
In immer mehr Kliniken und Praxen sind Videosprechstunden oder Telekonsile möglich. Aber funktioniert das auch in allen medizinischen Bereichen? Was die Vor- und Nachteile oder auch Risiken einer Videosprechstunde in der Psychotherapie sind, erklären wir im Beitrag.
Die Digitalisierung macht's möglich: In den vergangenen Jahren haben sich in der Arzt-Patienten-Beziehung ganz neue Formen entwickelt. Beschleunigt durch die Zeit der Corona-Pandemie gilt heute: Telekonsile und Videosprechstunden sind heute in vielen Bereichen Alltag. Auch der Erstkontakt zu einer Psychotherapeutin oder einem -therapeuten findet heute häufig per Videocall statt.
Aber ist gerade in der Psychotherapie nicht der zwischenmenschliche, direkte Kontakt besonders wichtig? Zumindest gibt es das Vorurteil, dass psychotherapeutische Sitzungen – anders als Arzt-Patienten-Kontakte in anderen Fachgebieten noch ewig in Präsenz stattfinden werden. Dass das so nicht stimmt, erklärte Dr. Ulrich Kastner, Chefarzt für Psychiatrie und Psychotherapie bei den Bezirkskliniken Mittelfranken, in seinem Vortrag beim Operation Karriere-Event in München am 9. November 2024.
Vorteile einer Videotherapie
Denn eine Videotherapie hat viele Vorteile:
- Vergleichbare Ergebnisse: Eine videogestützte Therapie erzielt vergleichbare oder sogar bessere Ergebnisse als eine Präsenztherapie, vor allem bei der kognitiven Verhaltenstherapie.
- Negative Übertragungen im direkten Kontakt reduzieren sich, was zu einem schnelleren Therapiefortschritt führt.
- Weniger Ängste, Scham oder Abwehrreaktionen gegen die Therapie durch das vertraute Umfeld
- Sichtbare Körpersprache reicht meistens aus
- Überregionale Verfügbarkeit ist ein Vorteil, besonders im ländlichen Raum
- Neue Gruppen bekommen Zugang zur Therapie (Patientinnen und Patienten mit PTBS oder dissoziativen Störungen, Mütter mit kleinen Kindern, pflegende Angehörige, fehlende Mobilität, Gehörlosenpsychiatrie/-psychotherapie)
Herausforderungen einer Videotherapie
Doch bei allen Vorteilen: Die Videotherapie hat auch einige Nachteile, die berücksichtigt werden sollten:
- Fehlende persönliche Begegnung
- Anderes emotionales Wahrnehmen
- Beschränkte non-verbale Interaktion
- Fehlende Gestaltung des Kontakts (Getränk, Ruhe, Musik)
- Umgang mit Schweigen? Notfallmanagement?
- Störfaktoren (Haustiere, Klingel, Kinder)
- Reduzierter Blickkontakt durch Technik
- Fehlende körperliche Untersuchung
Besonders andere therapeutische Techniken neben dem Gespräch, wie beispielsweise Kreativtherapien, Kunsttherapie, Rollenspiele, Hypnose, Biofeedback oder Flipchart-Arbeit, können online nur sehr schwer oder gar nicht umgesetzt werden, gibt Kastner zu. Die Effektstärke dieser Techniken und Therapien sei jedoch nicht eindeutig. „Speziell bei einer Gruppentherapie kommt man aber digital doch an seine Grenzen", erklärte der Psychiater.
Risiken: Privatsphäre und Datenschutz
Zu den Risiken einer Videotherapie gehört auch, dass Patientinnen und Patienten während einer Sitzung beispielsweise Alkohol oder Drogen konsumieren können, ohne dass das auffällt. Und: Der Therapeut oder die Therapeutin bekommt Zugang zum intimen Lebensumfeld – wie bei einem unaufgeforderten Hausbesuch. Um die Intimsphäre zu wahren, sollten die Patientinnen und Patienten möglichst immer im gleichen Raum und in der gleichen Position sitzen, riet Kastner. Außerdem kann es zu Datenschutzverletzungen kommen, wenn sich während der Therapie auch andere Personen im Raum aufhalten oder die Patientinnen und Patienten das Gespräch heimlich aufzeichnen.
Für die Psychotherapie per Videosprechstunde ist also vor allem viel Vertrauen nötig, auf beiden Seiten. Für Kastner überwiegen aber die Vorteile. Viele Patientinnen und Patienten, aber auch Ärztinnen und Ärzte wünschen sich diese Option schon jetzt, in Zukunft wird die Nachfrage voraussichtlich noch wachsen.
Der Experte:
Quelle: Vortrag „Videosprechstunde – aber doch nicht in der Psychotherapie?! Virtuelle Arzt-Patienten-Kontakte“, Dr. Ulrich Kastner, Chefarzt, Bezirkskliniken Mittelfranken, Operation Karriere München 2024