder auf.
Dtsch Arztebl 2022; 119(27-28): [2]
Der Autor:
Dr. med. Matthias Weniger
Ärztlicher Leiter
Institut für Stressmedizin Rhein Ruhr
45525 Hattingen