
Junge Ärztinnen und Ärzte müssen bei ihrem Berufseinstieg im Krankenhaus häufig schnell Verantwortung übernehmen. Eine besondere Hürde ist der erste Dienst – manchmal schon nach wenigen Tagen oder Wochen. Kein Wunder, dass diese Situation Stress auslöst. Der Stressmediziner Dr. Matthias Weniger verrät im Interview, wie man damit am besten umgehen kann.
Herr Dr. Weniger, als junger Arzt hatten Sie auch mal einen ersten Dienst. Wie haben Sie das erlebt?
Dr. Matthias Weniger: Bei mir kam der erste Dienst tatsächlich sehr überraschend. Als junger Assistenzarzt nach dem Arzt im Praktikum (AiP) habe ich mir meine Stelle unter anderem auch deshalb ausgesucht, weil ich meine ersten Dienste eigentlich frühestens nach drei Monaten machen sollte. Ich war zwei Tage in dieser Klinik, als zwei Kollegen gleichzeitig krank wurden. Dann hieß es: „Herr Weniger, Sie können sich überlegen, ob Sie heute oder morgen Dienst machen möchten“. Ich hatte also kaum Zeit, um mich darauf vorzubereiten und bin ins richtig kalte Wasser gesprungen. Die Namen der beiden Patienten, die ich in dieser Nacht betreut habe, weiß ich heute noch.
Diese Situation hat bestimmt Stress bei Ihnen ausgelöst. Aus Ihrer heutigen Perspektive als Stressmediziner: Was ist damals in Ihnen vorgegangen?
Dr. Matthias Weniger: In solchen Situationen laufen im Körper die klassischen Stressreaktionen ab: Wenn wir mit bedrohlichen Situationen konfrontiert werden, schaltet sich das Frontalhirn aus und wir kommen in eine Art Tunnelblick. Die typischen Reaktionen sind Angriff, Flucht oder Schockstarre. Der Körper unterscheidet nicht groß, ob ich von einem Kampfhund bedroht werde oder mir der erste Dienst Stress verursacht. Die Reaktionsweise ist immer gleich: Der Sympathikus wird aktiviert, Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol werden ausgeschüttet, Herzfrequenz und Blutdruck steigen an – und ich will jetzt eigentlich aktiv werden. Dabei sind die drei typischen Reaktionen Flucht, Angriff oder Schockstarre beim ersten Dienst ja alle nicht hilfreich: Flucht wäre, zu kündigen, Angriff wäre, auf Patienten einzuschlagen und Schockstarre wäre, sich in der Notaufnahme einfach dazuzulegen – das bringt uns ja in dem Moment alles nicht weiter.
Was wäre denn eine angemessene Reaktion?
Dr. Matthias Weniger: Da gibt es verschiedene Aspekte. Das eine ist die Vorbereitung: Was kann ich im Vorfeld für mich selber tun? Wie bereitet mich vielleicht auch die Klinik auf den ersten Dienst vor? Darüber kann ich beispielsweise mit erfahreneren Ärztinnen und Ärzten sprechen. Aber auch: Was kann ich für mich selbst in einer akuten Stresssituation tun? Natürlich ist es am besten, wenn die Rahmenbedingungen in der Klinik so sind, dass sie mir die notwendige Sicherheit vermitteln. Denn Stress entsteht immer dann, wenn ich das Gefühl habe, mit einer Situation überfordert zu sein. Eine gute Vorbereitung kann vieles reduzieren – allerdings nicht alles.
Wie sieht denn eine gute Vorbereitung auf den ersten Dienst aus?
Dr. Matthias Weniger: Bei vielen Berufen, die unter einem hohen Stresslevel arbeiten – sei es Polizei, Feuerwehr, aber auch gut organisierte Notaufnahmen – gibt es systematische Pläne für Situationen, die vorkommen können. Für den ersten Dienst bedeutet das: Was sind häufige Krankheitsbilder, mit denen ich konfrontiert werden kann? Dann sollte man sich im Vorfeld die notwendigen Schritte notieren, an die man denken muss, und quasi eine Art innere Checkliste erarbeiten. Da sollte ganz konkret und knapp dargestellt sein, was in der jeweiligen Situation zu tun ist. Also: Was tue ich bei einem Patienten mit Herzinfarkt? Das gibt mir Sicherheit, weil ich in dem Moment nicht lange überlegen muss. Denn wenn Ärztinnen oder Ärzte im Stress sind, ist das natürlich auch gefährlich für die Patientinnen und Patienten – Stichwort Tunnelblick.
Woher weiß ich denn, was in welchen Situationen die richtige Reaktion ist – gerade wenn ich noch neu in der Klinik bin?
