![Medilotsen bei der Arbeit](https://aerztestellen.aerzteblatt.de/sites/default/files/styles/daev_career_guide_article/public/medilotsen_c_fw.jpg?itok=iAqnnS75)
Unsere Gesellschaft verändert sich. Dadurch entstehen auch neue Arbeitsplätze für Ärztinnen und Ärzte. Ein spannendes Projekt nimmt gerade in Hamburg Fahrt auf: die MediLotsen.
Jeden zweiten Tag klagt Herr F. bei der Sozialmanagerin der Erstaufnahme-Einrichtung für Asylsuchende in Hamburg-Rahlstedt über Schmerzen in der Brust. Klar, dass ein medizinischer Laie da anfangs an einen Herzinfarkt denkt. Doch soll die Sozialpädagogin für den gleichzeitig unter muskuloskelettalen Beschwerden und seiner sozialen Situation leidenden Bewohner auch noch beim vierten Mal den Rettungswagen rufen? Zumal zuvor nie eine vom Herzen ausgehende Ursache festgestellt wurde? Oder was sollte sie sonst tun?
„Eine typische Situation. Das Sozialmanagement muss häufig entscheiden, wie dringlich der medizinische Beratungsanlass ist. Oder welche Facharzt-Praxis geeignet wäre. Und meist stehen die Mitarbeitenden mit dieser für sie belastenden Abwägung der nächsten Schritte allein da“, erklärt Nils Arnold. Der Allgemeinmediziner ist seit Jahren sowohl klinisch in den Unterkünften, als auch konzeptionell und beratend in der Versorgung von Schutzsuchenden tätig. Um die dortigen Beschäftigten zu entlasten, wurde nun in Hamburg ein bundesweit bislang einmaliges Projekt gestartet: die MediLotsen.
Hilfe für benachteiligte Menschen
Initiator ist Fördern & Wohnen (F&W). Das Tochterunternehmen der Freien Hansestadt betreut circa 50.000 Obdach- und Wohnungslose sowie Geflüchtete in Erstaufnahmen, Not- und Folgeunterkünften. „Die MediLotsen sind als multiprofessionelles Team gedacht, das die Beschäftigten bei der Einschätzung von medizinischen Sachverhalten berät“, erläutert Arnold, der (F&W) beim Aufbau dieser neuen Abteilung unterstützt.
Arnold und die zukünftig dem Bereich übergeordnete Geschäftsbereichsleitung Melanie Anger hatten 2020 die Idee für das Projekt und stießen damit auch gleich bei der Geschäftsführung auf offene Ohren. Nach unternehmensinternen Prozessen, einer Bedarfserhebung bei den Mitarbeitenden und Abstimmungen mit der zuständigen Behörde wird jetzt losgelegt.
Die Crew, die dafür derzeit zusammengestellt wird, soll möglichst alle nötigen medizinischen Kompetenzen abdecken. Die Leitung besteht aus einem Arzt und einer Ärztin, im Jobsharing arbeitend, sowie einer Gesundheitswissenschaftlerin. Diese Doppelspitze wird das künftige Team aussuchen, das aus folgenden Professionen bestehen soll: eine Pflegefachkraft, ein/e Psychologe/in, eine Hebamme sowie eine Verwaltungskraft, die auch bei der Terminsuche unterstützt, plus möglichst ein/e weitere/r Arzt/Ärztin. Der Umfang der Mannschaft wird bei Bedarf kurzfristig angepasst.
Die Kernaufgaben der MediLotsen
„Das Sozialmanagement kann die einfacheren medizinischen Probleme, um die es meist geht, in der Regel gut einschätzen und die Menschen einer entsprechenden Versorgung, zum Beispiel dem Hausarzt, zuführen. Die MediLotsen sind Ansprechpartner für die medizinisch komplizierteren oder besonders schwer an die Regelversorgung anzubindenden Fälle“, sagt Arnold. Der erste Kontakt erfolgt unkompliziert über eine unternehmensinterne Telefon-Hotline. Eine Kommunikation via E-Mail ist ebenfalls möglich, auch da sich auf diese Weise Befunde übermitteln lassen. Komplexere Fragen landen bei der medizinischen Leitung.
„Gegebenenfalls intervenieren die MediLotsen auch, zum Beispiel bei einer vorzeitigen Entlassung, was bei schlecht oder nicht versicherten Patienten immer wieder passiert. Ein Gespräch mit der entlassenden Einrichtung ist manchmal fachlich zielführender, um gemeinsam einen Behandlungsweg zu finden“, schildert Arnold. Zusätzlich organisieren die MediLotsen zeitlich begrenzte Sprechstunden in einzelnen Unterkünften mit besonders hohem medizinischem Unterstützungsbedarf.
