Bei einem Narzissten oder einer Narzisstin im Team hilft nur „nackte Vernunft“, sagt Prof. Claas-Hinrich Lammers, Chefarzt der Psychiatrie und Psychotherapie der Asklepios Klinik Nord in Hamburg – und nennt weitere hilfreiche Tipps für den Berufsalltag, vom sachlichen Argumentieren bis zur Kündigung.
Narzissmus ist zum Modewort geworden. Wie definieren Sie einen echten Narzissten?
Prof. Claas-Hinrich Lammers: Im Alltag ist die Auffassung weit verbreitet, alle Menschen, die egoistisch sind und immer im Mittelpunkt stehen wollen, seien Narzissten. Das macht den Begriff schwammig. Für die einen ist jemand bereits ein Narzisst, der sehr selbstbewusst auftritt, während andere diese Person ganz normal finden. Für mich ist der Kern des Narzissmus erstens eine unrealistische Selbstüberhöhung. Echte narzisstische Menschen halten sich für leistungsfähiger, intelligenter und schlichtweg besser, als sie es de facto sind. Und das wollen sie auch mit Macht den Anderen zeigen. Darüber hinaus sind sie häufig in einem übertriebenen Maße kompetitiv und müssen sich eigentlich immer durchsetzen. Was aber dazu kommen muss, ist ein sehr reduziertes Empathievermögen. Das heißt, sie besitzen nicht die Fähigkeit oder den Willen, sich in ihr Gegenüber einzufühlen. Für sie sind Andere nur eine Art Material, um etwas zu erreichen, als stille Bewunderer oder als Helfer für Karriereschritte. Diese Empfindungsarmut ist für mich der bedeutendere und heiklere Kern. Erst diese zwei Aspekte zusammen machen narzisstische Menschen aus.
Was sagt die klinische Psychiatrie? Wann ist es krankhaft?
Prof. Claas-Hinrich Lammers: Narzissmus ist in der Psychologie eine Charakterisierung von Persönlichkeitsanteilen wie Erfolgsorientierung oder Eitelkeit. Dafür gibt es einen Fragebogen, auf dem hat man einen hohen, mittleren oder niedrigen Wert. Aber der sagt nichts darüber aus, ob jemand krank ist, sondern das ist ein Parameter wie Körpergröße. Auch die Vorstellung, jemand mit geringem Score sei ein ganz toller, gesunder Mensch, ist irrig. Selbstbewusstsein und Durchsetzungsfähigkeit sind schließlich Eigenschaften, die einen eher robust durchs Leben gehen lassen. Beim Befund geht es mehr um die Ausprägung der narzisstischen Persönlichkeitsmerkmale – auch die der fehlenden, wie Mitgefühl. Hinzu kommt: Um eine narzisstische Persönlichkeitsstörung, wie der klinische Begriff lautet, zu diagnostizieren, gilt außerdem der Grundsatz: Es muss ein Leidensdruck dazukommen. Das bedeutet, ein Mensch wie Donald Trump, der für Narzissmus wirklich alle Züge par excellence zeigt, fällt nicht darunter, weil er offenbar nicht leidet.
Was sind typische Situationen, wenn ich mit einem Narzissten zusammenarbeite?
Prof. Claas-Hinrich Lammers: Erst einmal würde ich das Wort Zusammenarbeit streichen. Mit einem sehr narzisstischen Menschen arbeiten Sie letztlich nie zusammen. Der mag Ihnen das zwar vorgaukeln, weil er Sie braucht, aber irgendwann merken Sie, der hat nur seine eigene Agenda im Auge. Was Sie dann noch feststellen werden: Die treten in der Regel sehr dominant auf. Dabei entsteht immer ein Machtgefälle. Sie werden sich früher oder später ausgenutzt fühlen, als kleine Schachfigur, die nur auf dem Brett hin und her geschoben wird. Und was Ihnen nach einiger Zeit auch auffallen wird, ist, dass Ihre Bedürfnisse dem anderen komplett egal sind.
Wird ein Narzisst mich nie etwas Persönliches fragen?
