Katastrophenmedizin: Vielseitige Aufgaben für Notärztinnen und Notärzte

14 April, 2022 - 08:59
Gerti Keller
THW-Einsatz, Hochwasser 2016 in Peißenberg (Bayern)
Die Notärztinnen und -ärzte des Deutschen Instituts für Katastrophenmedizin sind auch mit dem THW bei Einsätzen unterwegs (im Bild: Unwettereinsatz 2016 in Peißenberg, Bayern).

Wir leben in bewegten Zeiten: Ob Kriege oder Naturkatastrophen, die Gefahren rücken näher. Anlass, einen Blick auf das Deutsche Institut für Katastrophenmedizin zu werfen, ein kleines Haus mit einem großen Spektrum. Dr. Johannes Schad berichtet, was seine Kolleginnen und Kollegen dort tun – und wo es bei der Katastrophenmedizin in Deutschland hapert.

Ob Jahrhundertsturm, Terroranschlag oder Pandemie: Seit mehr als 15 Jahren engagiert sich das Deutsche Institut für Katastrophenmedizin (DIFKM) für eine bessere Versorgung im Ernstfall. Dafür bietet das Institut mit angegliederter Stiftung eine breite Palette an buchbaren Dienstleistungen an. Hierfür stehen derzeit 25 festangestellte Notärztinnen und Notärzte und 250 im freien Team bereit. „Unsere Hauptarbeit ist ein ganz normaler Notarztdienst“, erläutert Dr. Johannes Schad, Ärztlicher Leiter der Stiftung. Heißt: Man unterstützt schwerpunktmäßig in Baden-Württemberg Behörden, Großveranstaltungen sowie rund 45 verschiedene Kliniken und Notarztstandorte, je nach Bedarf.

Expertenwissen für optimale Ausrüstung

Doch das ist nicht alles: Die Medizinerinnen und Mediziner kümmern sich zu einem kleineren, aber sehr spannenden Teil um verschiedenste Brennpunkte. Dazu zählen Forschungsprojekte, wie das Paed-Kit. „Diese Initiative entstand aus der unmittelbaren Praxis. Denn wir haben auch Kindernotärzte an Bord und die bemängelten das Material, das in manchen Fahrzeugen für pädiatrische Notfälle zur Verfügung steht. Das ist oft lieblos zusammengestellt und mitnichten ein Top-Standard“, erklärt der Facharzt für Chirurgie und LNA. Also haben sich einige Kollegen zusammengesetzt und in Kooperation mit den Universitätskliniken Tübingen und München eine Zusatztasche entworfen, die mittlerweile bundesweit vertrieben wird.

Bei einem anderen Projekt ging es um intelligente Einsatzbekleidung für Polizei- und Sicherheitskräfte. „Hierzu steuerten wir unser medizinisches Wissen bei. Denn manche Einsätze sind körperlich sehr belastend. Neben einer GPS-Ortung zeigen in der Schutzweste nun Detektoren parallel Herzfrequenz und Blutdruck an. So sieht die Einsatzleitung, wenn beispielsweise ein Feuerwehrmann in den kritischen Bereich kommt und kann ihn eventuell auswechseln.“ Zurzeit steht ein Leitfaden zur Ethik in der Katastrophenmedizin im Fokus. Dieser erscheint im Sommer und behandelt unter anderem die aktuellen Fragen der Triage oder ethische Dilemmata im Einsatz – auch bei einem Krieg in Deutschland.

Schlecht gerüstet für den Ernstfall: Uralte Klinikalarm-Pläne 

Ferner berät das DIFKM bundesweit Krankenhäuser in Notfall-Planung und Krisenmanagement. Auf die Frage, wo es hapert, muss Schad allerdings etwas galgenhumorig lachen und antwortet: „Meist wurde da mal irgendetwas vor zehn oder 15 Jahren erstellt. Klinikalarmpläne waren immer ein sehr ungeliebtes Baby.“ Denn dies koste zunächst, ohne direkt etwas einzubringen. Aber: Im Ernstfall kann das ein fataler Fehler sein. Und genau hier kommen die Spezialisten vom DIFKM ins Spiel. Werden sie angefragt, machen sie eine Ist-Analyse, aktualisieren die Notfallpläne und führen Schulungen sowie – ganz wichtig – Übungen durch. Schad: „Unser spezielles Notarzt-Team geht in der Klinik mit den Beteiligten alle Fragen gemeinsam durch, zum Beispiel: Wo befindet sich dieses und jenes Material? Woher kommt der Saft, wo steht das Notstromaggregat?“ Denn es müssen zahlreiche unterschiedliche Punkte geklärt und koordiniert werden, inklusive Verlegungsmanagement. Vor allem, wenn das Ganze nicht nach einem Tag vorbei sein sollte.

