Merkwürdige Flecken oder auch nur ein komisches Gefühl, dass etwas nicht stimmt – was tun bei Verdacht auf Kindesmisshandlung? „Hören Sie auf Ihren Bauch“, rät Prof. Wolfgang Kölfen und berichtet aus seiner langjährigen Praxis als Chefarzt der Klinik für Kinder und Jugendliche in Mönchengladbach über die richtigen Schritte.
Herr Prof. Kölfen, wann werden Sie hellhörig, dass ein Kind misshandelt werden könnte? Können Sie ein typisches Beispiel schildern?
Prof. Wolfgang Kölfen: Das gestaltet sich oft in etwa so: Da kommt Samstagabends eine Mutter, meist sind es die Mütter, die solche Kinder bringen, mit dem drei Monate alten Säugling und sagt: „Er trinkt nicht gut, ist müde, ich weiß nicht was mit ihm los ist.“ Also erst mal etwas ganz Banales, Unspezifisches. Nun kommt es ganz entscheidend darauf an, wie erfahren der behandelnde Arzt oder die Ärztin ist. Der Kollege in einer Kinderklinik, der eher für dieses Thema sensibilisiert ist, wird einen Ganzkörperstatus machen. Sieht er auffällige Dinge an der Haut wie blaue Flecken, könnte er fragen: „Was ist denn da passiert?“ Und die Mutter antwortet zum Beispiel: „Der Max ist aus dem Bett gefallen“. Nun sollten sich Ärztinnen und Ärzte immer fragen, ob das, was die Eltern sagen, zu dem Verletzungsmuster und dem Alter des Kindes passt. Wenn nicht, hat man schon den ersten großen Hinweis, dass hier etwas nicht stimmt. Das trifft auch auf den geschilderten Fall zu, denn ein so kleines Kind kann sich nicht mal drehen… Generell auffällig sind auch Stellen innen an den Knien, da verletzt sich kein Kind. Weitere typische Merkmale stellen Rötungen dar, wo ein Kind ganz fest angepackt wurde, Striemen auf dem Po oder eine geschwollene Backe, was man oft bei Älteren sieht. Die Eltern sagen dann häufig, das Kind habe sich gestoßen, sei gestürzt, das ältere Geschwisterkind habe sich draufgeworfen oder der Hund wäre schuld. Da bekommt man die „tollsten“ Geschichte zu hören.
Wie ist das weitere Vorgehen?
Prof. Wolfgang Kölfen: Das wichtigste ist jetzt, dass man als Arzt oder Ärztin die Frage „ist das Kind misshandelt worden und vom wem?“ nicht diskutiert – und auf keinen Fall im Affekt sagt „ich sehe doch, Sie haben Ihr Kind geschlagen“. Denn dann entgegnet die Mutter wahrscheinlich „hier bin ich nicht richtig, ich gehe jetzt“. In diesem Fall müsste man die höchste Karte der sofortigen Inobhutnahme spielen. Das ist juristisch gesehen aber extrem kompliziert. Stattdessen sollte der Arzt oder die Ärztin ganz ruhig sagen: „Ich sehe, ihr Kind ist krank, das müssen wir abklären. Wir nehmen es erstmal auf und schauen, wie wir ihm helfen können. Sie können gerne hierbleiben.“ Damit wäre das Kind zunächst in Sicherheit. Auf Station werden dann Profis hinzugezogen.
Was sind versteckte Anzeichen?
Prof. Wolfgang Kölfen: Neben klar erkennbaren Misshandlungen, wie Verbrühung oder Verbrennung, zum Beispiel wenn ein Kind in eine Pfanne gesetzt wurde, gibt es auch andere, nicht so offensichtliche Gesichter von solchen Verbrechen. Die sind für Ärzinnen und Ärzte, die nicht in dem Thema stecken, schwer zu erkennen. Ein Beispiel: Eine 13-jährige mit Epilepsie kam über Jahre immer wieder zu uns ins Krankenhaus, da sie ihre Tabletten nicht richtig genommen hatte und daher Anfälle bekam. Irgendwann fiel das einer Schwester auf und sie fragte „also dir gefällt es ja unheimlich gut bei uns. Wie ist das denn bei dir zu Hause? Und dann fiel so ein Satz, wie „bei Mama und Papa ist es nicht so schön.“ Und dann wollte das Mädchen auch schon nicht mehr so richtig weitererzählen. Jetzt ist wichtig, dass man sich vorsichtig annähert.
