
Die Zeit, in der die Bewerbungen quasi von alleine in den Personalabteilungen eintrafen, sind längst vorbei. Heute müssen sich Krankenhäuser aktiv um Ärztinnen und Ärzte bemühen. Kliniken müssen deshalb genau wissen, was Bewerberinnen und Bewerber von ihnen erwarten. Prof. Dr. Anja Lüthy berät seit Jahren Krankenhäuser und Universitätskliniken in Bezug auf ihre Recruitingprozesse. Sie ist der Meinung, dass die meisten Häuser noch viel zu wenig in Sachen Social Recruiting tun.
Wie sieht eigentlich der typische Bewerber bzw. die typische Bewerberin für eine Facharztweiterbildungsstelle heute im Krankenhaus aus? Gibt es so etwas eigentlich?
Prof. Dr. Anja Lüthy: Bewerber und Bewerberinnen auf eine Assistenzarztstelle sind heute Mitte zwanzig, zu über 60 Prozent weiblich und haben ein sehr gutes Abitur abgelegt. Nach ihrem sechsjährigen Medizinstudium freuen sie sich nach Abschluss ihres praktischen Jahres darauf, endlich als Assistenzärztinnen und -ärzte in einem Krankenhaus tätig zu ein. Sie wollen sich in dem von ihnen gewählten medizinischen Fachgebiet vertiefen, Geld verdienen und ihre Facharztweiterbildung zügig durchlaufen. Im Jahr 2030 wird diese Generation Y einen Großteil der Ärzteschaft ausmachen.
Was zeichnet diese Generation Y aus?
Prof. Dr. Anja Lüthy: Sie wurde Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts geboren und ist bereits ziemlich digital groß geworden. Ihre „Helicopter-Eltern“, Vertreter der Babyboomer-Generation, haben sie zu selbstbewussten „Ichlingen“ erzogen und insgesamt ziemlich verwöhnt. Ihnen ist das Arbeiten ebenso wichtig wie ihre Freizeit. In ihrer Klinik wollen sie am liebsten von Anfang an mitbestimmen, wenn es um die Gestaltung ihrer Arbeit geht.
Was erwarten diese „Ichlinge“ heute von einem Krankenhaus als Arbeitgeber?
Prof. Dr. Anja Lüthy: Die Generationen Y erwartet Vorgesetze, denen eine werteorientierte Unternehmensführung und eine zeitgemäße Führung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wichtig sind. Sie wollen in den kontinuierlichen Dialog gehen und auf offene Ohren stoßen, wenn sie Verbesserungen der Arbeitsbedingungen vorschlagen.
Welche Art von Arbeitgeber interessiert diese Bewerber?
Prof. Dr. Anja Lüthy: Wenn sie mit Anfang oder Mitte 30 eine Familie gründen und eine Oberarztstelle antreten, erwarten sie eine mitarbeiterorientierte Unternehmenskultur, die Vereinbarkeit ihres ärztlichen Berufes mit ihrem Familienleben ermöglicht. Familienfreundlichkeit ist auch für Krankenhäuser ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal im Sinne eines EVPs (Employer Value Proposition). Hier kommt das Konzept der Caring Company ins Spiel: Krankenhäuser, die ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen langfristig an ihr Haus binden wollen, müssen sich um ihr Personal „kümmern“. Dies beinhaltet, dass sie das ärztliche Personal beispielsweise darin unterstützen, vorübergehend in Teilzeit zu arbeiten, einen Betreuungsplatz für ihre Kinder zu finden, das Essen aus der Kantine preisgünstig mit nach Hause zu nehmen, einen Babysitter-Service für Nachtdienste anbieten oder eine Ferienbetreuung für Schulkinder organisieren. Natürlich können sie auch dabei helfen, für neu Zugezogene eine Wohnung zu finden.
Wie müssen Kliniken ihr Recruiting gestalten, damit es bei diesen Ärztinnen und Ärzten ankommt?