Dr. Matthias Weniger: Einige gute Kliniken haben so etwas schon vorbereitet, damit der erste Dienst nicht der totale Sprung ins kalte Wasser wird. Aber man kann natürlich auch erfahrene Altassistentinnen und -assistenten fragen, was einen bei den Diensten erwartet und welche Krankheitsbilder häufig vorkommen. Auch die Frage, wann ich den Hintergrund anrufe, sollte man vorab besprechen. Viele scheuen sich da, dem Kollegen oder der Kollegin auf den Keks zu gehen.
Wann sollte man denn den Hintergrund anrufen – eventuell auch mitten in der Nacht?
Dr. Matthias Weniger: Das oberste Kriterium ist die Sicherheit der Patienten. Wenn ich das Gefühl habe, den Patienten nicht mehr gut versorgen zu können, dann muss ich den Hintergrund anrufen. Einfach mal irgendwas ausprobieren, ist da keine gute Methode. Der Hintergrund ist dafür da, mir zu helfen, wenn ich unsicher bin – das gehört zum Beruf und dafür bekommt er oder sie auch Geld. Da sollte man sich nicht scheuen, anzurufen – auch mitten in der Nacht.
Wenn ich schon vor dem ersten Dienst Angst und Unbehagen spüre – kann ich darüber mit meinen Vorgesetzten sprechen?
Dr. Matthias Weniger: Das hängt natürlich von der Kultur der Klinik ab. Grundsätzlich finde ich es legitim und richtig, diese Gefühle im Vorfeld anzusprechen – gerade auch bei den Oberärztinnen und Oberärzten. Denn auch das kann mir in der Situation selbst mehr Sicherheit geben. Kommunikation ist auch hier alles.
Das ist natürlich auch abhängig davon, dass meine Vorgesetzten empathisch und bereit sind, sich auf mich einzulassen. Was mache ich, wenn ich es mit einem waschechten Narzissten zu tun habe?
Dr. Matthias Weniger: Dieses Thema begegnet uns in der Medizin ja leider ziemlich häufig – Narzissten in leitenden Funktionen. Wenn wir uns die Psychopathologie des Narzissten anschauen, ist es ganz häufig so, dass der Narzisst das Gefühl braucht, andere abzuwerten. Das ist natürlich sehr unangenehm. Und logischerweise ist es für diese Menschen ein gefundenes Fressen, wenn man jetzt über seine eigenen Schwächen – wie Angst vor dem ersten Dienst – sprechen will. Dann gibt einem der Narzisst schnell das Gefühl, gar nichts zu können. Und dadurch wird die Angst nur noch größer. Grundsätzlich finde ich, man sollte sich dann auch fragen, ob man in so einer Atmosphäre überhaupt arbeiten möchte.
Zurück zum ersten Dienst: Irgendwann ist die Situation da und trotz aller Vorbereitung merke ich, wie ich feuchte Hände bekomme und mein Puls steigt. Wie kann ich damit am besten umgehen?
Dr. Matthias Weniger: Das Allerwichtigste ist, zu realisieren, dass das normal ist und dazu gehört. Natürlich wollen wir solche Empfindungen am liebsten nicht wahrhaben – dadurch erhöhen wir den Druck aber zusätzlich. Wenn man sich das bewusstmacht, merkt man im nächsten Schritt auch, dass man in dieser Situation nicht optimal kommunizieren kann. Da sind wir wieder bei Angriff, Flucht oder Schockstarre. Das bedeutet: In Stresssituationen werde ich laut und zynisch und greife an – und behandle beispielsweise erfahrene Pflegekräfte von oben herab. Oder man entschuldigt sich für viele Kleinigkeiten und versucht, irgendwie aus der Situation rauszukommen – das wäre dann eher die Flucht. Wenn ich mir bewusstmache, dass so etwas kommen kann, kann ich besser reflektieren und gegensteuern.
Wenn man in so einer Stresssituation zuerst die Pflegekräfte anfährt, trifft es natürlich die vollkommen Falschen. Worauf sollte man hier achten?
Dr. Matthias Weniger: Hier ist Vorbereitung und Nachbereitung wichtig. Man sollte sich schon vor dem ersten Dienst bemühen, ein gutes Beziehungskonto mit den Kolleginnen und Kollegen in der Pflege aufzubauen. Dazu gehört auch, schon im Vorfeld darüber zu sprechen, dass die Zeit mit den ersten Diensten stressig wird. Dann haben Pflegende in der Regel Verständnis und können einen auch sehr unterstützen. Außerdem sollte man auch nach so einer Situation mit den Leuten sprechen, sich reflektieren und eventuell entschuldigen. Auch bei Notarzt-Einsätzen ist der Ton manchmal rau, weil alle unter Druck arbeiten und es auf jede Sekunde ankommt. Aber es ist wichtig, dass man das danach nicht so stehen lässt, sondern sich darüber nochmal austauscht.
