Weniger Stress und mehr Resilienz? So klappt’s

5 August, 2024 - 06:54
Stefanie Hanke
Junge gestresste Ärztin

Ärztinnen und Ärzte haben oft mit Stress zu tun: Ob in ihrem eigenen Arbeitsalltag oder wenn sie Patientinnen und Patienten mit stressbedingten Symptomen behandeln. Der Stressmediziner Dr. Matthias Weniger will mit seinem Buch „Das Stress-Inventar“ dabei helfen, den Dauerstress systematisch zu bewältigen.

Stress betrifft die meisten Menschen: Ärztinnen und Ärzte mit dem hohen ökonomischen Druck, dem Personalmangel, Hadern mit der Gesundheitspolitik und oft einem eng getakteten Zeitplan – aber auch Menschen aus anderen Berufen und Lebenssituationen. Dazu kommen Themen wie Zukunftsangst und eine Welt, die sich immer schneller verändert. All das kann Stress auslösen – und zwar nicht nur bei Ärztinnen und Ärzten, sondern auch bei Patientinnen und Patienten, die dann mit unklaren, stressbezogenen Symptomen in den Arztpraxen auftauchen.

Um gestressten Menschen einige hilfreiche Werkzeuge an die Hand zu geben, hat der Stressmediziner Dr. Matthias Weniger das Buch „Das Stress-Inventar“ geschrieben. Auf knapp 120 Seiten gibt es viele Hintergründe zum Thema Stress und jede Menge Tipps, wie sich das Stresslevel reduzieren und die Resilienz steigern lässt. Das Buch lässt sich leicht lesen – allerdings ist es damit nicht getan: Wer wirklich etwas ändern möchte, muss im Anschluss die Tipps im eigenen Leben umsetzen – und das erfordert schon einigen Aufwand.

Die Stressgleichung

Um zu erklären, wie sich Stress zusammensetzt, nutzt Weniger in seinem Buch eine Stressgleichung:

Stressoren x Innere Bewertung / Ressourcen = Stress

Dabei stehen Stressoren für belastende Faktoren und die Innere Bewertung für den persönlichen Umgang mit diesen Stressoren. Wer sich also über einen Stressor wie z.B. einen Stau oder eine verspätete Bahn sehr ärgert, empfindet auch stärkeren Stress als jemand, der in der gleichen Situation gelassen bleibt.

Bei der Inneren Bewertung von stressigen Situationen hilft auch die Frage danach, was man selbst überhaupt beeinflussen kann: In manchen Situationen kann man tatsächlich etwas tun, um die Lage zu verändern – bei anderen Dingen ist man selbst machtlos und kann nur etwas an seiner eigenen Einschätzung verändern.

Außerdem wird das Stressgefühl auch durch die Ressourcen beeinflusst, auf die man in stressigen Situationen zurückgreifen kann. Das können beispielsweise gute Beziehungen zu Freunden oder der Familie sein, aber auch Hobbys, Sport oder eine gesunde Ernährung.

Den Stress inventarisieren

Um diese Erkenntnisse zur Bekämpfung von individuellem Stress nutzen zu können, rät Weniger zunächst, sich die konkreten Stressoren genau anzusehen und zu strukturieren: Stresst mich der Beruf? Was genau daran? Oder eher meine private Situation?

Im nächsten Schritt kann man die Stressoren im Detail betrachten: Was ist eine große Belastung und was eher unwichtig? Und wo hilft vielleicht ein Perspektivwechsel, die Situation objektiver einzuschätzen? Und: Was kann ich selbst beeinflussen und was nicht? Weniger unterscheidet in seinem Buch zwischen „Problemen“, auf die man selbst Einfluss hat, und „Einschränkungen“, die man selbst nicht ändern kann.

