
Das kleine Dorf Wacken in Schleswig-Holstein ist Kult, ein Synonym für das inzwischen größte Heavy-Metal-Festival der Welt. Um die medizinische Versorgung der Party-begeisterten Fans kümmern sich Hunderte ehrenamtliche Mitarbeiter zahlreicher Hilfsorganisationen. So auch Sven Beutel. Der Anästhesist und Notfallmediziner ist regelmäßig beim Wacken-Open-Air (WOA) im Einsatz. Wie es ist, bei dröhnenden Bässen in einer Zelt-Klinik auf dem Acker zu arbeiten, erzählt der 49-Jährige hier.
Herr Beutel, was macht das Wacken-Festival so besonders, dass es Sie immer wieder als Arzt dorthin zieht?
Sven Beutel: Das ist die fantastische Stimmung – im Team der Helfer und bei den Besuchern und Besucherinnen. Die Leute sind extrem entspannt, freundlich und haben Lust zu feiern – im positiven Sinne. Ich war als ehrenamtlicher Arzt schon auf Techo- und Rave-Events wie dem Habitat Festival in Hamburg. Aber so ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl wie in Wacken habe ich bislang nirgendwo erlebt. Dort sind ganz unterschiedliche Menschen unterwegs, von Teenagern bis hin zu Familien, die mit den Großeltern anreisen. Außerdem ist Metal definitiv auch meine Musik. Einer der Wahlsprüche der Wacken-Community lautet: „Endlich wieder ganz normale Menschen." Ich kann da nur zustimmen. (lacht)
Wie macht sich das ausgeprägte Gemeinschaftsgefühl bemerkbar?
Sven Beutel: In der Regel sind die Gäste sehr rücksichtsvoll und hilfsbereit. Wenn zum Beispiel ein Rollstuhlfahrer im Schlamm stecken bleibt, helfen andere sofort, ohne groß zu fragen, und ziehen ihn raus. Oder ein anderes Beispiel: Ein Patient muss abtransportiert werden, aber die Helfer kommen mit dem Fahrzeug nicht durch die Wand aus Zelten. Was passiert? Um Platz zu schaffen, bauen die Leute innerhalb von fünf Minuten ein Zelt ab und genauso schnell wieder auf. In Wacken gehören alle dazu. Wenn wir in unserer Helfer-Kluft über das Festivalgelände laufen, klopft uns alle paar Meter jemand auf die Schulter und sagt: „Danke, dass ihr da seid." Das tut natürlich gut.
Wie sind Sie eigentlich Arzt beim WOA geworden?
Sven Beutel: Schon als Student bin ich mit Freunden aus Greifswald nach Wacken gefahren, später auch mit meiner Frau. Als sie 2012 unser erstes Kind bekam, habe ich keine Karte gekauft, weil ich es unfair fand, ohne sie hinzufahren. Aber meine Frau sagte: „Nein, fahr hin", doch da waren alle Karten längst ausverkauft. Eine Bekannte hat mir dann den Tipp gegeben, mich als Arzt beim Deutschen Roten Kreuz in Kaltenkirchen zu bewerben. Dieser Ortsverband organisiert nämlich den Sanitäts- und Betreuungsdienst für Wacken. Daraufhin habe ich mich online beworben und wurde genommen.
Auf dem weitläufigen Festivalgelände von rund 260 Hektar – was 364 Fußballfeldern entspricht – haben in diesem Jahr rund 85.000 Besucher ihre Zelte aufgeschlagen ...
Sven Beutel: ... ja, Wacken ist während der sieben Festival-Tage inzwischen sozusagen die drittgrößte Stadt in Schleswig-Holstein, nach Kiel und Lübeck.
An verschiedenen Stellen auf den Gelände sind über 500 freiwillige Helfer im Einsatz. Was genau sind Ihre Aufgaben?
Sven Beutel: Am Anfang habe ich wie jeder neue Mediziner vor allem Patientinnen und Patienten an unserem zentralen Behandlungsplatz in der Nähe der Hauptbühne untersucht. Dort wird alles dokumentiert und entschieden, wer bleiben muss oder gehen darf. Inzwischen bin ich ärztlicher Leiter des Sanitätsdienstes und erstelle die Dienstpläne für die Notärzte, koordiniere ihren täglichen Dienst, bin Ansprechpartner für den Rettungsdienst und behandele natürlich auch Patienten. Als ich anfing, waren wir nur fünf Ärzte und Ärztinnen, mit dem größer werdenden Festival wuchs das Ärzteteam enorm. In diesem Jahr waren 36 Kollegen und Kolleginnen im Einsatz. Darunter sind Notärzte, Anästhesisten, Allgemeinmediziner, Chirurgen – und lange Zeit war auch eine Gynäkologin mit auf dem Platz. Dieses Jahr musste ich einige Bewerberinnen und Bewerber enttäuschen, auch welche, die schon öfters dabei waren. Es fiel mir nicht leicht, aber mehrere mussten zu Hause bleiben, weil es zu viele waren.
