Shared Decision Making: Therapieentscheidungen gemeinsam treffen

9 Januar, 2022 - 06:46
Stefanie Hanke
Ärztin und Patientin im Gespräch

Wer entscheidet eigentlich, welche Behandlungsmethode die beste ist? Und welche Rolle spielen die persönlichen Lebensumstände eines Patienten oder einer Patientin dabei? Die Methode „Shared Decision Making“ (SDM) soll dafür sorgen, dass Ärztinnen und Ärzte zusammen mit ihren Patientinnen und Patienten über eine Therapie entscheiden – gemeinsam und auf Augenhöhe.

Patientinnen und Patienten wünschen sich von einer ärztlichen Behandlung vor allem eines: Eine möglichst schnelle Genesung und Linderung ihrer Beschwerden. Doch häufig gibt es mehrere Therapiemethoden, die bei einer Erkrankung gleichermaßen in Frage kommen. Was passiert dann? Und welche Möglichkeit wird am Ende umgesetzt? „Die beste Therapie ist die, für die sich die Patientinnen und Patienten aktiv entschieden haben“, erklärt Prof. Dr. Friedemann Geiger den Hintergrund von SDM. Der Psychologe leitet das Nationale Kompetenzzentrum Shared Decision Making in Kiel und hat die Methode am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) eingeführt.

Wer an einer Therapieentscheidung beteiligt werde, arbeite besser mit, erreiche bessere Heilungserfolge und benötige weniger medizinische Nachsorge. „Wir konnten zeigen, dass Patienten dadurch beispielsweise seltener in den Notaufnahmen auftauchen, nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen wurden“, verrät Geiger.

Was ist Shared Decision Making (SDM)?

Shared Decision Making ist eine Form der medizinischen Entscheidungsfindung, bei der eine Kommunikation auf Augenhöhe im Mittelpunkt steht. Speziell, wenn verschiedene Therapieoptionen zur Verfügung stehen, entscheiden Ärztinnen und Ärzte gemeinsam mit ihren Patientinnen und Patienten. „Die Ärzte sind natürlich die Experten dafür, was medizinisch möglich und sinnvoll ist. Aber auch die Patienten sind Experten, nämlich was ihre persönlichen Vorlieben und Lebensumstände betrifft. SDM bringt diese beiden Aspekte zusammen, um auf dieser Grundlage gemeinsam fundierte Entscheidungen treffen zu können“, erklärt Geiger.

Das heißt: Es geht vor allem um die Kommunikation. Ärztinnen und Ärzte müssen sich eine neue Form der Gesprächsführung aneignen, wenn es um Therapieentscheidungen geht. Um diese Methode zu lernen, wurde am UKSH ein spezielles Ärztetraining eingeführt. Die Ärztinnen und Ärzte lernen die Grundlagen zunächst virtuell per Online-Schulung. Im Anschluss zeichnen sie ein echtes Patientengespräch auf Video auf und analysieren es gemeinsam mit speziell ausgebildeten SDM-Trainerinnen und -Trainern. Danach zeichnen sie ein zweites Gespräch auf und bekommen auch dazu Feedback. Zwei Durchgänge reichen in der Regel, um die neue Form der Gesprächsführung zu verinnerlichen.

In sechs Schritten zu einer gemeinsamen Therapieentscheidung

Und wie sieht so ein Gespräch aus? Wichtig sind sechs Schritte, die das Kompetenzzentrum auch auf ein Kärtchen für die Kitteltasche (pdf zum Download) gedruckt hat:

  1. Gesprächsziel definieren: Wichtig ist, dass schon zu Beginn des Gesprächs klar wird, dass es um eine Therapieentscheidung geht. Mögliche Formulierung: „Heute geht es darum, gemeinsam über das weitere Vorgehen zu entscheiden. In Ihrer Situation gibt es mehrere medizinisch sinnvolle Möglichkeiten. Jede davon hat Vor- und Nachteile.“
  2. Patientenbeteiligung begründen: Der Patient / die Patientin soll dazu angeregt werden, sich aktiv an der Entscheidung zu beteiligen. Mögliche Formulierung: „Daher ist Ihre Einschätzung wichtig, welche dieser Möglichkeiten in Ihrer Lebenssituation am besten passt.“
  3. Vor- und Nachteile jeder Therapieoption erläutern: Die möglichen Therapien sollen sachlich erklärt werden, ohne den Patienten / die Patientin in eine bestimmte Richtung zu drängen. Mögliche Formulierung: „Es gibt im Grunde die drei Möglichkeiten A, B und C. Ich erkläre Ihnen jetzt nacheinander die jeweiligen Vor- und Nachteile. Fangen wir mit A an…“
  4. Erwartungen und Bedenken des Patienten / der Patientin explorieren: Nach der Erläuterung der Vor- und Nachteile der einzelnen Methoden aus medizinischer Sicht geht es jetzt um die Lebenssituation des Patienten / der Patientin. Denn: Welche Methode im Einzelfall am besten passt, hat nicht nur mit der medizinischen Indikation zu tun. Mögliche Formulierung: „Gibt es für Sie persönlich noch andere wichtige Punkte, die bei der Entscheidung bedacht werden sollten?“
  5. Entscheidung treffen: Auf der Grundlage der Informationen aus Punkt 3 und 4 kann nun eine Entscheidung getroffen werden. Das muss jedoch nicht sofort passieren: Eventuell braucht der Patient / die Patientin noch Zeit, um sich Gedanken zu machen oder sich mit Angehörigen zu besprechen. Mögliche Formulierung: „Neigen Sie schon jetzt zu einer der besprochenen Möglichkeiten? Oder was brauchen Sie noch, um eine Entscheidung treffen zu können?“
  6. Umsetzung planen: Auf der Grundlage der Entscheidung kann der Arzt oder die Ärztin nun die Therapie planen, Medikamente verschreiben oder eine Überweisung ausstellen. Mögliche Formulierung: „Ich schreibe Ihnen eine Überweisung und in vier Wochen sehen wir uns wieder. Wir können dann kontrollieren, ob die Blutwerte sich normalisiert haben.“