Prof. Claas-Hinrich Lammers: Da muss man aufpassen. Sie haben häufig anfänglich eine sehr positive Ausstrahlung bis zum Charisma, können mitreißend und charmant sein. Dies dient jedoch allein dazu, das Umfeld zu gewinnen. Es gibt sehr erfolgreiche narzisstische Menschen, die genau wissen, welche Fragen sie stellen müssen, um sympathisch zu erscheinen. Doch das hört irgendwann auf und dann kommen nur noch Forderungen.
Können Sie Beispiele für manipulatives Verhalten nennen?
Prof. Claas-Hinrich Lammers: Sie können es schaffen, dass Sie sich in einem Projekt engagieren, das Sie gar nicht interessiert. Aber Sie wurden strategisch geködert mit Sätzen wie „Du bist der Einzige, der diese Fähigkeiten hat. Ohne dich schaffen wir das nicht.“ Erst im Nachhinein merken Sie, dass die andere Person nur ihren eigenen Vorteil verfolgt hat und am Ende sogar behauptet, alles sei ihr Werk gewesen. Und sollten Sie nun nicht mehr gebraucht werden, spielt das auch keine Rolle.
Wie sollte ich mit einem narzisstischen Kollegen oder Kollegin umgehen?
Prof. Claas-Hinrich Lammers: Sie sollten erst einmal alle Hoffnung fahren lassen, dass er Sie mag oder sich ändert. Dies zu akzeptieren fällt allerdings oft schwer. Denn man gibt damit auch die Aussicht auf, dort jemals ein angenehmes Arbeitsklima zu bekommen. Auch ist es unser Bedürfnis, das wir uns mit anderen verstehen wollen und gesehen werden möchten – und dass der andere auch mal Fehler zugibt. Wer das für sich geklärt hat, muss auf nackte Vernunft umschalten. Man sollte die persönliche Ebene komplett verlassen, nie emotional reagieren, sich nicht auf Vorwürfe und Streitigkeiten einlassen oder sich verletzt zeigen, sondern ausschließlich sachlich interagieren. Anklagende Sätze wie „Das ist doch nicht in Ordnung, was Sie da tun“ bringen Sie überhaupt nicht weiter.
Und wenn der Chef oder die Chefin narzisstisch ist?
Prof. Claas-Hinrich Lammers: Lenken Sie die Kommunikation auf die zu erledigenden Arbeiten. Dabei helfen Fragen wie: „Was genau soll ich tun?" Und wenn Sie Kritik anzubringen haben, dann versuchen Sie dies auf eine möglichst vernünftige und kooperative Weise. Der Versuch einen solchen Vorgesetzten in die Ecke zu treiben oder bloßzustellen, ist ein Schuss, der nach hinten losgeht. Die werden niemals klein beigeben, etwas einsehen oder sich gar entschuldigen, sondern sich dafür rächen. Dann steigt man nur in die nächste Kampfrunde ein.
Kennen Sie typische Situationen in der Klinik, wo das zu Problemen führt? Vielleicht auch mit Patientinnen und Patienten?
Prof. Claas-Hinrich Lammers: Ich denke, narzisstische Ärztinnen und Ärzte scheitern weniger an Patienten. Dafür sind die heutzutage zu kurz in der Klinik und sagen vielleicht „Tja, der ist nicht ansprechbar, aber zumindest hat er meine Galle gut rausgenommen“, um das mal salopp zu formulieren. Solche Ärztinnen und Ärzte scheitern mehr an der Krankenhausstruktur, da sie Teamarbeit stören und verhindern. Denn sie werden immer zeigen wollen, dass sie eigentlich die Schlaueren und Stärkeren sind und daher ständig rechthaberisch auftreten. Heißt, sie klinken sich auch in funktionierende Abläufe ein, nur um zu zeigen, dass sie den besseren Weg kennen. Das geht soweit, dass sie alles in Frage stellen, was gemacht wird – und Arbeitsabläufe wunderbar durcheinanderbringen. Was aber übersehen und total unterschätzt wird: Es gibt nicht nur den grandiosen Typus, sondern auch den vulnerablen. Und der verursacht oft die viel größeren Probleme. Denn diese Kollegen kann man auf der Arbeit sogar häufiger antreffen.