Ein Problem kann beispielsweise ein anstrengender Job sein: Den könnte man zwar jederzeit kündigen, allerdings würden sich daraus andere Stressoren (z.B. Arbeitslosigkeit, Jobsuche, finanzielle Einbußen) ergeben – ob sich das lohnt, ist eine Frage, die jeder für sich selbst abwägen muss. Einschränkungen können beispielsweise die wirtschaftliche Lage, politische Vorgaben oder auch die Digitalisierung sein. Hier kann niemand grundsätzlich etwas verändern – allerdings lässt sich der Stress mit einer veränderten Haltung und mehr Akzeptanz dem Zustand gegenüber reduzieren.

Um sich auf potenziell stressige Situationen vorzubereiten, empfiehlt Weniger „Wenn-Dann-Pläne“ – angelehnt an die Planentscheidungen, die es beispielsweise in der Notfallmedizin gibt: Wer eine Situation schon mal im Kopf durchspielt und sich eine passende Reaktion zurechtlegt, hat es später in der konkreten Situation leichter.

Resilienz entwickeln und Ressourcen stärken

Unter Resilienz versteht man in der Psychologie die Widerstandsfähigkeit gegen Stress. In stressigen Situationen hilft es hier, kurz innezuhalten, Optionen zu bedenken und auf die Umsetzbarkeit zu prüfen, und sich hinterher im Rückblick zu freuen, wenn die Situation überstanden ist und alles funktioniert hat. Und obwohl ein Teil der Resilienz angeboren ist, lässt sich diese Fähigkeit auch trainieren: Dabei helfen gesunde Ernährung, Bewegung, ein freundlicher Umgang mit sich selbst und ein aktives Sozialleben – aber ebenso die Vorstellung, dass das eigene Tun sinnvoll ist.

Es sind ganz ähnliche Bausteine, die auch das eigene Energie-Level wieder auffüllen können – Stichwort: Ressourcen stärken. Denn wer immer am Limit ist, ist dabei anfälliger für Stress. Wer dagegen gut für sich selbst sorgt und den Ressourcen-Akku möglichst voll hält, kann damit grundsätzlich besser umgehen. Bei den Ressourcen geht es laut Weniger hauptsächlich um Dinge, die einem gut tun und Freude machen. Auch hier schlägt der Stressmediziner in seinem Buch ein systematisches Vorgehen vor: Erst aufschreiben, was man aktuell schon Gutes für sich tut, was man in der Vergangenheit getan, aber aufgegeben hat und was man für neue Ideen hat. Speziell bei den ehemaligen Energiequellen und den neuen Ideen gebe es Potenzial für Aktivitäten, die zu Ressourcen im Umgang mit Stress werden könnten.

Und wie steht es um die eigene Resilienz im Umgang mit Stress? Das kann jeder mit dem Buch „Das Stress-Inventar“ selbst herausfinden: Den Abschluss bildet der ISM-Resilienz-Test des Instituts für Stressmedizin Rhein Ruhr, bei dem Weniger Geschäftsführer ist. Wer selbst an einem entspannteren Umgang mit Stress arbeiten möchte, findet hier viele wertvolle Ansatzpunkte für ein ganz persönliches Stress-Inventar.

Interview mit Dr. Matthias Weniger, Autor von „Das Stress-Inventar“

Ärztinnen und Ärzte klagen häufig über Stress. Wie nehmen Sie als Stressmediziner das wahr?

Dr. Matthias Weniger: Ich sehe in den Seminaren, die ich für Ärztinnen und Ärzte gebe, dass der Stress von Jahr zu Jahr zunimmt. Viele sind fix und fertig. Das finde ich erschreckend. Denn anders als früher ist Stress inzwischen häufig ein Dauerzustand – ausgelöst durch den Personalmangel, den ständigen Zeitdruck, ein Hadern mit der Gesundheitspolitik und das Gefühl, dass die BWLer inzwischen das Ruder übernommen haben. Betroffen sind alle Generationen – gerade auch die jungen Kolleginnen und Kollegen, die gerade am Anfang ihrer ärztlichen Karriere stehen. Im Alltag geht es häufig nur darum, sich irgendwie durchzubeißen – der Leidensdruck wird immer größer. Systematische Veränderungen, durch die sich die Situation grundsätzlich verändern könnte, gibt es nur ganz selten.

Wie sieht es auf der Seite der Patientinnen und Patienten aus?