Es bringt nichts, ältere Kinder oder Jugendliche zum Sprechen zu drängen. Dann machen sie nur zu, aus Sorge, aus der Familie genommen zu werden. Diese Schwester ging behutsam vor und bekam dann zu hören „da passieren immer schlimme Sachen, wenn der Opa da ist…“ Daraufhin haben wir Psychologen und unsere speziell darauf geschulten Ärzte hinzugerufen. Es kam ans Tageslicht, dass der Großvater das Kind gelegentlich mit ins Bett nahm und missbraucht hat. Und das war auch schon der Mutter passiert. Für die war das relativ normal, da tun sich Abgründe auf! Das zeigt aber auch: Wir müssen links und rechts schauen ohne medizinischen Tunnelblick. Das ist die zweite große Geschichte, an die man denken sollte: Wenn sich eine Grunderkrankung, die man eigentlich gut behandeln kann, nicht bessert, kann das ein Hilferuf sein.
Was sollten Ärztinnen und Ärzte tun, wenn sie nichts sehen, aber ein komisches Gefühl haben?
Prof. Wolfgang Kölfen: Man sollte den Verdacht auf jeden Fall in der Anamnese notieren, damit ist das schon mal festgehalten. Ansonsten gibt es mehrere Möglichkeiten, je nach Situation. Passiert das einem unerfahrenen Assistenzarzt im Notdienst oder im allgemeinen Krankenhaus, wo man nicht so viel Erfahrung hat, könnte man sagen „ich kenne mich mit Kindern nicht so gut aus. Mir wäre es daher wichtig, dass sich der entsprechende Facharzt das Kind noch mal anschaut und die Eltern fragen: ‚Ist es okay, wenn ich Ihre Kinderärztin anrufe? Was halten Sie davon, wenn ich dort für morgen einen Termin mache?‘“ Dann hat die Kinderärztin die brennende Fackel in der Hand. Eine Möglichkeit ist auch zu sagen: „Ihr Kind gefällt mir nicht so richtig. Ich würde mir gerne morgen noch mal dies und jenes ansehen, zum Beispiel den Urin.“ Also Kontakt aufbauen. Ich könnte den Eltern aber auch vorschlagen, jemanden hinzuziehen. Stimmen sie dem zu, haben Sie das Einverständnis, mit dem Jugendamt zu sprechen. Verweigern die Eltern, können Sie anonym das Jugendamt informieren. Darüber hinaus gibt es die medizinische Kinderschutz-Hotline. Dort erreichen Sie rund um die Uhr Vollprofis, die Sie zu ärztlichen Befunden beraten. Außerdem sind die Jugendämter inzwischen verpflichtet, Ihnen Auskunft zu geben, was mit dem Kind weiter passiert ist, falls es beispielsweise nach drei Monaten wieder bei Ihnen auftaucht.
Und wenn man falsch liegt?
Prof. Wolfgang Kölfen: Das ist doch schön! Selbst wenn sich nachher herausstellt, der Verdacht ist unbegründet, war das trotzdem im Sinne des Kindes. Auch ich habe schon Kinder mit Hämatom aufgenommen und später erwies sich, dass in der Familie eine Gerinnungsstörung vorliegt. Man muss auch keine Sorge haben, dass das „den ganzen Laden aufhält“. Wer mit Kindern nicht so viel zu tun hat, sollte sich nur im Vorfeld überlegen, wen man um Unterstützung bittet. Am besten jemanden, mit dem Sie schon mal Kontakt hatten und dessen Telefonnummer Sie im Kittel haben. Das ist tausendmal besser, als nichts zu tun, aus Angst sich zu blamieren.
Was passiert, wenn ein solches Kind im Verdachtsfall auf Station aufgenommen wurde?
