Von der Zaubershow zur Tanzmedizin: Die Hausärztin Dr. Cindy Keller

24 April, 2025 - 08:11
Gerti Keller
Cindy Keller schwebend beim Zaubertrick von Julius Frack
Dr. Cindy Keller assistierte viele Jahre lang dem Magier Julius Frack.

Eine ungewöhnliche Medizinerinnen-Biografie: Dr. Cindy Keller ist Hausärztin, Balletttänzerin und war jahrelang Assistentin des bekannten Magiers Julius Frack. Berühmt wurde ihre „schwebende Jungfrau“. Heute engagiert sie sich als Dozentin für Tanzmedizin. Im Interview berichtet sie von ihren Erfahrungen.

Frau Dr. Keller, schon während des Medizinstudiums führten Sie ein spannendes Doppelleben…

Dr. Cindy Keller: Ich wurde mit 24 Jahren die Assistentin des Zauberkünstlers Julius Frack. Wie kam es dazu? Ich tanze seit meiner Kindheit Ballett, nicht selten auch Hauptrollen. Beim Medizinstudium in Tübingen unterrichtete ich dann die klassische Tanzdisziplin im Hochschulsport, um etwas dazuzuverdienen. Julius hatte einen Auftritt bei unserer Hochschulsportgala, wir trafen uns bei den Proben. Als er mich tanzen sah, fragte er mich, ob ich Lust hätte, mit ihm zusammenzuarbeiten. Es wurden zwölf Jahre.

Was haben Sie in der Zeit erlebt?

Dr. Cindy Keller: Wir sind durch dick und dünn gegangen, entwickelten die Tricks oft gemeinsam und traten weltweit auf, in ganz Europa, aber auch in Kolumbien, Indien oder Japan. Highlight war 2009 in Peking, wo Julius die Weltmeisterschaft in der Sparte Großillusion gewann. Das gelang uns dort unter anderem mit der "Schwebenden Jungfrau". Das war insofern etwas völlig Neues, weil ich nicht nur in der Luft schwebte, sondern Julius sogar durch mich durchging. Leider brach ich mir dabei einen Zeh.

Und… selbst verarztet?

Dr. Cindy Keller: Ja, aber nicht sofort. Ich war während des laufenden Auftritts backstage in voller Fahrt gestürzt, ging aber sofort wieder auf der Bühne – Adrenalin sei Dank. Die Nummer dauerte nur noch eine Minute, erst dann kam der Schmerz richtig durch. Ich machte ein Tape drum und konnte noch zur Siegerehrung humpeln.

Wie ließen sich die Shows mit Studium und Assistenzarztzeit vereinbaren?

Dr. Cindy Keller: Im Studium konnte ich mir es einigermaßen einteilen, damals standen noch nicht ganz so viele Reisen an. Das änderte sich aber in meiner Assistenzarztzeit, die ich im Diakonie-Klinikum Stuttgart in Vollzeit absolvierte. Mein Glück war, dass man damals nach einer Woche Nachtdienst eine Woche frei hatte, so ließ sich das gut planen. Ich hatte auch super Kollegen, die mit mir tauschten, wenn doch kurzfristig ein Auftritt reinkam.

Was hat Sie an der „magischen Zeit“ am meisten begeistert?

Dr. Cindy Keller: Mir gefielen vor allem die verschiedenen Menschen, mit denen ich zusammenkam, die Künstlermentalität, die Offenheit und die vielen Ideen, die mir entgegen sprudelten. Während der Show war für mich immer der schönste Augenblick, wenn der Funke auf das Publikum übersprang. Es ist ein magisches Gefühl, Menschen für eine kurze Zeit in eine andere Welt zu entführen und zum Staunen zu bringen.

Heute sind Sie Hausärztin in Waiblingen … aber nicht nur, oder?

