Stress, Druck, Frust: Wie bleibe ich als Arzt oder Ärztin in der Klinik motiviert?

20 April, 2022 - 07:52
Gerti Keller
Expertin im Gespräch: Christiane Fruht
Die Trainerin, Beraterin und Autorin Christiane Fruht arbeitete 16 Jahre als Krankenschwester, zehn davon auf einer herzchirurgischen Intensivstation.

Wer eine neue Stelle antritt, ist hochengagiert. Doch bald kommen Überstunden sowie Bereitschaftsdienste hinzu, und dann wird man auch noch „angepfiffen“. Kommunikationstrainerin Christiane Fruht gibt Tipps, wie die Selbstmotivation im Klinikalltag dennoch erhalten bleibt – vom ersten bis zum letzten Tag.

Statt Willkommensparty gibt es für Neulinge auf Station manchmal nur einen Händedruck im Vorbeigehen, niemand kümmert sich um sie. Wie bleibe ich cool, um die ersten Tage gut zu überstehen?

Christiane Fruht: Davon sollten sich Einsteiger und Einsteigerinnen überhaupt nicht desillusionieren oder verunsichern lassen. Das kann im hektischen Klinikalltag schnell passieren. Bleiben Sie bewusst offen, freundlich und stellen Sie sich mit einer positiven Grundhaltung überall proaktiv vor. Suchen Sie gezielt nach Verbündeten – ob das ärztliche Kolleginen und Kollegen sind oder eine sympathische Mitarbeiterin aus einer anderen Berufsgruppe, wie der Pflege oder dem Funktionsbereich. Das hilft schon ungemein.

Und wenn der Start geschafft ist, wie schaffe ich es dauerhaft, motiviert zu bleiben?

Christiane Fruht: Zur fachlichen Ausbildung gehört meiner Meinung nach auch die Weiterentwicklung der Persönlichkeit. Es gibt einfach zu viele Schmerzpunkte im Klinikalltag. So fühlen sich junge Einsteiger und Einsteigerinnen oft mit einer medizinischen Entscheidung alleingelassen und sind unsicher, ob sie ihre Vorgesetzten dazu rufen sollen oder nicht. Denn wenn sie es tun, werden sie nicht selten dafür angeblafft ... Dafür ist es wichtig, Selbstbewusstsein zu entwickeln – sowie Konflikt- und Kommunikationsfähigkeit zu trainieren, auch zum Beispiel für diese typische Situation: Werden Ärztinnen und Ärzte von der Pflege zu einem Notfall gerufen und kommen nicht sofort, pfeift man sie zusammen. Mit so etwas muss man umgehen können, um nicht mit dem ganzen Team weiterhin Schwierigkeiten zu haben. Darüber hinaus empfehlen sich Kenntnisse in Selbstorganisation und Zeitmanagement, damit die eng getakteten Schichten nicht zu sehr ermüden. Die Arbeit hört schließlich nie auf und Chaos demotiviert sehr. Um solche Fortbildungen muss man sich jedoch leider meist selbst kümmern.

Helfen auch kleine Belohnungen?

Christiane Fruht: Ja, aber das muss nicht der Schokoriegel sein. Ab und an sollten Sie sich bewusst den Luxus gönnen, die Früchte der eigenen Arbeit zu ernten – auch wenn augenscheinlich kaum Zeit dafür da ist. Aber gerade im Stress schaut man nicht mehr nach rechts oder links, sondern spult nur noch die Arbeit ab. Also Scheuklappen runter! Lassen Sie sich stattdessen mal kurz auf Frau Müller ein, die sich gerade von ihrer schweren Herzoperation erholt. Nehmen Sie sich die Minute, damit sie Ihnen erzählen kann, dass sie jetzt doch ihren Geburtstag feiern wird – und baden Sie in ihrer Dankbarkeit. Und auch wenn es pathetisch klingt: Richten Sie immer wieder den Blick aufs große Ganze. Besinnen Sie sich darauf, was Ärztinnen und Ärzte für einen Menschen in Not bedeuten. Auch das hilft, diese Turbulenzen im Alltag auszuhalten und sich immer wieder aufzurichten.

Gibt es Techniken, um das in den Alltag integrieren? 

Christiane Fruht: Eine Technik ist: Reflektieren Sie jedes Mal, wenn Sie den Kittel ausziehen, kurz Ihren Tag. Aber leiten Sie Ihre Gedanken dabei aktiv auf die positiven Dinge: Was war heute gut? Was ist mir gelungen? Welche Untersuchungen habe ich erfolgreich durchgeführt? Welchen Patientinnen und Patienten konnte ich helfen? Und das ganz bewusst, denn die Psyche lenkt uns automatisch auf das, was uns geärgert hat. Gerade in hektischen Phasen sollte man aufpassen, nicht in eine Negativspirale zu rutschen und nur noch das Schlechte zu sehen.

Woran merke ich, dass meine Selbstmotivation ernsthaft nachlässt?

Christiane Fruht: Wenn Sie über Wochen ebenso müde wie gereizt sind und auch keine Lust mehr auf soziale Kontakte außerhalb der Arbeit haben, sind das echte Alarmzeichen. Ebenso Zynismus. Diese Form von Humor erlebe ich in meinen Seminaren ganz oft, gerade bei privaten Trägern, deren Ziel es ist, mit Medizin Geld verdienen. Das sagen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht offen, sondern werden eher zynisch. Für mich ist das ein Ausdruck von Frust und Angst sich nicht äußern zu dürfen. Nimmt das überhand, muss man sich schon fragen: Was ist eigentlich mit mir los? Bin ich noch am richtigen Ort?