Was kann dabei helfen, das Stresslevel akut zu senken?
Dr. Matthias Weniger: Ich kann beispielsweise nochmal auf meine Checkliste gucken oder mich für ein paar Minuten rausziehen. Hilfreich sind auch Atemtechniken wie die 2+1 – 4-Methode. Das funktioniert so: Ich atme ein, bis meine Lunge gut gefüllt ist. Dann setze ich nochmal einen Extra-Atemzug oben drauf. Und dann atme ich sehr, sehr lange aus – mit einer Art Seufzen. Also zwei Zeitanteile einatmen, nochmal einen oben drauf, und dann vier Zeitanteile ausatmen. Das reguliert auch die Herzfrequenz nach unten und hat eine tolle Wirkung, den Stress unmittelbar zu senken.
Ein bisschen Stress führt ja auch dazu, dass die eigene Leistungsfähigkeit verbessert wird und man konzentrierter arbeitet. Wann ist Stress hilfreich und wann kippt das ins Schädliche?
Dr. Matthias Weniger: Da gibt es natürlich einen Zusammenhang. Wenn ich keinen Stress habe, ist auch meine Leistungsfähigkeit relativ gering. Bei moderatem Stress erreiche ich die beste Performance. Früher wurde das als „Eustress“ – also guter Stress – bezeichnet. Wenn der Stresspegel weiter steigt, kippt die Leistungsfähigkeit signifikant nach unten. Wenn das chronisch ist, kann man daran erkranken. Wichtig ist, dass man seine eigenen Körperempfindungen gut kennt, damit man gegensteuern kann, wenn das Stresslevel zu hoch wird. Dann können beispielsweise Pausen helfen.
Stichwort „Patientensicherheit“: Gibt es Studien dazu, wie sich der Stresspegel von Ärztinnen und Ärzten darauf auswirkt?
Dr. Matthias Weniger: Vor einigen Jahren gab es in der Kinderchirurgie der Medizinischen Hochschule Hannover eine spannende Studie zu dem Thema. Für die Studie wurde eine laparoskopische OP bei Kindern genommen, die in der Regel drei bis vier Stunden dauert und relativ häufig vorkommt. Anhand dieser OPs haben sie verschiedene Parameter wie die Schnitt-Naht-Zeit, die Komplikationsquote oder die Liegezeit bestimmt. Außerdem hat man die Stressparameter des OP-Teams bestimmt: Herzfrequenz, Herzratenvariabilität, Cortisolspiegel, und man hat die Chirurginnen und Chirurgen einen Fragebogen ausfüllen lassen. Dann hat man die Teams in zwei Gruppen eingeteilt. Eine Gruppe hat einfach ohne Pause durchoperiert, die andere musste nach 25 Minuten eine fünfminütige Pause machen, wenn der Operationsverlauf das erlaubt hat. Dann hat man die beiden Gruppen verglichen. Und das Ergebnis: Die Gruppe, die die Pausen gemacht hat, hatte deutlich weniger Komplikationen, die Liegezeit der Patienten auf der Station war geringer, die Stressparameter waren deutlich besser und das spannendste für mich: Die Schnitt-Naht-Zeit war in beiden Gruppen gleich. Die Operation hat also nicht länger gedauert, obwohl die Teams insgesamt etwa 20 Minuten Pause gemacht haben. Die Pausen haben also deutliche Vorteile, auch wenn sie nicht zum leistungsgeprägten Mind-Set der Chirurgie passen. Bisher hat sich das also noch nicht durchgesetzt.
Der erste Dienst kommt im Leben eines Arztes oder einer Ärztin zum Glück nur einmal. Wie verändert sich der Umgang mit dem Stress mit zunehmender Routine und Berufserfahrung?
Dr. Matthias Weniger: Es gibt da unterschiedliche Phasen. Die erste Phase ist das Gefühl der „berechtigten Inkompetenz“. Das bedeutet, man hat das Gefühl, der Situation nicht gewachsen zu sein. Mit zunehmender Erfahrung kommt die Phase der „unberechtigten Kompetenz“ – dann hat man das Gefühl, schon alles gesehen zu haben und mit der Situation umgehen zu können. Das tritt ungefähr nach dem zweiten oder dritten Weiterbildungsmonat ein. Diese Phase ist gefährlich, weil hier die meisten Fehler passieren – man überschätzt sich und ist zu selbstsicher, obwohl es dafür immer noch keine echte Grundlage gibt. Nach zwei oder drei Jahren im Beruf kommt die dritte Phase, das Gefühl der „berechtigten Kompetenz“. Dann hat man tatsächlich schon viel gesehen und kennt auch seine eigenen Grenzen besser.
Der Experte
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