
Brüten, grübeln, in Depressionen verfallen, oft jahrelang. Kränkungen können Menschen zerstören und sogar große Verbrechen auslösen. Und sie passieren überall, oft auch am Arbeitsplatz. Aber man kann lernen, damit souverän umzugehen – zum Wohle aller.
Der eine lacht über einen „blöden Spruch“, der andere ärgert sich zu Tode. Warum reagieren Menschen so unterschiedlich?
Prof. Reinhard Haller: Das hängt insbesondere von drei Faktoren ab: Empfindlichkeit, Persönlichkeit und Gelassenheit. Nur wenn die Kränkung auf meine sensiblen Stellen – das sind nicht verheilte Wunden und innere Werte – trifft, ist es überhaupt eine. Sonst kann sie nicht andocken. Das bedeutet: Welche Vorerfahrungen wurden gemacht? Ist man eher sensibel oder dickhäutig? Und wurde gelernt, damit umzugehen?
Ich habe in Ihrem Buch gelesen, dass ein erfolgreicher Manager, der alles hatte – Haus, Familie, toller Job – Suizidgedanken bekam, weil die Firma ihm als einzigem und ohne Erklärung einen Bonus von 500 Euro versagte. Wie kann das sein?
Prof. Reinhard Haller: Tiefenpsychologisch ist eine Kränkung letztlich immer fehlende Positivresonanz, deren höchste Form die Liebe ist. Sie trifft immer die Urangst des Menschen, nicht geliebt zu werden oder vor Liebesentzug. Und wenn ich im Gegensatz zu allen anderen keinen Bonus bekomme, wird dies aktiviert. Außerdem verletzt es das Gerechtigkeitsgefühl, das extrem sensibel ist und ebenfalls oft zu wenig beachtet wird.
Wann genau spricht man von einer Kränkung?
Prof. Reinhard Haller: Es gibt dafür keine Diagnose, keine Definition. Aber wir alle spüren sehr wohl, wenn es sich um eine Kränkung handelt. Jeder von uns kränkt und wird gekränkt. Es kommt im alltäglichen Leben tausendfach vor und hat verschiedene Formen. Die schlimmste ist die Demütigung. Meine Definition lautet, dass es eine nachhaltige Erschütterung des Selbst und der eigenen Werte ist. Dabei „funktionieren“ Kränkungen nicht wie eine Explosion, sind nichts Akutes, sondern nagen schleichend, vergleichbar mit einem quälenden inneren Gärungsprozess. Hierbei können sie eine sehr große psychische Kraft entwickeln. Trotzdem werden sie tabuisiert und verdrängt. Man bekennt sich nicht dazu, aber innerlich beschäftigen sie uns wahnsinnig.
Warum sind Kränkungen überhaupt peinlich?
Prof. Reinhard Haller: Weil sie nicht zum Bild des harten Mannes oder der Karrierefrau passen. Zum heutigen gesellschaftlichen Idealbild gehört es, keine Emotionen zu zeigen. Kränkungen sind etwas für Warmduscher und Weicheier. Gleichzeitig sind alte Tugenden wie Demut und Bescheidenheit in den Hintergrund getreten. Wir verwenden nicht umsonst so oft das Wort cool. Alles ist kühl und dahinter bleibt verborgen, dass der Mensch eine sehr verletzliche Innenseite hat. Gerade auch in Zeiten des Internets sind Kränkungen so problematisch, weil man sozusagen vor der ganzen Welt für ewige Zeiten beschämt wird.
Wohin kann das führen?