Passt die oft benutzte Floskel „Love it, change it or leave it“ in jedem Fall?

Christiane Fruht: Das passt nicht wirklich auf die Medizin. Es ist überhaupt illusorisch zu glauben, dass ich immer alles liebe, was ich machen muss. Oft bringt mir sogar etwas, zum dem ich mich überwinden muss, hinterher die größte Zufriedenheit. Oder freuen Sie sich etwa, wenn Sie ungeplant länger bleiben müssen, weil ein Polytrauma eingeliefert wird? Doch danach, wenn Sie diesen Patienten stabilisieren konnten, sind Sie doch stolz auf sich. Oder wer fiebert wirklich einem Kongress entgegen, um zum ersten Mal im Leben einen Vortrag zu halten? Aber: Je größer die Überwindung, umso stärker die Freude danach. Das gleich gilt für ein klärendes Gespräch im Team oder mit Vorgesetzten. Ich werde meine Überstunden nie lieben oder mein Umfeld, wenn es mir ein kritisches Feedback gibt, aber: All das entwickelt mich trotzdem.

Was sind in Ihren Augen No-Goes?

Christiane Fruht: Viele Ärztinnen und Ärzte klagen über Erschöpfung durch zu viele oder zu lange Dienste. Generell ist wichtig, ob es sich dabei um temporäre Zustände handelt, weil zum Beispiel gerade einige Kolleginnen und Kollegen krank sind. Ich finde, dann kann man das mal aushalten. Werden Sie dagegen dauerhaft überfordert, ist es irgendwann nicht mehr tragbar. Ich habe auch schon erlebt, dass eine junge Ärztin aus der Elternzeit zurückkam und sofort die Notaufnahme übernehmen musste. Da fehlten mir die Worte. Das allerschlimmste für junge Assistenzärztinnen und -ärzte wiederum ist, wenn eigentlich keine Ausbildung stattfindet. Nicht selten sind sie sehr gut und hochmotiviert. Und dann werden sie schnell zu Fleißarbeiten abgestellt, wie eine Station zu managen. Doch damit nutzt man sie nur aus.

Wann ist Zeit zu kündigen?

Christiane Fruht: Bevor Sie sich eine neue Stelle suchen, sollten Sie mindestens einmal dem oder der Verantwortlichen Feedback geben und zwar frühzeitig. Und dann vielleicht noch einen zweiten Warnschuss anschließen. Aber das nicht jammernd und anklagend, sondern lösungsorientiert mit konkreten Vorschlägen. Dabei sehen Sie, ob Ihr Anliegen überhaupt interessiert. Es gibt schließlich immer noch viele „Dinosaurier artig“ führende Chefärzte. Andererseits bekomme ich auch oft mit, dass gerade junge Ärztinnen und Ärzte das Gespräch über ihre Vorstellungen und Ziele gar nicht suchen. Dabei kann sich das wirklich lohnen, manchmal sind die Vorgesetzten regelrecht begeistert.

Gibt es einen ganz pragmatischen Tipp, um die eigene Lage objektiv einzuschätzen?

Christiane Fruht: Man kann sich eine eigene Probezeit von drei Monaten festlegen – und jeden Arbeitstag oder Schicht mit einem Plus, Minus oder Neutral bewerten – und dann je nach Ergebnis entscheiden. Ich würde mir zudem einen neutralen Gesprächspartner suchen, aber nicht im Freundeskreis. Die blasen meist ins eigene Horn, sondern jemand, der mich auch mal fragt: Was war denn gut letzte Woche? Und wenn Sie am Ende doch kündigen, sollten Sie nicht im Groll gehen, sondern mit sich im Reinen sein. Betrachten Sie abschließend, was Ihnen der Einsatz in dieser Klinik oder Abteilung gebracht hat. Auch wenn Sie nicht zufrieden waren, dennoch haben Sie etwas gelernt.

Ihr Rat für den nächsten Job?

Christiane Fruht: Versuchen Sie herauszufiltern, warum es nicht geklappt hat. Es kann ja auch mit Ihnen zu tun gehabt haben, dass es nicht ganz rund lief. Vielleicht war das Haus aber auch die falsche Wahl. Womöglich war Ihnen die große Uniklinik zu unpersönlich? Oder das kleinere Haus zu langweilig? Oder die Kolleginnen und Kollegen zu karriereorientiert und Sie suchen eher ein Miteinander? Oder umgekehrt? Nehmen Sie das als Suchkriterien für den nächsten Job. Hilfreich sind ferner die vielen Netzwerke, um sich im Vorfeld auszutauschen. Wenn man da einen netten Kontakt auftut, kann dieser Ihnen vielleicht auch erzählen „wo der Hase in seiner Klinik langläuft“. Auch haben Sie dann im besten Fall bereits einen Verbündeten für den Einstieg. Und vielleicht kommt ja jemand mit… Ich habe gerade vor kurzem bei einem Coaching von einer fitten jungen Oberärztin erfahren, dass sie das ganze Team in die neue Klinik nachgeholt hat.

Die Expertin:

Die Trainerin, Beraterin und Autorin Christiane Fruht arbeitete 16 Jahre als Krankenschwester, zehn davon auf einer herzchirurgischen Intensivstation. 2004 gründete sie die Fruht-Klinikberatung.de.

Mehr Infos: www.fruht-klinikberatung.de

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