Wie bereiten Sie und Ihr Team sich auf das Großevent vor?
Sven Beutel: Seit mehreren Jahren schreiben wir an einem Leitfaden, in dem wir die Abläufe dokumentieren und optimieren wollen, um die Neuen besser ins Boot zu holen. Aber es ist schwierig, das zu beschreiben, weil immer wieder etwas anders ist. Wir können nur die Grundzüge darstellen. Zum Glück haben wir viele erfahrene Leute im Team, zum Beispiel ehemalige Sanitäter, die Medizin studiert haben. Die sind seit Jahren in Wacken dabei und kennen die Abläufe, können sich auf Änderungen einstellen. So müssen wir die Patientinnen und Patienten nicht unnötig von A nach B schicken. Wir arbeiten eng mit dem Rettungsdienst zusammen. Dafür haben wir auch ein Online-System, in dem die Kolleginnen und Kollegen sich jederzeit über unsere Auslastung informieren können, um rechtzeitig auf mögliche Transporte vorbereitet zu sein.
Wie lange sind die Notärztinnen und -ärzte täglich im Einsatz?
Sven Beutel: Die Arbeit während des Festivals ist ziemlich intensiv. Normalerweise arbeiten wir in Zwölf-Stunden-Schichten, also in einer Tagesschicht und einer Nachtschicht. Während der Konzerte gibt es außerdem noch eine dritte Schicht erfahrener Notärzte, die zwischen 16 Uhr und 4 Uhr morgens den Bühnenbereich verstärken. Mindestens einer von uns ist immer mit einem Quad auf dem Gelände unterwegs, oft durch Schlamm und Wind. Mit diesem kleinen Fahrzeug kommen wir an Stellen, die für normale Rettungsfahrzeuge unerreichbar sind. Und weil wir das Gelände kennen, wissen wir auch, wie ein Rettungsfahrzeug am schnellsten von A nach B kommt, wenn wir es brauchen.
Warum kommt es an der Bühne auf Erfahrung an?
Sven Beutel: Bei manchen Bands geht es richtig zur Sache. Dann fliegt ein Crowdsurfer nach dem anderen über die Köpfe der Menschen, von der Masse auf Händen getragen, vor die Bühne und wird von der Security aufgefangen, und wenn es Probleme gibt, uns übergeben. Wir checken rasch, ob alles in Ordnung ist, ob jemand Beschwerden hat: Atemprobleme, Asthma, eine Fraktur? Auch Panikattacken sind ein Thema. In diesem Jahr mussten wir zum Beispiel eine Patientin vor der Bühne aus der Menge an einen ruhigeren Ort bringen. Sie hatte gehofft, dass sie es irgendwie schafft. Aber dann sind einfach zu viele Leute auf sie zugestürmt.
Welche Beschwerden treten bei den Festivalgästen häufig auf?
Sven Beutel: Manche medizinischen Probleme hängen vom Wetter ab. Bei Hitze haben viele Leute Kreislaufprobleme und dehydrieren schnell, bei Regen sind Unterkühlungen und Stürze an der Tagesordnung. Und dann gibt es viele Insektenstiche mit teilweise allergischen Reaktionen, Augenentzündungen, kleine Schnittwunden oder Verstauchungen, die beim Feiern oder Campen entstehen. Ein Beispiel: Jemand hackt Holz für ein Lagerfeuer und hackt sich stattdessen in den Fuß. Probleme mit stark alkoholisierten Gästen sind natürlich auch gegenwärtig. Außerdem kommen manche Leute weit weg vom Alltag in der Festival-Atmosphäre auf skurrile Ideen: Beispielsweise wird da ein Brett zwischen zwei Autos montiert, anschließend setzen sich sieben Leute darauf und beide Autos fahren los. Einer oder alle können dabei schnell mal auf den Boden fallen und sich verletzen.
Wie viele Fälle mussten Sie und Ihr Team dieses Jahr bewältigen?