Prof. Reinhard Haller: Schon Hildegard von Bingen wusste: Was kränkt macht krank. Kränkungen führen zu vielen weitverbreiteten Krankheiten. Dazu gehören Depressionen, neurotische Störungen und vor allem Psychosomatisches wie Hautleiden oder Rückenschmerzen. Auch Suchterkrankungen sind häufig darin begründet. Man will die Kränkung etwa unter Alkohol vergessen oder sagt sich „die können mir alle den Buckel runterrutschen“ und nimmt ein Beruhigungsmittel. Hält die Kränkungssymptomatik an, kann sie zu Verbitterung führen. Das ist für mich die unheilbare Form mit dem Endstadium psychogener Tod. Kränkungen können aber nicht nur im medizinischen Bereich unglaublich viel anrichten.
Wo noch?
Prof. Reinhard Haller: Von Schul-Amokläufern ist bekannt, dass ihr Hauptmotiv die nach außen unsichtbare Gekränktheit ist. Sie fühlen sich von den anderen abgetrennt, schlucken das herunter und ziehen eine Maske auf. Sie stehen über den Dingen, sind abgebrüht, echte Pokerfaces. Und doch braut sich innerlich etwas zusammen, das sich in schweren Taten entladen kann. Manche Historiker meinen sogar, dass sich die großen Kriege mit der Demütigungs-/Kränkungs-Hypothese sehr gut erklären ließen. Auch der Terrorismus wird dadurch angefacht, zum Beispiel beim Anschlag auf „Charlie Hebdo“ durch die Mohammed-Karikaturen.
Was ist im Berufsalltag typisch?
Prof. Reinhard Haller: Die häufigste Form, das Mobbing, ist nichts anderes als systematisches Kränken. Da geht es um diese vielen kleinen Stiche: dass man den Gruß nicht erwidert, immer ins Wort fällt, wichtige Informationen vorenthält, diesen Menschen bei einer Fortbildungsveranstaltung nicht berücksichtigt oder lacht, wenn er eine Äußerung macht. Also im Prinzip lauter kleine Dinge, die sich anhäufen, aber enorme Folgen haben können. Bei einem großen Amoklauf in Deutschland nannte der jugendliche Täter als Motiv, das auf einer Schulreise vor acht Jahren niemand mit ihm das Zimmer teilen wollte.
Ärztinnen und Ärzte haben viel Stress, im Moment durch Corona noch mehr. Führt das auch in dieser Beziehung zu einer dünneren Haut?
Prof. Reinhard Haller: Mit steigender Nervosität werden alle Menschen sensibler. Hinzu kommt: Es gibt Untersuchungen, dass 14 Prozent der jungen Erwachsenen unter Hochsensibilität leiden. Und das ist zwangsläufig mit erhöhter Kränkbarkeit verbunden. Bei Ärztinnen und Ärzten gibt es vielleicht noch eine zusätzliche narzisstische Komponente. Unser Beruf ist sehr anerkannt, aber dadurch wird man auch empfindlicher, wenn man die entsprechende Anerkennung eben nicht bekommt. Das, glaube ich, führt auch dazu, dass man das Problem der narzisstischen Gekränktheit in medizinischen Berufen relativ häufig findet.
„Nimm‘s leicht“ wünschen sich viele. Kann man das "Wegstecken" lernen?
