Alarm: Die Psyche von Klinik-Ärzten und Pflegekräften in Corona-Zeiten

8 Januar, 2021 - 07:13
Gerti Keller
erschöpfter junger Arzt in blauer OP-Kleidung

Impfstoffe sind da, aber noch haben wir einige harte Monate vor uns. Wie steht es um die seelischen Belastungen des medizinischen Personals? Wir sprachen mit Prof. Felix Walcher, Direktor der Klinik für Unfallchirurgie des Universitätsklinikum Magdeburg, Dr. Susanne Heininger, Geschäftsführerin von PSU Akut e.V. und der Psychotherapeutin Martina Westerworth.

„Die psychische Verfassung der Ärzte ist noch kompensiert. Die Schwierigkeit liegt in der eher unklaren Perspektive der Pandemie. Wir können nur vermuten, wo die Reise hingeht“, so schätzt Prof. Felix Walcher, Direktor der Klinik für Unfallchirurgie des Universitätsklinikum Magdeburg, die aktuelle Lage auf den Intensivstationen ein. Das größte Problem sei aktuell die Situation in der Pflege: „Unsere exzellenten Kräfte auf den COVID-Stationen sind extrem belastet – körperlich, seelisch und emotional. Die Medizin läuft seit Jahrzehnten den bekannten Problemen in der Intensivmedizin hinterher. Jetzt werden durch die zusätzlichen Versäumnisse der letzten Monate die Engpässe noch eklatanter und die Versorgungsprobleme gestalten sich umso größer.“

Kollegiale Unterstützung durch Peer Support

Bereits im Frühjahr veröffentlichte die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) einen Empfehlungskatalog, wie die seelische Gesundheit des medizinischen Personals in der Corona-Krise stabilisiert werden kann. Ein Baustein dafür ist Peer Support. Dr. Susanne Heininger, Geschäftsführerin von PSU akut e.V., erläutert dazu: „Hier helfen Kolleg*innen ihren Kolleg*innen auf Augenhöhe. Sie sind in der Lage, schwerwiegende klinische Erfahrungen fachlich nachzuvollziehen. Für diese psychosoziale Unterstützung werden sie durch eine Ausbildung befähigt. So können mögliche pathologische Belastungsverläufe frühzeitig erkannt und bei Bedarf auch eine Weitervermittlung an psychotherapeutische Fachkräfte initiiert werden. Damit wird letztlich auch die Patientensicherheit positiv beeinflusst.“ Um dies strukturiert auf die Beine zu stellen, muss allerdings Geld in die Hand genommen werden, auch für weitere Personalressourcen. Denn all das braucht zusätzliche Zeit.

Getan hat sich seit Monaten allerdings kaum etwas. „Es wird gesehen, dass wir ein Problem haben, aber passiert ist zumindest beim Gros der Häuser nichts“, konstatiert Walcher – und ergänzt empört: „Sehr viele Bereiche werden wichtig genommen, vom Kleinstunternehmer bis zur Autoindustrie. Doch für die im Gesundheitsdienst tätigen Mitarbeiter wurde der Sommer verbummelt ohne konkrete Planungen des weiteren Vorgehens. Dass man auch in der zweiten Welle so wenig wertschätzend mit dem Personal umgeht, die vor Ort diese immense Leistung bringen, hätte ich wirklich nicht gedacht. Die Bundespolitik wie auch die viele anderen Bereiche der Gesundheitsbranche müssen endlich auf diesem Gebiet ihren Aufgaben und Pflichten nachkommen.“

Dringend benötigt: Sichere Ausfallkonzepte

Dabei leiden die Kollegen derzeit am meisten unter fehlenden konkreten Strukturen und einem mangelnden Stufenkonzept. „Was die Mitarbeiter mir explizit mitteilen ist, dass sie Sicherheit einfordern“, betont Walcher. Das wichtigste, was jetzt dringend umgesetzt werden müsste, ist demnach die Sicherstellung von Ausfallskonzepten: Was ist, wenn die nächsten zehn Patienten kommen, wer behandelt und pflegt diese Menschen? Was ist, wenn Mitarbeiter krank werden, wer ersetzt sie? „Die Pflegenden müssen wissen: Ja, man steht zu uns. Das augenblickliche Hängenlassen des Pflegepersonals ist das schlimmste von allem“, kritisiert der Unfallchirurg und Notfallmediziner. Und damit hängt natürlich auch die ärztliche Seite am seidenen Faden. Denn wenn nicht ausreichend Personal da sei, das die schwierigen Aufgaben umsetzt, könnten Ärzte „so viel Medizin machen wie sie wollen, aber es kann eben ohne Pflegepersonal nicht umgesetzt werden“, sagt Walcher.

Das alles schlägt auf die Psyche, was sich aber nicht unbedingt am Arbeitsplatz bemerkbar macht. „Typisch für die belastete angegriffene Resilienz ist, dass wir das mit nach Hause nehmen. Und ich sage ganz bewusst: wir! Ich nehme mich da nicht aus“, so der Mediziner, der auch Generalsekretär der DIVI sowie Sprecher der DIVI-Sektion „Perspektive Resilienz“ ist.