Sven Beutel: In sieben Tagen waren so um die 4.000 Fälle. Das klingt viel, doch da sind auch „nur“ Fäden ziehen und vergessene Tabletten mit dabei. Unser Anspruch ist es, möglichst viele Patientinnen und Patienten direkt vor Ort zu versorgen. Ein Wespenstich kann gekühlt werden, und wenn jemand eine Alkoholvergiftung hat, können ihn wir längere Zeit überwachen. Die schwereren Fälle wie Knochenbrüche oder Herzinfarkte werden in die umliegenden Krankenhäuser in Heide oder Itzehoe transportiert. In der Regel transportieren wir etwa fünf bis zehn Prozent der Patientinnen und Patienten. Das heißt, wir helfen den meisten wieder auf die Beine, damit sie weiterfeiern können.
Wie gut kooperieren die Patientinnen und Patient?
Sven Beutel: Sehr gut. Sie halten sich an unsere Vorgaben und kommen auch brav zur Nachbehandlung, die wir auf den Vormittag legen. Die Leute sind einfach froh, dass sie dank unserer Versorgung auf dem Platz bleiben und die Bands sehen können. Da uns nicht so eine große Auswahl an Arzneimitteln zur Verfügung steht wie in einer Klinik – das DRK kann nur begrenzt einkaufen –, stellen wir auch Rezepte aus, die in der Wacken-Apotheke eingelöst werden können. Das sind Privatrezepte, und die Patientinnen und Patienten müssen die Kosten vorstrecken. Manche sind dann ganz überrascht, das Tabletten mehr als fünf Euro kosten.
Erinnern Sie sich an besonders emotionale Ereignisse?
Sven Beutel: Für mich persönlich sind es vor allem die Fälle, die mit dem Tod zu tun haben. Ich erinnere mich an einen 60-jährigen Mann, der morgens leblos aus seinem Zelt gezogen wurde. Da konnte leider auch keine Reanimation mehr helfen, er war im Schlaf gestorben. Tragischerweise waren seine Kinder bei ihm. Das war herzzerreißend. Solche Momente sind natürlich nicht einfach, aber zum Glück sehr selten, in meiner Zeit bisher zweimal. Doch ich möchte das Bild nicht verfälschen, sonst sind die Fälle in der Regel nicht dramatisch, sondern gut behandelbar.
Wie wird Ihre Arbeit vergütet?
Sven Beutel: Wir bekommen grundsätzlich einen Euro pro Stunde. Einige Kollegen können mehr abrechnen, doch das sind Ausnahmefälle. Meist spenden sie den Betrag dann wieder. Viele sind wie ich Metal-Fans. Die Mischung aus Musik und die Möglichkeit, helfen zu können, ist einfach eine außergewöhnliche Erfahrung und gefühlt Bezahlung genug.
Ich frage mich, ob Sie bei den langen Arbeitstagen Zeit finden, Auftritte und die Atmosphäre zu genießen?
Sven Beutel: Wenn ich dann abends um 20 Uhr Feierabend mache, bleibt dafür nach dem vom DRK gestellten Abendessen etwas Zeit. Oder ich esse wie jeder andere Festivalbesucher etwas an einem Stand. Dann natürlich in Zivil, damit man nicht immer angesprochen wird, was dann angenehmer ist. Man muss halt am nächsten Morgen um 8 Uhr wieder parat stehen. Wer also mit wenig Schlaf auskommen kann, kann auch noch gut Spaß nebenbei haben. Es ist ein bisschen verrückt, weil man gleichzeitig im Dienst ist und die Musik genießen kann. An die Lautstärke bei der Arbeit und nachts gewöhnt man sich, auch wenn es manchmal extrem ist. Ich habe viele meiner Lieblingsbands gesehen, wie Blind Guardian und Helloween, die einfach unvergessliche Auftritte liefern.
Haben Sie auch Gelegenheit, mal mit Musikern ins Gespräch zu kommen?
Sven Beutel: Durch die Arbeit kommt man ein bisschen weiter hinter die Bühne. Das ist ganz nett. Außerdem behandeln wir auch Künstler, die zum Beispiel von den intensiven Auftritten geschundene Füße oder eine Erkältung haben. Interessant ist auch, was die Bands alles so wollen, damit sie ein bisschen fitter werden. Manche fragen nach Vitamin-B12-Spritzen, andere wollen in der Konzertmitte oder in ihrer Konzertpause schnell ein bisschen Sauerstoff inhalieren.
Sind Sie nächstes Jahr wieder in Wacken?
Sven Beutel: Auf jeden Fall. Wie jedes Jahr nehme ich Anfang August Urlaub und bin dann über eine Woche auf dem Holy Ground, wie man so schön sagt.