Prof. Reinhard Haller: Ich denke, dass man mit Kränkungen durchaus konstruktiv umgehen kann. Zunächst muss ich mir überhaupt bewusst machen, dass ich gekränkt wurde. Zweitens ist wichtig, das zur Sprache zu bringen. Das fällt zwar schwer, doch sobald wir eine Kränkung ansprechen, verliert sie ihren Schrecken. Zumal sie manchmal auch unbewusst geschieht. Mir haben Menschen mit wirklich vielen schweren Kränkungen immer gesagt, das Schlimmste sei nicht die Kränkung selbst, sondern dass der andere gar nicht gemerkt habe, wie sehr er sie getroffen hat. Wer das dagegen artikuliert, macht seinem Gegenüber auch klar, was er sich wünscht. Drittens sollte man nüchtern analysieren, wo sich die eigenen empfindlichen Punkte befinden. Vielleicht enthält die Botschaft ein Körnchen Wahrheit, was uns bei der Selbsterkenntnis hilft. Manchen kann sie auch zu besonderen beruflichen Leistungen anspornen. Darüber hinaus ist es sinnvoll, einmal in die Schuhe des Kränkenden zu schlüpfen. Wenn man dessen Beweggründe versteht, fällt das Gesagte oft viel weniger hart aus. Das Wichtigste ist aber Gelassenheit zu entwickeln. Loszulassen. Wer dann auch noch in der Lage ist, zu verzeihen, verzeiht sich auch selbst. Das ist der Königsweg. Dadurch kann man diesen ganzen Rattenschwanz an jahrelangen belastenden Grübeleien, sadomasochistischen Quälereien, Rachegedanken, Schlafstörungen und psychosomatischen Reaktionen abschneiden. Letztlich fördert die Beschäftigung mit dem Thema auch die eigene Menschenkenntnis und Empathie-Fähigkeit. Indem ich in mich selbst schaue, werde ich sensibel für andere.
Ihr Rat an Führungskräfte?
Prof. Reinhard Haller: Wenn mich etwas sehr kränkt, muss die kränkende Person für mich wichtig sein. Und je wichtiger desto schwerwiegender fällt die Kränkung aus. Das gilt insbesondere für die Partnerschaft, aber auch für den Arbeitsplatz. Führungskräfte sollten immer davon ausgehen, dass alle ihre Mitarbeitenden stets erwarten, von ihnen positive Resonanz zu bekommen. Wertschätzung ist wichtiger als Verdienst. Trotzdem enthalten wir alle genau dies unseren Mitmenschen oft vor. Das beklagen auch die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Kliniken. Wir alle wollen gelobt werden, haben aber oft eine innere Hemmung das selbst aktiv zu tun. Das Wirksamste wäre, Feedback-Kompetenz zu entwickeln. Dass man lernt, mehr anzuerkennen statt abzukanzeln. Das ist das beste Mittel gegen Kränkung auch im klinischen Alltag. Konstruktive Kritik kann ebenfalls durchaus wertschätzend sein.
Worauf sollte man im Umgang mit Patientinnen und Patienten achten?
Prof. Reinhard Haller: Kränkungen sind ein sehr guter Ansatz, um bei vielen Diagnosen ins Gespräch zu kommen. Kolleginnen und Kollegen, die mit einem Patienten im psychischen Bereich zu tun haben, kann ich nur empfehlen, auf jeden Fall nach seinen Kränkungen zu fragen. Was ist die Größte Ihres Lebens? Mit welcher Kränkung schlagen Sie sich schon lange herum? Oder was kränkt Sie an ihrem Partner? Das ist sehr ergiebig. Auch in Gruppensituationen, wenn jeder darauf wartet, dass der nächste zu reden beginnt, muss man nur dieses Thema hineinwerfen und alles nimmt Fahrt auf. Da melden sich plötzlich selbst Leute, von denen man gar nicht weiß, dass sie überhaupt reden können, zu Wort und sind sehr mitteilungsbedürftig.
Warum ist das Thema für Sie so wichtig? Wie haben Sie es entdeckt?