Wie erkenne ich die?
Prof. Claas-Hinrich Lammers: Vulnerable narzisstische Menschen treten nach außen eher bescheiden und schüchtern auf. Doch wer ihnen näherkommt, merkt, auch sie haben einen narzisstischen Kern. Dieser ist ebenfalls geprägt von übertriebenem Selbstwertgefühl, emotionaler Kälte, Neid und leichter Kränkbarkeit. Gleichzeitig fürchten sie Beschämung, also Kritik, Abwertung und Ausschluss. Zunächst denkt man, die seien eigentlich ganz nett. Aber irgendwann merken Sie, dass es „mit dem oder der“ nie glatt läuft. Schon bei kleinen Schwierigkeiten, von denen Sie selbst vielleicht denken „Das kann doch mal passieren“, reagieren sie extrem sauer und ziehen sich beleidigt zurück. Sie sind gewissermaßen die Dünnhäutigen und die grandiosen die Dickfelligen.
Wann sollte ich die Reißleine ziehen?
Prof. Claas-Hinrich Lammers: Überlegen Sie, welche Vorstellung Sie von einem guten Arbeitsplatz haben. Was brauchen Sie, um sich wohlfühlen? Wenn Sie feststellen, dass Sie das dort nie bekommen, sollten Sie die Stelle wechseln. Das fällt vielen schwer, weil sie sagen, ich bin doch hier gar nicht das Problem. Aber an der Situation wird sich wahrscheinlich nichts ändern, und es geht auch um Ihr eigenes Seelenheil.
Kann ich einen Narzissten im Vorstellungsgespräch erkennen?
Prof. Claas-Hinrich Lammers: Eher nicht. Meist können die sich sehr gut anpassen und sind auch wirklich geschickt. Interessanterweise haben Forscher festgestellt, dass man ihnen in Tests nur eine Frage stellen muss: Haben Sie ausgeprägte narzisstische Eigenschaften oder sind Sie ein Narzisst? Was man dann noch ein wenig umschreibt. Und die Selbsteinschätzung, welche sie dann von sich treffen, korreliert sehr gut mit den Ergebnissen aufwendiger Tests. Das heißt, sie wissen ziemlich gut, dass sie narzisstisch sind und besitzen im Allgemeinen auch die Fähigkeit sich für eine kurze Zeit den Erfordernissen anzupassen, wenn es ihnen nützt.
Ist die Ursache bekannt?
Prof. Claas-Hinrich Lammers: In letzter Instanz nicht. Es gibt nur wenig Studien dazu. Eine unbewiesene Theorie lautet, dass sehr kaltherzige, strafende oder auch vernachlässigende Eltern bei ihren Kindern Narzissmus fördern können. Aber wer sucht, findet bei jedem etwas in der Kindheit. Eine andere Theorie, die zumindest eine gewisse Korrelation gezeigt hat, besagt, wer seinen Nachwuchs immer über den grünen Klee lobt und wie kleine Prinzen oder Prinzessinnen behandelt, erhöht die Wahrscheinlichkeit dafür – falls noch weitere Charaktereigenschaften hinzukommen. Was pathologische narzisstische Menschen angeht, lautet die einzige konsistente Erkenntnis aus Adoptions- und Zwillingsstudien, dass dies zum großen Teil schlichtweg genetisch bedingt ist.
Kann man ihnen helfen?
Prof. Claas-Hinrich Lammers: Nur wenn sie selbst darunter leiden und bereit sind an sich zu arbeiten. Das ist zwar die Ausnahme, passiert aber schon mal, wenn eine Beziehung in die Brüche geht, sie beruflich scheitern oder schlichtweg ihrer enorm hohen Anspruchshaltung hinterherhinken. Manchmal gehen sie aus Verzweiflung darüber aus eigenem Antrieb zum Psychiater oder Psychotherapeuten. Häufiger aber schlittern sie in eine psychotherapeutische Behandlung wegen Depressionen, Suchtmittel- oder Angst-Erkrankungen, also aufgrund von Folgestörungen. Dann hängt es stark von der Beziehung ab, ob sie den oder die Therapeutin respektieren, glauben, die versteht mich und sieht auch meine positiven Seiten. Also eine Bindung aufbauen. Wenn sie das tun, kann man mit ihnen eine Menge erreichen.