Dafür ist es unerlässlich, dass jemand vom Haus den Lead übernimmt. Denn die Sache ist etwas heikel. So müssen im Ereignisfall Hierarchien verändert werden. Da bekommt der Leiter Krisenstab plötzlich Durchgriffsrechte und kann zum Beispiel bestimmen, dass Operationen verschoben werden. „Das kann durchaus zu Reibereien in der Rangordnung führen, aber es ist wichtig, dass alle verstehen, dass es hierbei nicht um Einzelinteressen geht“, führt Schad aus. Hinzu kommt: Der Ablauf muss geübt werden, was natürlich den regulären Krankenhausbetrieb stört. Doch nur in der Praxis offenbaren sich die Schwachstellen. „Wir denken primär medizinisch, aber auch die Verwaltung oder die Haustechnik sind weite, wichtige Felder. Und wenn dort etwas nicht funktioniert, taugt der ganze Plan nichts. Das heißt, es muss wirklich alles durchgespielt werden.“ Insofern gibt es auch nicht die eine Matrix, die auf alle Häuser passt. Auch muss alles jedes Jahr von der Klinik in Eigenregie erneut gecheckt werden: „Stimmen die Handynummern noch und was ziehe ich aus der Schublade, damit das auch in ein paar Monaten noch nachts um 2:30 Uhr funktioniert?“, erklärt Schad.

Gute Vorbereitung ist alles

Darüber hinaus können Kommunen, Landkreise und Städte das Know-how der Katastrophenmedizinerinnen und -mediziner buchen. „Das kann ein sogenanntes Health Assessment sein. Dann schauen wir uns vor Ort an, welchen Impact ein Ereignis katastrophalen Ausmaßes auf die kritische Infrastruktur hätte und erstellen Risikoanalysen für den medizinischen Bereich“, so Schad. Der Umfang hängt immer vom Bedarf des Auftraggebers ab. Das kann nur ein einzelnes Altenheim betreffen oder einen ganzen Landkreis. Je nachdem werden dafür entsprechend Kollegen und Kolleginnen abgestellt. „Zwar hat der Staat eine Schutzpflicht gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern, aber im Detail kann es doch sehr schnell sehr eng werden, zumal vieles veraltet ist. Manchmal muss man da schon ein bisschen den Staub wegpusten… Wir sehen auch, dass nach dem Ende des Kalten Krieges viel zurück gebaut wurde und das fällt uns jetzt auf die Füße. Manches ist durch Corona zwar schon besser geworden, aber es bestehen immer noch erhebliche Lücken“, schildert der 50-Jährige.

Dabei versuchen die Spezialistinnen und Spezialisten, generell die Katastrophenmedizin in all ihren Facetten abzudecken, von der Infektiologie über Naturkatastrophen bis zu chemisch-, biologisch- und radiologischen Gefahrenlagen – und zwar am besten im Vorfeld. „Die zentrale Erkenntnis unserer Disziplin lautet: Prävention ist alles. Man darf nicht bis zum großen Knall warten und dann irgendetwas zusammenschustern, sondern sollte sich Zeit nehmen, Simulationen durchgehen und die Chance nutzen, das tatsächlich vorab zu üben“, betont Schad und gibt ein Beispiel für eine gute Vorbereitung: „Bei der Quarantäne-Aktion der Wuhan-Rückkehrer im Landkreis Germersheim hatte ich unter dem zuständigen Amtsarzt die ärztliche Leitung im Infektionsbereich inne. Anschließend beauftragte uns der Landrat mit dem Aufbau einer Corona-Behelfsklinik in einer Fabrikhalle mit 100 Betten. Damals gingen in Frankreich die Zahlen so dramatisch hoch, und da wollte man sich wirklich mal proaktiv vor die Lage bringen und nicht hinterherrennen. Denn die Virus-Charakteristika waren zu diesem Zeitpunkt weitgehend unerforscht“.