Dr. Matthias Weniger: Patientinnen und Patienten kommen immer häufiger mit Stresssymptomen zum Arzt. Das sind häufig funktionelle Beschwerden wie Unwohlsein, Schlafstörungen, Verdauungsprobleme, Rückenschmerzen oder Antriebslosigkeit – das ist meistens noch nicht pathologisch. Ärztinnen und Ärzte sind häufig immer noch mit einem sehr biologisch-medizinischen Blick unterwegs und schicken die Betroffenen dann ohne Diagnose nach Hause. Aber das hilft ihnen ja nicht, frühzeitig etwas zu ändern und Stress zu reduzieren.

Wie kann die Stressmedizin da konkret helfen?

Dr. Matthias Weniger: Mit der Stressmedizin können wir erklären, wie die Symptome entstehen: Beispielsweise durch zu viele Stresshormone im Körper. Das hilft den Betroffenen, ein Verständnis für ihre Beschwerden und die Ursachen zu entwickeln. Das führt weiter als gute Ratschläge wie „Kümmern Sie sich mal gut um sich selbst und treten Sie ein bisschen kürzer“. Aber die bekommen sie natürlich vom Arzt relativ oft, weil den Kolleginnen und Kollegen häufig auch das Verständnis für die Zusammenhänge fehlt. Außerdem stecken sie ja selbst tief im Stress und können das Thema gar nicht wirklich objektiv betrachten.

Wie ist das Buch „Das Stress-Inventar“ entstanden?

Dr. Matthias Weniger: Das Instrument „Stress-Inventar“ habe ich vor etwa zehn Jahren entwickelt und nach und nach immer weiter verbessert. Ich werde ja immer wieder gefragt, was tatsächlich hilft, um aus dem Stress rauszukommen. In den Seminaren haben etwa 80 Prozent der Teilnehmenden gesagt, dass ihnen das Stress-Inventar am meisten geholfen hat, tatsächlich etwas zu ändern. Deshalb wollte ich diese Werkzeuge mit dem Buch auch einer größeren Gruppe an Leserinnen und Lesern zur Verfügung stellen. Ich habe ganz bewusst ein pragmatisches, dünnes Buch geschrieben. Wer sowieso schon gestresst ist, liest ja nicht noch einen dicken Schinken.

Wie hilft das Buch gestressten Menschen?

Dr. Matthias Weniger: Was bei Stress häufig eine Lösung verhindert, ist der Tunnelblick, der durch unsere Stress-Physiologie entsteht. Bei Stress ist man sehr fokussiert und denkt nicht lange über strategische Lösungen nach – das muss man bewusst üben. Wer in einer ruhigen Minute versucht, Stressfaktoren zu strukturieren, hat viel bessere Chancen, dass das auch wirklich funktioniert. Das Stress-Inventar soll dabei helfen: Wer diese Methode verinnerlicht, kann auch später in einer stressigen Situation anders reagieren und zum Beispiel versuchen, die Situation anders zu bewerten und gelassener zu bleiben.

Wie kann man denn lernen, die Stressoren anders einzuschätzen?

Dr. Matthias Weniger: Wichtig ist dabei natürlich: Üben, üben, üben. Man kann das nicht lernen, indem man einfach nur das Buch liest. Man sollte das schon strukturierter anpacken: Helfen kann beispielsweise eine regelmäßige Reflektion am Morgen oder am Abend: Dass man sich bewusst überlegt, was den Tag über gut geklappt hat und wo man sich noch verbessern kann. Wer es schafft, eine gelassenere Grundhaltung im Alltag zu etablieren, hat auch eine Chance, seine Stressoren anders zu bewerten und anders mit ihnen umzugehen.

Aber auch das kostet wieder Zeit. Für wie realistisch halten Sie es denn, dass sich die gestressten Menschen wirklich die Zeit nehmen, die dafür nötig ist?

