Mitarbeiterführung: Je größer der Druck, desto wichtiger ein klarer Kopf

7 Dezember, 2021 - 07:58
Dipl.-Psych. Gabriele Schuster
Grafik: Ärzte setzen Puzzle / Kopf-Symbol zusammen

Im Leben einer jeden Führungskraft kommt eine Zeit, in der das eigene Team in Schwierigkeiten kommt. Dann fällt das Handeln leichter, wenn man weiß, dass Führung unter Druck einen funktionierenden Kopf und Klarheit im Tun braucht.

Vor einigen Wochen traf ich Dr. Anneliese Hase auf dem Flur einer Klinik, als ich gerade auf dem Weg in die Verwaltung der Klinik war. Ich kannte sie seit Jahren als erfahrene, entspannte chirurgische Chefärztin. Statt der üblichen Erwiderung meines Grußes sah sie mich an, als wäre mir die Frisur verrutscht. Auf dem Rückweg ging ich an ihrem Büro vorbei, klopfte, streckte den Kopf durch die Tür und fand eine Frau Doktor vor, die in sich zusammengesunken vor einer Tasse Kaffee saß und trotz des Rauchverbots im Hause an einer Zigarette zog. Ich fragte vorsichtig, ob alles ok sei. „Nichts ist ok, Frau Schuster!“

Ein schwerer Fehler im Schockraum

Vorsichtig setzte ich mich ihr gegenüber, sie hatte Tränen in den Augen. Das Team hatte gerade im Schockraum einen Fehler gemacht, der dazu führte, dass ein junger Patient fast verstorben wäre. Das Team konnte die Situation gerade noch retten, doch war noch nicht sicher, ob er durch den Fehler einen Hirnschaden davongetragen habe. „Ich bin völlig durch, ich habe das Debriefing grade noch durchgehalten, ohne mir anmerken zu lassen, wie fertig ich bin“, sagte sie. Alle Kollegen seien bereits wieder an ihrem Arbeitsplatz. Leider hätten sie nach den Anforderungen der Corona-Zeit keine psychischen Reserven mehr. Dr. Hase befürchtete, dass viele nun kündigen würden – und der Aufsichtsrat ihr den Kopf abreißen würde.

Wenn Teams in Schwierigkeiten stecken, hilft es, wenn Führungskräfte handlungsfähig sind. Um einen ersten Schritt zu gehen, fragte ich Dr. Hase, wie sie es geschafft habe, das Debriefing durchzuhalten. „Na ja, mein Vater meinte, mit einem geraden Rücken und einem guten Jackett steht man alles durch. Mann, der würde mir jetzt ganz schön was erzählen.“ Auf meine Frage, was ihr Vater ihr denn jetzt erzählen würde, meinte sie: „Jetzt hör auf hier zu sitzen und zu jammern, Anneliese! Du bist Chefin, also reiß Dich zusammen und tu, was notwendig ist. Jammern kannst Du später.“

Funktionierender Kopf, Klarheit im Tun

So stand also die Klärung der nächsten Schritte an. Auf meine Frage, wie sie weitermachen wolle, meinte sie nach einem drei Minuten langen Schweigen, sie sollte wohl losgehen und ihr Team wieder einsammeln. Dr. Huber habe es am schlimmsten erwischt, der arme Kerl hänge völlig durch. Silke vom Steri gehe es auch nicht gut, sie habe eines der Siebe nicht schnell genug gefunden. Und dann wolle sie mit Dr. Müller reden, der gerade mit den Angehörigen spreche. Die nächsten Minuten verbrachten wir damit, die konkreten Schritte zu klären und aufzuschreiben, damit wir nichts vergessen.