Dr. Cindy Keller: Ja, ich praktiziere in Teilzeit, sonst würde ich mein Pensum gar nicht schaffen. Meine alte Liebe gehört nach wie vor dem Ballett – hier engagiere ich mich seit Jahren für die Tanzmedizin. Diese spezielle Sportmedizin will die Gesundheit der Tanzenden fördern und ihnen eine politische Stimme geben. Denn im Gegensatz etwa zu Fußballern haben sie nur ganz selten spezialisierte physiotherapeutische und ärztliche Teams, die ihnen zur Seite stehen, inklusive Ernährungsberatung. Wenn Tanzende ein Problem haben und in eine orthopädische Praxis gehen, wird oft gesagt „dann nimm das Bein nicht so hoch“ oder „lass das Tanzen sein“. Das ist für einen Profi keine gute Antwort. Es sind Hochleistungsathletinnen und -athleten, die Kunst, sowie physische und mentale Höchstleistung miteinander verbinden, und so müssen wir sie behandeln und ein Bewusstsein für ihre Bedürfnisse schaffen.

Wie engagieren Sie sich?

Dr. Cindy Keller: Seit 2008 bin ich Dozentin für Angewandte Anatomie und Tanzmedizin bei der staatlich anerkannten Akademie Minkov. Die Studierenden lernen dort über drei Jahre Tanzpädagogik und Bühnentanz. On top können sie das tanzmedizinische Zertifikat von ta.med, Tanzmedizin e.V., erwerben. In diesem Kurs fokussieren wir uns sehr anwendungsbezogen auf den Bewegungsapparat. Ich bespreche zum Beispiel das Hüftgelenk, was die Außenrotation für die Beinachse bedeutet und welche Muskeln man gezielt trainieren muss, damit die Knie nicht leiden. Weiteres Thema ist die Kindesentwicklung. So ist es beispielsweise wichtig zu wissen, in welchem Alter man gerade bei ambitionierten Kids keine Maximalbewegung fordern sollte. Zudem biete ich über die hausärztliche Praxis tanzmedizinische Beratungen als Privatleistung an. Da kommen auch Amateure.

Was haben Tänzerinnen und Tänzer für spezielle Problemzonen? 

Dr. Cindy Keller: Das ist je nach Sparte unterschiedlich. Meist ist die untere Extremität betroffen, oft das Sprunggelenk. Distorsionen sind relativ häufig, weil diese Gruppe hypermobil ist, was mit einer gewissen Instabilität einhergeht. Auch können die immer wiederkehrenden Bewegungen zu Überlastungsschäden führen. Ebenso kommen Knieverletzungen, Hüftimpingements oder frühzeitige Arthrose vor. Die meisten Verletzungen stellen sich aber nicht als so gravierend dar, typisch sind Muskelfaserrisse.

Wie kann man dem vorbeugen?

Dr. Cindy Keller: Es müsste generell mehr Know-how in die Ausbildung einfließen. Vieles kann durch die richtige Tanztechnik verhindert werden, etwa indem auf ein korrektes Alignment der Beinachse geachtet wird. Das gilt auch für das Training mit Hobby-Tänzern. Was brauche ich zum Beispiel bei einem Knick-Senkfuß? Wer mit Tanzenden arbeitet, sollte generell wissen, wie man ein Warm-up vorbereitet, die Gelenke schont und was von jedem individuellen Körper verlangt werden kann. Nicht wenige Tanzstudios haben zudem leider Betonboden, was bei der besten Technik irgendwann Spuren hinterlässt.

Ihr Wunsch?

Dr. Cindy Keller: Als erstes würden wir die Tanzmedizin gern fest in die Theater integrieren, um die Profis zu unterstützen. Letztlich kann das Tanzen aber der ganzen Bevölkerung guttun. Tanz steckt evolutionär im Menschen drin, es bringt einfach Freude. Alle bewegen sich gerne zu Musik, wobei die Leute oft gar nicht merken, dass sie gerade Fitness machen. Ein großer Wunsch wäre daher auch, dass die Kassen das Tanzen in ihre Präventionsprogramme aufnehmen. Es kann die allgemeine Entwicklung von Kindern hervorragend fördern, aber auch bei Adipositas oder ADHS helfen. Das gilt ebenso für Senioren, zum Beispiel um Menschen mit Arthrose oder Parkinson gezielt zu unterstützen. Gerade bei der alternden Bevölkerung sehe ich da ein riesiges Potenzial. Leider fällt die Tanzmedizin jedoch immer durch alle Raster, ob Sport, Medizin oder Kultur. Alle sagen, ihr seid doch von der anderen Sparte.

