Wie es im Alltag gelingt, eigene Haltungen erfolgreich zu steuern

24 Juni, 2025 - 07:10
Thomas Röhrßen
Illustration mit einer Sanduhr, einer Zielscheibe mit Pfeilen und einer Checkliste

Der Klinikalltag ist geprägt von kritischen Situationen. Ob Ärztinnen und Ärzte diese souverän bewältigen, hängt vom eigenen inneren Zustand ab. Immer wieder trifft das Gehirn schnelle und automatische Bewertungen. Dann folgen intuitive Reaktionen mit eingespielten Gewohnheiten, die nicht immer hilfreich sind.

Alle kennen das: Mitten im Alltagsgeschäft beobachtet man etwas, das irritiert. Oder es rauscht eine Nachricht hinein, die beunruhigt. Auch der Körper reagiert alarmiert. Plötzlich und ganz automatisch entstehen Gedankenspiralen: „Was soll das?“ „Wo führt das bloß hin?“ „Das hat Konsequenzen.“ „Was macht er da gerade wieder?“ „Sie muss doch endlich mal …, aber sie tut es einfach nicht.“

Das limbische System reagiert in 0,3 Sekunden mit automatischen Bewertungen und Impulsen auf einen Reiz. Diese automatischen und untergründigen Bewertungen steuern Menschen subtil; sie sind Betroffenen selbst oft nicht bewusst. Manchmal lösen sie innere und äußere Konsequenzen wie Emotionen, Körperempfindungen und Verhaltensweisen aus, die nicht immer förderlich sind, um eine Situation erfolgreich zu bewältigen.

07.07.2025, Landkreis Birkenfeld
Idar-Oberstein
07.07.2025, Palliative-Care-Team
Stuttgart

Unter der Lupe: kritische Schlüsselsituationen

Im Selbstmanagement nimmt man eine kritische Schlüsselsituation genau unter die Lupe. Man tritt aus dem intuitiven Strom von Reiz und Reaktion aus, holt die automatischen Gedanken und Bewertungsprozesse in den Fokus der Aufmerksamkeit, exploriert diese mit den ihnen zugrunde liegenden Erwartungen, Ärgernissen und Befürchtungen sowie den tieferliegenden Einstellungen und Glaubenssätzen, die das Leben prägen. Besonders hilfreich ist es, diese Bewertungen sprachlich auszuformulieren, möglichst ungeschminkt und ohne Selbstzensur, denn sie sind für den eigenen Zustand verantwortlich.

Dort setzt der eigentliche Selbstmanagementprozess an. Die eigenen Bewertungen und Einstellungen werden systematisch hinterfragt. Diese Methode nennt man Disputation. Hilfreich sind zum Beispiel folgende Schlüsselfragen:

  • Sind meine Gedanken und Bewertungen hilfreich oder bringen Sie mich nur in einen kritischen emotionalen Zustand? Erkenne ich die Gefahr dieser Gedanken?
  • Sind die Gedanken und Bewertungen logisch, richtig und wahrscheinlich? Gibt es andere Sichtweisen?
  • Beschreibe ich die Situation mit stimmigen Begriffen oder neige ich zu Verallgemeinerungen und Übertreibungen? Wie kann ich die Situation differenziert beschreiben, sodass eine konstruktive Auseinandersetzung möglich ist?
  • Wenn ich Menschen beschreibe, gebe ich ihnen nur ein pauschales oder moralisches Etikett oder setze ich mich vertieft mit dem Menschen und dem Wieso, Weshalb und Warum seines Verhaltens auseinander?
  • Wie komme ich zu einer differenzierten Wahrnehmung, die für mein Denken und Handeln förderlich ist?

