
Die Medizin ist ein Berufsfeld, das von ständiger Veränderung geprägt ist. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse, technologische Fortschritte und gesundheitspolitische Reformen fordern Ärztinnen und Ärzte immer wieder heraus, ihre Arbeitsweise anzupassen.
Während Ärztinnen und Ärzte täglich mit unerwarteten Herausforderungen umgehen, fällt es ihnen oft schwer, Veränderungen auf systemischer Ebene zu akzeptieren. Doch warum ist das so? Und wie kann man sich als Ärztin oder Arzt bestmöglich auf Wandel einstellen, ohne dabei ins Hintertreffen zu geraten?
Ärztlicher Alltag lässt wenig Raum für Anpassung
Der ärztliche Alltag ist fordernd – hohe Arbeitslast, lange Schichten und die Verantwortung für Menschenleben lassen wenig Raum für Anpassung. Eine neue digitale Patientenakte oder ein geändertes Abrechnungssystem mag auf dem Papier nach Fortschritt klingen, doch in der Realität bedeutet es zunächst Mehrbelastung. Die Einführung neuer Prozesse kostet Zeit und braucht zusätzliche Energie, die oft schlicht nicht vorhanden ist. Hinzu kommt, dass viele Veränderungen nicht aus der Praxis kommen, sondern durch Regularien und politische Entscheidungen von außen vorgegeben werden. Wer schon unter hohem Druck arbeitet, nimmt solche Veränderungen oft als zusätzliche Einschränkung wahr – und nicht als Erleichterung.
Zudem ist die Medizin eine Disziplin, die auf Tradition und Erfahrung basiert. Bewährte Methoden über Jahrzehnte anzuwenden, schafft Sicherheit und Vertrauen. Diese Stabilität sorgt für eine hohe Behandlungsqualität, aber sie führt auch dazu, dass notwendige Innovationen mit Skepsis betrachtet werden. Wenn man über Jahre gelernt hat, immer auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln, kann der Wechsel zu etwas Neuem zunächst Widerstand auslösen, selbst wenn der Nutzen langfristig offensichtlich ist.
Change-Kurve: Es braucht Zeit, sich anzupassen
Jede größere Veränderung im Arbeitsalltag, sei es die Einführung einer neuen Software oder eine strukturelle Umstellung wie die Schließung eines Krankenhauses, löst eine emotionale Reaktion aus. Die sogenannte Change-Kurve, die Elisabeth Kübler-Ross ursprünglich zur Beschreibung von Trauerprozessen entwickelt hatte, hilft zu verstehen, warum es Zeit braucht, sich an neue Gegebenheiten anzupassen. Zunächst kommt der Schock, gefolgt von Ablehnung. Dann folgt die Phase der Verhandlung, in der man versucht, den Wandel zu umgehen oder für sich zu entschärfen. Erst nach einer gewissen Zeit tritt Akzeptanz ein. Man merkt, dass man mit der neuen Situation arbeiten kann, vielleicht sogar Vorteile entdeckt.
Ein klassisches Beispiel ist die Einführung der digitalen Patientenakte. Anfangs stößt sie auf Widerstand: Die Software ist ungewohnt, die Eingabe dauert länger, Fehler häufen sich. Doch mit zunehmender Routine fällt die Umstellung leichter und mit der Zeit erkennt man, dass es eine Erleichterung sein kann, Patientendaten schneller und strukturierter abrufen zu können. Diese Phasen des Widerstands sind normal. Entscheidend ist, dass man sich bewusst macht: Veränderungen fühlen sich anfangs oft negativ an. Doch das bedeutet nicht, dass sie schlecht sind.
Entscheidend ist die innere Haltung
Ob Veränderungen als Belastung oder als Chance gesehen werden, hängt stark von der inneren Haltung ab. Die Psychologin Carol Dweck beschreibt zwei grundlegende Denkweisen, die auch für Ärztinnen und Ärzte relevant sind:
- Das sogenannte Fixed Mindset geht davon aus, dass Fähigkeiten und Wissen statisch sind, man kann wenig daran ändern. Wer so denkt, sieht Veränderungen als Bedrohung: „Ich kann mit dieser neuen Technik nicht arbeiten. Das ist nicht meine Art zu dokumentieren.“
- Das sogenanntes Growth Mindset hingegen erkennt, dass Lernen ein lebenslanger Prozess ist. Wer so denkt, sieht Veränderungen nicht als Gefahr, sondern als Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln. Ein Growth Mindset bedeutet nicht, jede Neuerung blind zu akzeptieren. Es bedeutet, sich selbst die Chance zu geben, mit Veränderungen umgehen zu lernen, statt sich durch sie eingeschränkt zu fühlen.
Strategien für den Umgang mit Wandel
Veränderungen zu akzeptieren ist das eine. Aber wie kann man aktiv damit umgehen, ohne sich von ihnen überfordert zu fühlen? Eine bewährte Methode ist das sogenannte Reframing: Statt eine Neuerung nur als Belastung zu sehen, fragt man sich, welchen langfristigen Nutzen sie bringt. Was auf den ersten Blick als Zeitfresser erscheint, kann sich später als Erleichterung entpuppen.
Hilfreich ist auch die 72-Stunden-Regel: Statt eine Veränderung erst einmal wochenlang skeptisch zu beobachten, ist es oft besser, innerhalb der ersten drei Tage aktiv zu werden. Das kann bedeuten, eine Schulung zur neuen Software zu besuchen, mit Kolleginnen und Kollegen über Lösungen zu sprechen oder sich bewusst Zeit zu nehmen, um die neuen Abläufe zu verstehen. Der erste Schritt fällt oft schwer, aber er erleichtert den gesamten Anpassungsprozess.
Und schließlich hilft es auch, den eigenen Handlungsspielraum bewusst wahrzunehmen. In Veränderungsprozessen fühlt man sich schnell als Spielball externer Entscheidungen. Doch oft kann man auch aktiv mitgestalten – sei es durch konstruktives Feedback an die Klinikleitung oder den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen über alternative Lösungen. Wer seinen eigenen Einflussbereich erkennt, der nimmt Veränderungen weniger als Fremdbestimmung wahr und kann selbstbewusster mit ihnen umgehen.
Wer offen bleibt, wird profitieren
Die Medizin wird sich immer weiterentwickeln – das ist eine der wenigen Konstanten in diesem Beruf. Ärztinnen und Ärzte müssen sich nicht nur auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch auf strukturelle Veränderungen einstellen. Das fällt nicht immer leicht, besonders dann, wenn man Neuerungen zunächst als zusätzliche Belastung empfindet.
Veränderung bedeutet nicht automatisch Verschlechterung. Entscheidend ist die Haltung, mit der man ihr begegnet. Wer offen bleibt, den Nutzen erkennt und aktiv nach Lösungen sucht, wird Wandel nicht nur besser bewältigen, sondern langfristig davon profitieren. Denn Resilienz in der Medizin bedeutet nicht nur, in schwierigen Zeiten durchzuhalten – sondern auch, sich aktiv weiterzuentwickeln.
Dtsch Arztebl 2025; 122(9): [2]
Der Autor:
Dr. med. Matthias Weniger
Ärztlicher Leiter
Institut für Stressmedizin Rhein Ruhr
45525 Hattingen