Dr. Matthias Weniger: Das ist ja immer eine Frage der Prioritäten. Viele Menschen wissen ja, was ihnen guttut: Eine Freundin anrufen, mit dem Kumpel Sport treiben oder mal einen Spaziergang im Wald machen. Und am Ende landet man doch wieder auf der Couch oder beschäftigt sich mit dem Handy. Aber schnelle Ratschläge helfen da häufig nicht. Um sich um sich selbst kümmern zu können, braucht man ja auch zumindest noch etwas Rest-Energie – und wer 80 Stunden die Woche arbeitet, hat das eben nicht mehr. Da hilft es auch, sich für den Anfang nicht zu viel vorzunehmen, sondern realistisch zu bleiben, was tatsächlich umsetzbar ist.

25.04.2025, Direktion Bereitschaftspolizei
Hünfeld
25.04.2025, Hausarzt Praxis
Nördlich EF

Wie können Ärztinnen und Ärzte gestressten Patientinnen und Patienten effektiv helfen?

Dr. Matthias Weniger: Ich glaube nicht, dass das in einem 2-Minuten-Gespräch überhaupt möglich ist. Wichtig ist, Zeit in eine gute Arzt-Patienten-Beziehung zu investieren und Vertrauen aufzubauen – gerade im hausärztlichen Bereich. In 15 Minuten kann man aber schon relativ viel rüberbringen – und später kann man auch in einem kürzeren Gespräch wieder darauf Bezug nehmen. Wenn im Alltag dafür die Zeit fehlt, sollte man den Patientinnen und Patienten trotzdem mit Empathie und Einfühlungsvermögen begegnen: Also beispielsweise darauf hinweisen, dass die Symptome vermutlich auf Stress zurückzuführen sind. Man sollte dem Patienten oder der Patientin wertschätzend mitteilen, dass man sie ernst nimmt und dass es Lösungsansätze gibt – dass sie aber auch selbst in der Verantwortung stehen, diese Ansätze umzusetzen.

Viel Stress entsteht ja auch, weil Menschen sich Sorgen über Dinge machen, die passieren könnten: Sei es beruflich, politisch oder persönlich. Wie kann man damit gut umgehen?

Dr. Matthias Weniger: Viele der Ereignisse, um die wir uns sorgen, treten ja realistisch nie ein – auch wenn diese Gedanken immer wieder auftauchen. Ein psychologischer Tipp ist, sich mit diesen Gedanken in einer ruhigen Minute analytisch zu beschäftigen. Dazu gehören Fragen wie „Was ist das Schlimmste, was passieren kann?“ und „Wie realistisch ist das eigentlich?“. Wenn man das mal systematisch betrachtet, merkt man auch, dass viele Sorgen unbegründet sind. Außerdem kann man auf dieser Grundlage auch Notfallpläne entwickeln, nach denen man im Ernstfall reagieren kann. Auch das kann man üben: Die ganze kognitive Verhaltenstherapie baut ja darauf auf, dass man lernt, solche ungesunden Denkmuster zu hinterfragen und zu durchbrechen. Das ist möglich, aber es geht natürlich nicht von heute auf morgen und auch nicht ohne einen gewissen Aufwand.

Der Experte

Dr. med. Matthias Weniger

Dr. med. Matthias Weniger ist Facharzt für Allgemeinmedizin, ausgebildeter Psychotherapeut und Stressmediziner. Als Geschäftsführer des Instituts für Stressmedizin Rhein Ruhr berät er mit seinem Team Unternehmen und deren Mitarbeitende zum Thema Resilienzstärkung. Daneben behandelt er in seiner Privatpraxis Patientinnen und Patienten, die unter Stress und Burnout leiden.

Kontakt: matthias.weniger@ism-rhein-ruhr.de
Website: www.ism-rhein-ruhr.de

Bild: © ISM

Buchtipp

Das Stress-Inventar

Dr. med. Matthias Weniger
Das Stress-Inventar: Wie Sie Schritt für Schritt Ihren Stress bewältigen und Ihre Resilienz erhöhen
© Jaronverlag 2023, 120 Seiten, Taschenbuch
ISBN: 978-3-89773-626-9
Preis: 14,00 Euro

Bild: © Jaronverlag

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