Je größer die Krise, desto wichtiger ist die Klarheit im Kopf der Führungskraft. Bevor Dr. Hase startete, um ihre To-do-Liste abzuarbeiten, fragte ich sie daher, wie es denn nun in ihrem Kopf aussehe. Sie meinte, dass sie sich etwas aufgeräumter fühle, aber sie immer noch sehr besorgt sei, wie schlimm die Folgen dieser Sache für alle werden könnten. Ich bat sie, ihre Sorgen während der Gespräche auf den Stationen zur Seite zu legen. Führung unter Druck braucht einen funktionierenden Kopf und Klarheit im Tun. Mitarbeitende merken, wie es der Chefin geht. Gerade in schwierigen Situationen ist es wichtig, zu verstehen, dass Führung auch bedeutet, eine Rolle einzunehmen. Zwischen dem Menschen und der eingenommenen Rolle darf es eine Distanz geben.

Dr. Hase nahm sich vor, den Pausenknopf für ihre Panik zu drücken und sich klarzumachen, dass sie alles im Griff habe. Um ihre Sorgen könne sie sich später kümmern. Mit dieser Aussage machte sie sich auf den Weg. Dabei lief sie wie eine Führungskraft: mit ruhigem festem Schritt, geradem Rücken und wachen, freundlichen Augen. Sie war präsent, und das war zu merken.

Weg zur versierten Krisenmanagerin

Für Dr. Hase und ihr Team brach eine harte Zeit an. Der Fall beschäftigte die Pressestelle des Klinikums. Das betroffene Team des Schockraums war durch den Vorfall schwer belastet – alle Beteiligten waren persönlich tief betroffen und machten sich Vorwürfe. Die Versicherung verlangte eine Schadensanalyse in Zusammenarbeit mit einem externen Unternehmensberater. Dieser Zeit sah das ganze Team mit Angst entgegen. Die Zahl der Konflikte stieg. Es gab jedoch auch Mitarbeitende, die in dieser Zeit Stärken zeigten, die vorher völlig unbekannt waren.

15.03.2024, Niedersächsische Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung
Lüneburg

Dr. Hase arbeitete in diesen Wochen bis zur Erschöpfung. Sie merkte, dass sie unter Stress zu wenig trank. Also begann sie, ihre Trinkmenge zu protokollieren. Sie achtete darauf, dass sie trotz langer Arbeitstage drei Mal pro Woche zum Sport ging. Ihr Fahrrad fing eine ordentliche Portion Frust, Wut und Angst ab. Sie baute sich eine kleine Gruppe vertrauenswürdiger, fähiger Mitarbeitender auf, die zu ihrer erweiterten Arbeitsfamilie wurde. Die Gruppe tauschte sich eng aus, vertraute sich und korrigierte sich, wenn notwendig. In Gegenwart dieser Gruppe war es ihr möglich, auch mal aus der Führungsrolle auszusteigen und authentisch zu sein.

Harte Aussprache mit dem Aufsichtsrat

Die Schadensanalyse ergab eine Reihe von Verbesserungspotenzialen. In einer harten Aussprache mit dem Aufsichtsrat machte Dr. Hase konkrete Vorschläge, verschiedene Abläufe zu optimieren und sie bot den Widerworten einiger Führungskräfte klar und entspannt Paroli. In dieser Zeit hielt die Chefärztin Kontakt zu allen Beteiligten – den Mitarbeitenden, der betroffenen Familie, der externen Unternehmensberatung und dem Leitungsgremium der Klinik. Auf diese Weise erwies sie sich als kompetente Führungskraft und zugfähige Krisenmanagerin.

Drei Monate später hatte sich die Situation gebessert. Der Zusammenhalt im Team war stärker als zuvor, die Verbesserungsprojekte waren auf dem Weg. Kein Mitarbeitender hatte die Klinik verlassen, ganz im Gegenteil: Freunde von Schwester Silke und Dr. Huber hatten Freibewerbungen geschickt. Ich fragte Dr. Hase, was sie aus dieser harten Zeit mitnehmen werde. Sie meinte: „Mehr Muskulatur in den Beinen, eine bessere Kondition und das klare Wissen, dass man als Führungskraft diejenige ist, die zuletzt heult, und zwar dann, wenn alles wieder gut ist – und keine Minute vorher!“

Dtsch Arztebl 2021; 118(49): [2]

Die Autorin

Dipl. Psych. Gabriele Schuster
Athene Akademie
97072 Würzburg

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