Prof. Dr. Anja Lüthy: Im Zuge des demographischen Wandels – geschätzte drei Millionen offene Stellen im Jahr 2030 – und des resultierenden Fachkräftemangels müssen Krankenhäuser die Erwartungen von Nachwuchs-Bewerberinnen und -Bewerbern kennen und mehr und mehr erfüllen. Zumindest dann, wenn sie qualifizierten Nachwuchs zeitgemäß und „modern“ finden und binden wollen. Deshalb müssen sie neue Mitarbeitende soweit möglich kontaktlos bzw. digital rekrutieren und sich von der Vorstellung verabschieden, Ärztinnen und Ärzte aufgrund eines via E-Mail übermittelten Anschreibens nebst Lebenslauf plus Zeugnissen und persönlichen Vorstellungsgesprächen vor Ort einzustellen.
Das heißt, Bewerber und Bewerberinnen tolerieren einen großen Teil des Recruitingprozesses in digitaler Form. Wie weit kann das denn gehen und welche Voraussetzungen gibt es dafür?
Prof. Dr. Anja Lüthy: Statt des persönlichen Kontaktes, der bisher beim Auswahlprozess im Mittelpunkt stand, kann bis zur ersten persönlichen Begegnung mit Bewerbern und Bewerberinnen die Candidate Journey ausschließlich digital stattfinden. Dazu müssen allerdings sowohl die Employer Branding-Aktivitäten auf den Webseiten als auch der komplette Recruitingprozess, von der eigenen Online-Karriereseite mit den Stellenanzeigen bis zum Vorstellungsgespräch, digitalisiert werden. Das kommt den jungen Bewerbern und Bewerberinnen sehr entgegen, da sie mit Smartphones und mobilem Internet aufwuchsen und digitale Erwartungen an den Bewerbungsprozess haben.
Warum sind Krankenhäuser bisher so zurückhaltend, wenn es um Social Recruiting geht?
Prof. Dr. Anja Lüthy: Diejenigen, die derzeit in Krankenhäusern die maßgeblichen Entscheidungen fällen, sind eher männliche Vertreter der Generation Babyboomer und rund 60 Jahre alt. Leider sind viele digitale Skeptiker unter ihnen. Sie können sich schwer vorstellen, dass Personalmarketing, Employer Branding und Recruiting heute nicht nur über Webseiten geschieht, sondern ebenfalls bei Instagram, Twitter und TikTok stattfindet. Dass gerade junge Leute sich für eine Klinik entscheiden, weil sie im Netz und auf Social-Media-Kanälen überwiegend positives über einen Arbeitgeber gelesen und gesehen haben, ist vielen Babyboomern noch nicht bewusst. Der Spruch „Der Köder muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler“ trifft die Situation ganz gut: Die heutigen Entscheider tun sich noch sehr schwer damit, einzusehen, dass Kliniken junge Assistenzärztinnen und -ärzte dann erfolgreicher „angeln“, wenn sie neue Recruiting-Wege über Social-Media-Kanälen – natürlich mit lebendigem und ansprechendem Content – gehen.
Sie sprachen eben davon, dass Ärztinnen und Ärzte eine zeitgemäße Mitarbeiterführung in den Kliniken erwarten. Welche Art der Führung sollte das sein?
Prof. Dr. Anja Lüthy: Insbesondere junge Ärztinnen und Ärzte erwarten eine werteorientierte Unternehmensführung, die sie daran erkennen, dass in der Klinik eine freundliche Atmosphäre herrscht, weil die Vorgesetzten ihr Team gut führen. Führungsqualität wird maßgeblich durch die Haltung und das Verhalten von Vorgesetzten geprägt. Eine gute Führung können Chefärztinnen und -ärzte mit einer guten und zufriedenen Grundstimmung in ihren Teams belegen. Diese ist ein Barometer dafür, ob sich die Mitarbeitenden entsprechend wohl fühlen. Eine gute Stimmung im Team überträgt sich sowohl auf dessen Leistungsbereitschaft als auch auf die Zufriedenheit der Patientinnen und Patienten.