Tanzen Sie noch Ballett?

Dr. Cindy Keller: Zweimal die Woche. Es ist mein Fitnesstraining – auch immer noch Spitzentanz. Das ist für die Technik sehr gut, weil man sich noch mal mehr hochziehen und anspannen muss. Das bringt richtig viel Kraft für die Beine. Im Moment gibt es übrigens ein spannendes Projekt: eine neuartige Konstruktion eines 3D-gedruckten Spitzenschuhs, bei dessen Entwicklung auch das Fraunhofer-Institut beteiligt war. Da war ich in der Testphase involviert. Ich hoffe, dass diese Innovation die Ballettwelt dahingehend ändern wird, dass es nicht mehr ganz so schädlich für die Füße ist. 

Außerdem sind Sie noch Faszientherapeutin und Osteopathin. Das sind sehr körperbetonte Ansätze. Wird in der Medizin darauf zu wenig geachtet?

Dr. Cindy Keller: Ehrlich gesagt: ja. Wir Menschen leben doch davon, dass wir uns gegenseitig berühren – und auch den medizinischen Beruf über unsere Sinne ausüben. Gerade angesichts der KI müssen wir aufpassen, dass die Ärzteschaft nicht eine große Kompetenz verliert, falls wir den Nachwuchs nicht mehr in der Wahrnehmung schulen. Schon wenn ein Patient reinkommt, erfasse ich mit allen Sinnen, wie er aussieht, was er für eine Farbe im Gesicht hat, ob er aufgeregt ist. Das wird uns auch sehr gedankt, denn die Patientinnen und Patienten bekommen das mit. Und dabei werden eben auch die Finger und die Augen geschult. Je öfter ich Hand anlege und prüfe, wie fühlt sich das an, desto besser kann ich zu einer individuellen Lösung kommen. Die Menschen sind so verschieden, es gibt eine sehr große Bandbreite von Befunden, die vielleicht noch gar nicht pathologisch sind, sondern einfach nur besonders.

Gibt es aktuelle Ideen?

Dr. Cindy Keller: Ich möchte für ärztliche Kolleginnen und Kollegen einen tanzmedizinischen Qualitätszirkel ins Leben rufen, in dem wir uns austauschen und Fälle besprechen können. Herzlich eingeladen sind alle, die sich fürs Thema begeistern oder Lust haben, reinzuschnuppern. Es lohnt sich, denn es ist total befriedigend, mit Tanzenden zusammenzuarbeiten. Sie sind schon anspruchsvoll, brauchen immer sehr schnell eine Lösung, aber es sind Menschen, die Ratschläge dankbar annehmen. Wenn ich denen empfehle, eine bestimmte Übung dreimal am Tag auszuführen, dann klappt das auch – was in der Hausarzt-Praxis beileibe nicht bei allen der Fall ist.

Die Expertin:

Dr. Cindy Keller

Dr. Cindy Keller arbeitet als Fachärztin für Allgemeinmedizin in einer Praxis in Waiblingen. Sie ist Osteopathin, zertifizierte Faszientherapeutin nach Laban, Biofeedback- und Neurofeedbacktrainerin und in Manueller Medizin weitergebildet.

Von 2008 bis 2020 war sie Assistentin des Großillusionisten Julius Frack. Als Dozentin für Angewandte Anatomie und Tanzmedizin unterrichtet sie bei der Tanz Akademie Minkov und engagiert sich ehrenamtlich im gemeinnützigen Verein für Tanzmedizin (ta.med e.V.).

Kontakt: cindy.keller@tanzmedizin.com

Bild: © privat

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