Jede Menge Lobbyarbeit
Auf die ärztliche Führungsposition kommt noch ein weiterer Schwerpunkt zu: Lobby- und Netzwerkarbeit. „Die medizinische Leitung wird Kontakt zu den Berufsverbänden und bereits bestehenden Austausch-Plattformen wie Qualitätszirkeln aufnehmen und Ansprechpartner für die Ärztekammer, die Kassenärztliche Vereinigung oder Krankenhäuser sein. Denn es geht auch darum, die Klientel von Fördern & Wohnen und deren Bedarfe sichtbarer zu machen, um sie besser ins medizinische Regelsystem einzugliedern. Diese Menschen können sich selbst kaum vertreten und stehen nicht im Fokus der Politik“, begründet Arnold und nennt ein konkretes Beispiel, warum das so wichtig ist: „In meiner eigenen klinischen Arbeit in einer Erstaufnahme für Schutzsuchende stellten wir durch den engen Kontakt zu der für den Stadtteil zuständigen psychiatrischen Institutsambulanz eine zeitnahe ambulante psychiatrische Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner her. So konnten die Menschen auch mit akuteren Problemen kurzfristig fachlich qualifiziert behandelt werden und sind nicht immer und immer wieder in der Notaufnahme aufgeschlagen.“
Der Arbeitsalltag der MediLotsen
Die Mitarbeitenden der neuen Abteilung erwartet eine Tätigkeit in der Zentrale von F&W in Hamburg-Hammerbrook zu den üblichen Bürozeiten. Bereitschafts- oder Wochenenddienste sind aktuell nicht geplant. Allerdings soll das Team auch medizinische Fortbildungen für die Mitarbeitenden, Veranstaltungen und Arbeitskreise organisieren und mitgestalten, wobei die Veranstaltungen mit externen Teilnehmenden auch am Abend stattfinden. Ansonsten müssen sie nur mit einer kleinen Ausnahme „raus“ – falls unerwarteter Bedarf entsteht. Arnold: „Eröffnet eine Einrichtung ohne längeren Vorlauf in einer Gegend, in der es wenig ärztliche Versorgung gibt, kann es sein, dass wir Personen mit Bedarf kurzfristig selbst anschauen.“
Die Anforderungen
Die medizinische Führungskraft sollte über ein fundiertes, breit aufgestelltes Fachwissen verfügen, inklusive mehrjähriger Berufserfahrung. Geeignet sind Facharztbezeichnungen wie Allgemeinmedizin, Psychiatrie, Gynäkologie, Innere Medizin oder auch Pädiatrie, denn unter den Geflüchteten befinden sich auch viele Kinder. Ideal sind Erfahrungen im Umgang mit Sucht- und weiteren psychischen Problemen, wovon ein großer Teil der Klientel betroffen ist. Viele Obdach- und Wohnungslose leiden unter unbehandelten, psychiatrischen, chronifizierten Erkrankungen, die oft körperliche Folgen nach sich gezogen haben. Häufig sind chronische Wunden, entgleister Bluthochdruck oder Diabetes.
„Mental braucht es zudem Durchhaltevermögen, eine gewisse Beharrlichkeit und positives Denken. Vor allem bei der Lobbyarbeit gilt es viele dicke Bretter zu bohren. Außerdem ist Kreativität bei der Ausgestaltung der Tätigkeit gefragt. Denn man betritt quasi Neuland“, betont Anger und ergänzt: „Bei diesen Aufgaben steht das Team aber nicht alleine da, sondern wird vom Management unterstützt.“ So gehören ein kurzer Draht zu Anger und regelmäßige Besprechungen auch unter Einbindung von Arnold als bisherigem Projektleiter gerade in der ersten Zeit zur Routine dazu.
Ein Job mit Zukunft: „Den Wunsch nach einer medizinischen Unterstützung gibt es in ähnlichen Unternehmen in anderen Städten auch. Zumal die Klientel perspektivisch nicht kleiner wird. Wenn unser Konzept erfolgreich ist, kann ich mir gut vorstellen, dass es Nachahmer findet“, prognostiziert Arnold.
Ist eine Bewerbung sinnvoll?
Die Leitungsstellen der MediLotsen sind inzwischen besetzt. Das Interesse war groß. „Wenn Interesse besteht, ist eine Kontaktaufnahme weiterhin willkommen. Bei einem zukünftigen Ausbau der Abteilung werden wir Initiativbewerbungen berücksichtigen“, so Anger, deren Ressort ebenfalls die Vorstellungsgespräche der MediLotsen organisiert.