Wie arbeiten Sie mit ihnen?
Prof. Claas-Hinrich Lammers: Ich gehe nach der 80:20-Regel vor und sage meinen Patienten, zu 80 Prozent ist ihre Persönlichkeit vollkommen in Ordnung mit vielen positiven Zügen. Aber von diesen haben sie 20 Prozent zu viel. Genau die belasten sie auch und an diesen arbeite ich mit ihnen. Hierbei übe ich zum Beispiel die Kommunikation mit Kollegen oder helfe ihnen, ihre Anspruchshaltung etwas zu senken, damit sie nicht jeden Tag glauben, es geht ums große Ganze. Ganz wichtig ist zudem ein intensives Empathie-Training. Dass sie anfangen zu verstehen, warum es beispielsweise für andere Leute wichtig ist, auch mal gelobt zu werden. Damit sie daran ihr Verhalten ausrichten können.
Kann man sie also zumindest ein bisschen für Empathie öffnen?
Prof. Claas-Hinrich Lammers: Ja. Studien haben gezeigt, dass sie weniger an Empathie-Unfähigkeit leiden, eher an Empathie-Unlust. Empathie bedeutet auch sich selbst zu öffnen, Schwächen zu zeigen, angreifbar zu werden – und das macht sie extrem unsicher. Daher fürchten und vermeiden sie die Nähe zu anderen.
Haben Narzissten als Arbeitnehmer auch Vorteile?
Prof. Claas-Hinrich Lammers: Zur Ehrenrettung muss gesagt werden, es gibt durchaus narzisstische Menschen, die eine Klinik voranbringen können. Manche haben wirklich eine Vision, sind innovativ. Durch sie kann sich eine ganze Abteilung in die richtige Richtung entwickeln, denn sie setzen das auch durch. Es ist immer eine Frage der Ausprägung, ob ihr Narzissmus eher hilfreich oder eher destruktiv ist. Insofern sollte man narzisstische Eigenschaften nicht per se aburteilen. Gerade als Führungskraft von Oberarzt aufwärts darf man ja auch nicht total schüchtern sein. Und da merkt man wieder, dass Narzissmus eine Art Hammer-Begriff ist, der immer etwas Negatives suggeriert. Vielleicht wäre es besser, den eines Tages zu streichen und die Persönlichkeit der Betreffenden differenzierter zu beschreiben. Denn narzisstische Menschen sind nicht per se schlecht und zu verurteilen. In dem neuen diagnostischen System der WHO, das International Classification of Diseases (ICD), wird der Begriff der narzisstischen Persönlichkeitsstörung übrigens komplett fallen gelassen, weil es heißt, diese Kategorien seien gar nicht überprüfbar.
Der Psychiater und Psychotherapeut Prof. Claas-Hinrich Lammers ist ärztlicher Direktor der psychiatrischen Kliniken und Chefarzt der I. und III. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in der Asklepios Klinik Nord in Ochsenzoll. Von ihm erschienen unter anderem folgende Bücher: „Beziehungsgestaltung mit narzisstischen Menschen“, Psychiatrie Verlag, 2021 sowie „Bin ich ein Narzisst oder einfach nur sehr selbstbewusst?“, Co-Autor Gunnar Eismann, Schattauer, 2019.
Der Experte:
Der Psychiater und Psychotherapeut Prof. Claas-Hinrich Lammers ist ärztlicher Direktor der psychiatrischen Kliniken und Chefarzt der I. und III. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in der Asklepios Klinik Nord in Ochsenzoll. Von ihm erschienen unter anderem folgende Bücher: „Beziehungsgestaltung mit narzisstischen Menschen“, Psychiatrie Verlag, 2021 sowie „Bin ich ein Narzisst oder einfach nur sehr selbstbewusst?“, Co-Autor Gunnar Eismann, Schattauer, 2019.