Programm „Share to care“ für Kliniken

Zum Programm „Share to care“, mit denen Kliniken SDM einführen können, gehört neben dem Ärztetraining aber noch mehr: So gibt es für die Patientinnen und Patienten Online-Entscheidungshilfen zu verschiedenen Krankheitsbildern. In Videos erklären Ärztinnen und Ärzte die Therapien sowie die jeweiligen Vor- und Nachteile auf Basis der neuesten Studien zum Thema. Ergänzend berichten andere Betroffene von ihren Erfahrungen. So können Patientinnen und Patienten sich eigenständig informieren – aber nicht bei Dr. Google, sondern bei echten Ärztinnen und Ärzten, die sie im Idealfall schon aus dem Krankenhaus kennen. „Wir haben für das UKSH Videos mit dem ärztlichen Personal hier vor Ort gedreht. Das schafft Vertrauen und hilft den Ärztinnen und Ärzten, Zeit zu sparen. So müssen sie beispielsweise nicht jedem Patienten individuell erklären, was eine Bandscheibe ist und was bei einem Bandscheibenvorfall passiert. Die Zeit im Patientengespräch können sie danach besser nutzen, um auf individuelle Fragen und Bedürfnisse einzugehen“, erklärt Geiger.

Außerdem werden für „Share to care“ Pflegekräfte zum Decision Coach weitergebildet. Als Entscheidungshelfer unterstützen sie die Patientinnen und Patienten dabei, die Informationen aus den Videos zu verstehen und Fragen und Wünsche/Präferenzen zu formulieren. So gehen diese bestens vorbereitet ins nächste Arztgespräch.

Und ein viertes Element von „Share to care“: Mit Plakaten und Postkarten, aber auch mit Videos beispielsweise im Wartezimmer, werden die Patientinnen und Patienten dazu angehalten, sich aktiv in das Arztgespräch einzubringen. Das gelingt vor allem über drei Fragen:

  1. Welche Möglichkeiten habe ich (inklusive Abwarten und Beobachten)?
  2. Was sind die Vorteile und Nachteile jeder dieser Möglichkeiten?
  3. Wie wahrscheinlich ist es, dass diese Vorteile und Nachteile bei mir auftreten?

„Wichtig ist, dass die Patientinnen und Patienten nicht nur aufnehmen, was der Arzt oder die Ärztin ihnen erzählt. Um auf Augenhöhe miteinander zu sprechen und gemeinsam zu entscheiden, ist eine aktive Haltung wichtig“, betont Geiger.

Shared Decision Making: Modell für die bundesweite Versorgung?

Seit das Kompetenzzentrum SDM 2018 am UKSH die Arbeit aufgenommen hat, wurde SDM in 18 von insgesamt 22 Abteilungen eingeführt. Für die Ärztinnen und Ärzte ist das sogar mit einer Zeitersparnis verbunden – immerhin müssen sie durch die digitalen Entscheidungshilfen nicht ständig die Grundlagen erklären. „Für das Training muss man natürlich erstmal etwas Zeit investieren“, erklärt Geiger, „aber danach geht es schneller.“ Das sei so ähnlich wie 10-Finger-Tippen auf der Tastatur – wer sich einmal die Zeit genommen habe, das richtig zu lernen, wolle hinterher nicht mehr zu anderen Methoden zurück. Da die Evaluation in Kiel gezeigt hat, dass “Share to care“ die Versorgungskosten senkt und gleichzeitig die Patientensicherheit erhöht, unterstützt die Techniker Krankenkasse SDM am UKSH. Da die Kliniken SDM bei Versicherten dieser Kasse abrechnen können, kann das Kompetenzzentrum weiterarbeiten – obwohl das Projekt 2021 eigentlich ausgelaufen ist. Die Klinik spart gleichzeitig Geld, weil SDM die Gesundheitskompetenz und Therapietreue verbessert und weniger Komplikationen auftreten.

Doch nicht nur für Kliniken, auch im ambulanten Bereich ist SDM auf dem Vormarsch. In Bremen ist die Methode beispielsweise in der hausärztlichen Versorgung angekommen. Schon 2018 wurde SDM formal als flächendeckende Standardmethode in der Vereinbarung zur Hausarztzentrierten Versorgung aufgenommen, seit 2019 wird das Konzept umgesetzt. Auch mehrere Krankenkassen beteiligen sich an der Umstellung. Praxen im Bereich der KV Bremen, die SDM anwenden, können das bei diesen Kassen abrechnen.

Aktuell entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), ob SDM bundesweit in die Regelversorgung übergehen kann. Eine Entscheidung wird in den kommenden Monaten erwartet. Für Geiger wäre das ein Gewinn für alle: die Kliniken, die Ärztinnen und Ärzte und die Patientinnen und Patienten.

Der Experte

Prof. Dr. Dipl. Psych. Friedemann Geiger

Prof. Dr. Dipl. Psych. Friedemann Geiger ist Leiter des Nationalen Kompetenzzentrums Shared Decision Making am Uniklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) in Kiel. Der international anerkannte Experte für Arzt-Patienten-Kommunikation ist schon seit vielen Jahren in Forschung und Praxis tätig. Der Psychoonkologe mit Schwerpunkt Kinderonkologie lehrt als Professor für Psychologische Diagnostik an der Medical School Hamburg.

Bild: © Jan Konitzky / W & B / Jan Konitzky

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