Auch Helfer brauchen Hilfe

Ein Phänomen, das auch Martina Westerworth kennt. Zusammen mit anderen Psychotherapeuten bietet sie seit März 2020 telefonische Seelsorge für Bremer Ärzte und Pflegekräfte an. „Wenn alle nur noch schauen können, dass sie irgendwie fertig werden, ploppen die Probleme eben nach Feierabend auf“, bestätigt sie. Im Privaten komme es dann drauf an, wie die individuelle Situation sei. So wäre es nicht immer einfach, wenn die anderen Familienmitglieder auch ständig anwesend seien, zum Beispiel durch Kurzarbeit oder wenn die Kinder durch Quarantänemaßnahmen betreut werden müssen. Dadurch könnten sich viele dann gar nicht mehr erholen, erläutert die Psychotherapeutin. Bei anderen, die schon vorher nicht gut angebunden waren, komme es dagegen vermehrt zu einer Isolation. „Diese Betroffenen fangen oft an zu grübeln. Auch alte Probleme, die sonst noch irgendwie mitgelaufen sind, melden sich nun sich vermehrt zurück, können aber in dieser Situation gar nicht bewältigt werden“, schildert Westerworth. Nicht wenige ihrer Anrufer klagen über überhöhte Angespanntheit, bis hin zur Aggression, weil sie „diesen inneren Pegel gar nicht mehr runterkriegen“. Und bei manchen würden sich schon schwere Erschöpfungssymptome zeigen.

Die Folge? Viele könnten unter einem posttraumatischen Belastungssyndrom leiden. Westerworth, die unter anderem auch bei der Bundeswehr mit Soldaten Kriegseinsätze aufarbeitet, sagt, man könne das durchaus vergleichen: „Ich habe das erst auch nicht gedacht, aber erhöhte Belastungen immer nur wegzudrängen und zu funktionieren geht eben nicht. Inzwischen glaube ich, dass die Folgen spätestens mit der Rückkehr zur Normalität sichtbar werden.“ Was man selbst tun kann, sei, viel rausgehen – am besten in die Natur – sowie etwas Neues anzufangen, wie ein Instrument spielen oder malen. „Mit Farben umzugehen kann für manche ganz hilfreich sein, um Gefühle rauszulassen“, rät die Expertin.

Um chronischen Folgeerkrankungen vorzubeugen, ist es jedoch enorm wichtig, kollegiale sowie professionell organisierte Hilfsangebote anzunehmen – was gerade Ärzte allerdings oft nicht so gut können. „Es ist wohl so, dass wir Mediziner das häufig nicht wahrnehmen, weil wir sagen, ich schaff‘ das schon“, räumt auch Walcher ein. Auch dabei könne Peer-Support helfen. Denn so hat der Arzt, der sonst immer anderen hilft, die Möglichkeit, sich in einem ersten Schritt niedrigschwellig an einen Kollegen zu wenden, was häufig leichter fällt, als gleich psychotherapeutische Hilfe zu suchen. Walcher appelliert: „Hierfür muss ein Bewusstsein in der Ärzteschaft sowie im Gesundheitswesen geschaffen werden. In der Intensiv- und Notfallmedizin ist es auf jeden Fall überfällig, zu sagen: Stopp, in diesem Bereich arbeiten nun einmal auch Menschen, und deren Belastbarkeit ist endlich. Die brauchen auch dringend Unterstützung. Und wenn denen nicht geholfen wird, wie kann dann gute Medizin gemacht werden?‘“ In Pandemie-Zeiten, aber auch sonst.

Hohe Belastung schon vor der Pandemie

Nach einer Umfrage des Berufsverbands Deutscher Anästhesisten (BDA) im November 2019 erfuhren 76,5 Prozent der mehr als 1.300 teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte allein in den letzten zwei Jahren am Arbeitsplatz dramatische und emotional sehr belastende Ereignisse. 91,5 Prozent – und zwar über alle Versorgungsstufen hinweg – gaben an, dass der Arbeitgeber sie beim Umgang damit nicht gut unterstütze. Auch der aktuelle Medscape Report „Burnout und Depressionen bei Ärzten in Deutschland 2020" ist keine Überraschung. Er zeigt ebenfalls, dass Corona die psychische Belastung von Ärzten deutlich verstärkt hat. Der Anteil der davon betroffenen Ärzte liegt demnach bei 55 Prozent – das sind zehn Prozent mehr als bei einer Umfrage 2018. Rund ein Viertel von ihnen klagt über zeitweilige depressive Verstimmungen, 15 Prozent über Burnout-Symptome und 14 Prozent über beides. Jeder sechste der unter Burnout-Leidenden überlegt, seinen Job an den Nagel zu hängen. Dabei sehen vor allem Klinikärzte die Ursache für ihre seelischen Talfahrten im Job. Viele der Befragten leiden zudem unter Schlafstörungen, und fast jeder Vierte hatte schon einmal Suizidgedanken. Dabei fand die Online-Befragung, an der mehr als 1.000 Ärzte teilnahmen, zwischen Juni und August 2020 statt, also eher in einer Zeit, in der sich die Lage wenigstens übergangsweise entspannte.

Übrigens: Die Förderung der Resilienz rechnet sich auch aus ökonomischer Sicht. „Die Kosten der Fehlzeiten durch psychische Erkrankungen für ein Beispielkrankenhaus liegen um ein Vielfaches höher“, ergänzt Heininger.

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