Disputation: Entwicklung von Neubewertungen

Im nächsten Schritt entstehen aus der Disputation über das Werkzeug der Sprache förderliche Neubewertungen. An einem Praxisbeispiel lässt sich dieser Prozess veranschaulichen: Der Chefarzt einer Klinik ist mit einem Assistenzarzt konfrontiert, der wiederholt fachliche Fehler begangen hat. Am Vortag hat er im Bereitschaftsdienst erneut einen gravierenden Fehler begangen. Der Chefarzt hält seine ersten automatischen Gedanken fest:

  • „Mich nervt diese Inkompetenz.“ Das pauschale Etikett der gefährlichen Inkompetenz befördert erhebliche negative Emotionen und Befindlichkeiten, die wenig hilfreich sind. Er versucht eine Neubewertung, die Ursachen und Hintergründe für die Defizite näher beschreiben:
  • „Der Assistent ist seit anderthalb Jahren in der Klinik. Er wirkt oft zerstreut und unkonzentriert, arbeitet unstrukturiert. Er nimmt die fachlichen Impulse der Oberärzte nicht richtig auf. Manchmal bemüht er sich, aber das reicht nicht.“ Kaum sind diese Neubewertungen innerlich ausgesprochen, kommen weitere Gedankenketten:
  • „Bei allem Verständnis, das geht so nicht weiter. Ich muss ihn jetzt einmal richtig konfrontieren, damit er merkt, dass er sich endlich ändern muss!“ Der Chefarzt merkt wieder, wie ihn diese Gedanken in einen Zustand hoher Aggressivität „triggern“.

Oft verbirgt sich hinter Aggressivität eher eine Ohnmacht. Denn betrachtet man die Sache genau, ist bei erheblichen fachlichen Defiziten keine schnelle Änderung möglich. Der Chefarzt hinterfragt, ob seine Erwartungen an eine Änderung realistisch sind. Er kommt zu einer ernüchternden Bewertung:

  • „Mit großer Wahrscheinlichkeit wird der Assistenzarzt auch unter Druck seine fachlichen Defizite und Arbeitsweisen nicht kurzfristig ändern. Nach Kritik war er zwar betroffen, zeigte aber keine Lernkurve.“ Die Gedankenspiralen gehen weiter:
  • „Wenn ich alles akzeptiere, komme ich auch nicht weiter. Er ruiniert meine Klinik. Aber in der gegenwärtigen Personalsituation kann ich mich nicht von ihm trennen. Dann bricht meine Klinik personell zusammen.“ Das sieht nach einer Denkfalle aus. Einerseits könnte die Klinik aufgrund des riskanten Arbeitsverhaltens einen Imageschaden erleiden. Andererseits ist der Chefarzt personell auf den Assistenzarzt angewiesen. Er beschreibt das Risiko in einem Katastrophenszenario. Hier sind kognitive Neubewertungen erforderlich, die ihn aus dem Katastrophendenken herausholen und Lösungsansätze generieren. Dies gelingt mit folgenden Neubewertungen:
  • „Es ist keine Katastrophe und kein Aus für die Klinik. Nennen wir es eine anspruchsvolle Herausforderung. Wenn ich das Risiko vermeiden möchte, müsste ich mich von ihm trennen. Das geht vermutlich nur, wenn er einsichtig ist. Da ich ihn nicht für geeignet halte, werde ich auf eine einvernehmliche Trennung hinarbeiten. Seine Defizite und Arbeitsweise sind riskant und können einen Imageschaden bedeuten. Ich bin bereit, dieses Risiko zu tragen, aber ich möchte es reduzieren. Ich werde ihn aus dem Bereitschaftsdienst nehmen, auch wenn das den Druck für die anderen erhöht. Das halte ich aus.“

Mit Neubewertungen zu realitätsnahem Denken

Sprachliche Neubewertungen fördern eine realistischere, differenziertere und flexiblere Situations-, Fremd- und Selbstsicht. Dabei heißt realitätsnahes Denken nicht positives Denken oder Schönfärberei. Über die Selbstmanagementübung entsteht vielmehr eine geklärte Sicht auf die Dinge, eine innere Beruhigung und die Souveränität, mit einer konkreten Ziel- und Lösungsorientierung zu handeln.

Dtsch Arztebl 2025; 122(13): [2]

Der Autor:

Thomas Röhrßen
Dipl.-Psychologe
Managementcoach und Unternehmensberater
roehrssen consult GmbH
49074 Osnabrück

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