Und auch wenn die Alarmsirene bereits schrillt, bietet das Institut bundesweit Unterstützung an. „Wir können für die Beratung in einem Krisenstab mit dazu gebucht werden. Oder wir sitzen tatsächlich beim THW ‚mit auf dem Bock‘ und werden eingespannt in die direkte Gefahrenabwehr.“ Das ist für Medizinerinnen und Mediziner allerdings nicht immer einfach, denn: „Da gibt es normalerweise eine örtliche Leitung, die den Hut aufhat. Die Medizin ist dann nur ein Bestandteil von vielen anderen Einsatz-Facetten und nicht immer prioritär. Da muss man sich dann eventuell auch zurücknehmen können, damit man da nicht selber Teil des Problems wird.“

Internationale Einsätze führt das DIFKM selbst nicht durch, allerdings werden die Ärzte dafür dann problemlos freigestellt. Auch Schad war schon oft in Krisengebieten unterwegs – und hat gerade im Ausland viel gelernt: „Katastrophenmedizin lebt auch ein Stück weit vom Pragmatismus. Dogmatische Ansätze bringen selten was. Es ist oft eher ein hemdsärmeliges Arbeiten, weil man ad-hoc-Lösungen braucht.“ Diese sind dann je nach Land auch kulturell deutlich eingefärbt.

Nachfrage nach Katastrophenmedizinern wird steigen

„Das Niveau der humanitären Hilfe ist in den letzten zehn Jahren deutlich gestiegen. Und auch für Katastrophenszenarien, wie dem Attentat auf dem Breitscheidplatz, hat man eine Menge dazugelernt. Insofern gewinnt die taktische Medizin an Stellenwert“, konstatiert Schad, der ebenfalls an der Universität Bonn lehrt. Das Problem sei aber: „Wir sind faktisch blank, was den Nachwuchs betrifft.“ So kommt das bereits 2010 vom DIFKM mitentwickelte Curriculum Katastrophenmedizin bislang nur in vier universitären Lehrangeboten in Deutschland vor. Außerdem gibt es, verglichen mit anderen Ländern, bis heute keine eigenständige ärztliche Fachkunde oder geschützte Ausbildungs-Bezeichnung. Und auch die hierfür ebenfalls wichtige Pflege wird in diesem Fach kaum ausgebildet. Auf der anderen Seite nehmen Großschadensereignisse weltweit zu, durch den Klimawandel und die demografische Entwicklung weltweit. „Wir haben mittlerweile die acht Milliarden-Marke geknackt, dadurch steigt auch der Siedlungsdruck“, sagt Schad, der die Folgen davon in Nepal selbst gesehen hat: „Da werden die Hänge immer weiter hoch besiedelt, der schützende Wald abgeholzt, bis das Ganze mit dem nächsten Regen eben runter rauscht. Insofern mache ich mir um die Nachfrage nach Katastrophenmedizinern keine Sorgen.“

Und wie schnell die steigen kann, sehen wir schließlich gerade jetzt. Auch Schad ist schon auf dem Sprung. Denn möglicherweise könnte es auch für ihn zu einem Ukraine-Einsatz kommen. 

Das Deutsche Institut für Katastrophenmedizin (DIFKM)

2005 entstand das DIFKM in Tübingen, dem jetzigen Nebenstandort, wegen der guten Zusammenarbeit mit den dortigen universitären Einrichtungen. Parallel wurde eine Stiftung gegründet. Diese führt im Rahmen der Sommerakademie Ausbildungen in Katastrophenmedizin für Studierende, Rettungsdienstfachpersonal und Notärzte durch. Hauptstandort ist heute Stuttgart.

Das DIFKM sucht in regelmäßigen Abständen Notärztinnen oder Notärzte mit Berufserfahrung und idealerweise auch der LNA-Fachkunde (auf Teilzeit- oder Vollzeit-Basis oder als freie Mitarbeiter). Weitere Infos: www.disaster-medicine.com und www.stiftung-difkm.de.

Der Experte

Dr. Johannes Schad

Dr. Johannes Schad ist Ärztlicher Leiter der Stiftung des Deutschen Instituts für Katastrophenmedizin. Er ist Facharzt für Chirurgie und leitender Notarzt. Außerdem ist er Alumnus und Lehrbeauftragter des Master-Studiengangs für Katastrophen-Management und Risk-Governance an der Universität Bonn/BBK und internationaler Delegierter für das DRK und IKRK in Genf. Einsätze führten ihn nach Kenia (2009), Haiti (2010), Gaza (2010), Irak (2011), Philippinen (2013), Jordanien (2014), Liberia (2015), Nepal (2015) Mossul (2017) und Bangladesch (2018).
 

Bild: © privat

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