Ärztinnen und Ärzte verlassen Kliniken, wenn sich ihre Vorgesetzten nicht so verhalten, wie sie es sich von ihnen wünschen. Dies belegen auch die jährlich neu vorgelegten Ergebnisse der Gallup-Studie: Rund 75 Prozent der Mitarbeitenden kündigen ihren Arbeitsplatz aufgrund des respektlosen und als wenig wertschätzend empfundenen Verhaltens ihrer unmittelbaren Vorgesetzten. Mitarbeitende fühlen sich in ihrer Klinik und in ihrem Team dann besonders wohl, wenn sich Vorgesetzte fair und respektvoll verhalten und viel medizinisches Wissen ihres Fachgebietes vermitteln bzw. geduldig beibringen. Darüber hinaus werden Chefs und Chefinnen erwartet, die empathisch und wertschätzend sind, auf Augenhöhe kommunizieren, vertrauensvoll und kommunikativ mit dem Team zusammenarbeiten, Entscheidungen transparent fällen sowie Mitspracherechte einräumen.
Bei einer Bewerbung spielt es also eine wichtige Rolle, wie in einem Krankenhaus die Führung gestaltet wird. Werden solche und ähnliche Themen eigentlich von den Krankenhäusern ausreichend im Recruiting bespielt und als Wettbewerbsvorteil genutzt?
Prof. Dr. Anja Lüthy: Nein, leider werden Themen wie ärztliche Führung oder die individuelle Karriereplanung bisher noch nicht ausreichend von den Krankenhäusern im Recruiting bespielt und als Wettbewerbsvorteil genutzt. Differenzierte Informationen zum Krankenhaus als Arbeitgeber, zu den Besonderheiten der medizinischen Klinik und zum Kollegenteam können am besten mit Hilfe von Videofilmclips, in denen alle Mitarbeitenden – vom Chefarzt bis zur MFA – über ihre Arbeitsplätze berichten auf den Karriereseiten kommuniziert werden.
Natürlich bietet es sich in Zeiten von New Work an, die Klinik-Arbeitswelt und ihre Arbeitsbedingungen glaubwürdig über Social-Media-Kanäle zu kommunizieren. Wenn schon räumlich und zeitlich flexible Arbeit im Homeoffice für das medizinische und pflegerische Personal im Krankenhauses nicht möglich ist, wird es umso wichtiger, interessierte Bewerberinnen und Bewerber mit vorhandenen Benefits anzulocken: mit einer strukturieren und gut organisierten Facharztweiterbildung, mit möglichst selbständigem Arbeiten, mit der Beteiligung an der Erreichung der Klinikziele, mit moderner und zeitgemäßer technologische Ausstattung der Klinik, mit weitgehend digitalisierten Prozessen, wenig Dokumentationsaufwand und einem ausgewogenen Verhältnisses zwischen Arbeits- und Privatleben.
Was glauben Sie, wann wird sich das Recruiting der Krankenhäuser an die von Ihnen beschriebenen Bedingungen anpassen?
Prof. Dr. Anja Lüthy: Erst wenn sich die Babyboomer im Jahr 2030 aus dem Berufsleben verabschieden, werden ihre Nachfolger und Nachfolgerinnen dafür sorgen, dass auch Krankenhäuser attraktive Arbeitgeber sind und dies auch nach außen professionell und ansprechend kommunizieren können.
Die Expertin
Prof. Dr. Anja Lüthy, Dipl.-Psychologin, Dipl.-Kauffrau (FH) ist Professorin für die Schwerpunkte Dienstleistungsmanagement und -marketing am Fachbereich Wirtschaft der Technischen Hochschule Brandenburg. Nebenberuflich ist sie als Speakerin, Trainerin und Coach in Gesundheits- und Sozialeinrichtungen bundesweit tätig. Ihre Themenfelder sind Unternehmenskultur, generationsübergreifende Führung, Employer Branding, Personalmarketing, Online Recruiting via Smartphone, Social Media und Apps.
Mehr Informationen unter www.luethy.de, Twitter @AnjaLuethy