Prof. Reinhard Haller: So richtig darauf gestoßen, bin ich durch meine kriminalpsychiatrische Tätigkeit, als ich Ende der 90er Jahre einen der größten Kriminalfall Österreichs untersucht habe: das „Bombenhirn“ Franz Fuchs. Man vermutete, dies müsse ein Rechtsradikaler oder Deutschnationaler sein, auf jeden Fall ein politischer Extremist. Als ich diesem Mann in sehr vielen Gesprächen begegnete, merkte ich: Das stimmt alles nicht. Er war ein gekränktes Genie, ein absolut genialer Mensch, der das Zeug zum Nobelpreisträger gehabt hätte. Aber er war in pathologischer Weise kränkbar, also durch Kleinigkeiten, die ihn völlig aus der Bahn warfen. Als er ein Stipendium beantragte und das nicht in der Höhe bekam, die ihm zustand, ließ er dies nicht korrigieren – was andere getan hätten – sondern brach sein Studium ab und verdingte sich als Hilfsarbeiter. In der Folge stellte ich fest, dass auch meine Patientinnen und Patienten unter sehr vielen Kränkungen leiden. Die Therapeuten wollen alle Traumata behandeln, aber in vielen Fällen geht es „nur“ um Kränkungen. Und das Thema interessant viele Menschen! Das merke ich in meinen Vorträgen und Seminaren. Auch nachdem vor Kurzem die Gedanken meines Buchs als TV-Serie verfilmt wurden, bekam ich viele Rückmeldungen, dass die Geschichten die Zuschauer tief berührt haben. Auch, weil es endlich mal ein anderes Motiv ist als in einem üblichen Tatort. Aktuell wird sogar eine zweite Staffel gedreht.
Was müsste sich ändern?
Prof. Reinhard Haller: Das allerwichtigste wäre, dass wir als Gesellschaft sensibel für die Macht der Kränkung werden. Jeder müsste einfach in sich hineinhorchen, sich seiner eigenen Kränkungen bewusstwerden und im Gegenzug darauf achten, dass man bei anderen die Kränkungsgrenze nicht überschreitet. Mit der einfachen Nachfrage „Habe ich dich jetzt gekränkt?“, kann man relativ viel verhindern und abfedern. Das ist letztlich auch ein Zeichen, dass Sie Interesse an Ihren Mitmenschen haben und empathisch sind. Zudem sollte dieses Phänomen in der Medizin viel mehr Beachtung finden. Ich habe in meinem ganzen Studium, selbst in meiner Ausbildung zum Facharzt für Psychotherapie, das Wort Kränkung nie gehört. Bis heute kommt es in der Ausbildung kaum vor.
Bräuchte es nicht sogar ein Ministerium für Menschlichkeit, auch angesichts der Digitalisierung?
Prof. Reinhard Haller: Ich glaube, dass die Menschen mit der heutigen Welt emotional nicht mehr so gut zurechtkommen. Die Gefühlswelten verkümmern, doch das erkennen wir verhängnisvollerweise nicht. Auch fürchte ich, dass unsere Gesellschaft immer kränkbarer ist, weil sie generell narzisstischer wird. Narzissten sind nicht nur Egozentriker, sondern auch extrem kränkbar. Stephen Hawking sagte, das Überleben der Menschheit wird davon abhängen, ob wir die Empathie retten können. Denn alles andere können Roboter und Maschinen besser. Man müsste überlegen, ob man zum Beispiel in der Schule, neben den ganzen kognitiven Unterrichtsfächern, nicht auch eine Art Empathie-Unterricht einrichten sollte.
Sie verfassten mehr als 8.000 forensische Gutachten und sprachen mit hunderten Mördern. Was hat das mit Ihnen gemacht?
Prof. Reinhard Haller: Ich bin zum Glück ein optimistischer Mensch. Diese Erfahrungen konnten das nicht zerstören und mir auch nicht den Glauben an das Gute im Menschen nehmen. Aber sie haben meine Angst vor dem Bösen schon ziemlich gefördert. Letztlich bin ich etwas vorsichtiger geworden.
Der Experte:
Der Österreicher Prof. Reinhard Haller ist Psychotherapeut, forensischer Gerichtspsychiater und Bestseller-Autor. Er verfasste unter anderem Gutachten über den Sexualmörder Jack Unterweger, den Briefbombenattentäters Franz Fuchs und im Fall des Amoklaufs von Winnenden. Von 1983 bis 2017 war er Chefarzt des Krankenhauses Maria Ebene in Frastanz, einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik. Sein Buch „Die Macht der Kränkung“ inspirierte die gleichnamige ORF/ZDFneo-Serie.