Prof. Wolfgang Kölfen: Erhärtet sich im Lauf der nächsten Stunden der Verdacht, werden weitere Untersuchungen durchgeführt. Bei ganz kleinen Kindern zieht man gegebenenfalls einen Augenarzt hinzu, damit der sich den empfindlichen Augenhintergrund anschaut. Dort sieht man häufig Hinweise für ein Schütteltrauma, für das es sonst äußerlich keine Anzeichen gibt. Auch würde man eine Bildgebung machen und gegebenenfalls röntgen, wenn das Kind Schmerzen an irgendeiner Stelle hat. Werden Frakturen bemerkt, lässt sich aufgrund des Musters beurteilen, ob sie frisch sind. Entdeckt man zum Beispiel einen Oberschenkelhalsbruch, würde die Mutter im Rahmen des stationären Aufenthaltes damit konfrontiert. Sie wird vielleicht antworten, dass sich das Kind zwischen den Gitterstäben verheddert habe und dann weiß man natürlich, dass das auf gar keinen Fall sein kann.
Wenn wir in der Klinik zu dem Schluss kommen, dass eine sichere Kindesmisshandlung vorliegt, wird umgehend das Jugendamt verständigt. Manche Kolleginnen und Kollegen denken immer noch, dass sie das nicht dürften, wegen der Schweigepflicht. Aber nach dem neuen Kinderschutzgesetz ist das ausdrücklich erlaubt. Und genau an der Stelle endet auch unsere Mission. Nun muss das Jugendamt eine Risikoabwägung machen. Reicht es, wenn einmal in der Woche oder täglich jemand in die Familie kommt? Viele, gerade auch die Pflegekräfte, wundern sich oft, warum das Sorgerecht nicht sofort entzogen wird. Doch in unserem Grundgesetz steht das Recht der Eltern über dem des Kindes. Der Gesetzgeber kann erst eingreifen, wenn nachgewiesenermaßen etwas Schlimmes passiert ist.
Und wenn der Verdacht bleibt, aber kein Beweis gefunden wird?
Prof. Wolfgang Kölfen: Es ist auch für Profis nicht immer eindeutig zu klären. Aber es ist wichtig, dass man das akzeptiert und sich klarmacht, dass wir als Ärztinnen und Ärzte nicht die letztendliche Entscheidung treffen. Kinderschutz erfolgt heute im Team. In diesem sind viele unterschiedliche Berufe unterwegs, die nach ihren eigenen Spielregeln arbeiten, von Sozialarbeitern bis Juristen. Jeder muss seine Grenze kennen. Doch wenn jeder an seiner Stelle wachsam ist, würde das schon sehr viel helfen. Das gilt übrigens auch für Notärztinnen und Notärzte. Werden sie beispielsweise zu einem Erwachsenen mit Atemnot gerufen und sehen, dass in der Wohnung absolutes Chaos herrscht und dort auch Kinder leben, sind sie nach der neuen Gesetzeslage verpflichtet, sich darum zu kümmern. Das ist nicht unbedingt jedem klar. Man muss das ja nicht komplett allein tun, ist aber verantwortlich dafür, Hilfe zu organisieren. So kann der Notarzt fragen: „Wer ist hier der Kinderarzt?“ Und diesen dann kontaktieren. Oder sagen, ‚ihr Kind sieht auch schlecht aus, ich glaube das nehmen wir besser mal mit, wenn Sie einverstanden sind‘. Da ist ganz klar beherztes Eingreifen gefragt.
Gibt es einen Fall, der Ihnen besonders nahegegangen ist?
Prof. Wolfgang Kölfen: Viele. Wir hatten zum Beispiel schon unklare Todesfälle bei schwerstbehinderten Jugendlichen. Da hieß es immer, die hätten sich selbst verletzt durch autoaggressives Verhalten. Einer dieser Jungen kam mit Schmerzen und einem stumpfen Bauchtrauma zu uns. Zunächst dachten wir an einen Kot-Stau, was aufgrund der mangelnden Bewegung nicht unwahrscheinlich ist. Bei der Behandlung kam aber der Verdacht auf, dass auch der Darm verletzt sein könnte, weshalb er lapratomiert wurde. Es stellte sich heraus, dass er dort tatsächlich schwer verwundet war, was nur durch Gewaltanwendung passiert sein konnte – und die war am Ende so stark, dass er verstarb. Daraufhin meldeten wir Klärungsbedarf bei der Kriminalpolizei an, woraufhin die Staatsanwaltschaft die Obduktion anordnete. Es stellte sich heraus, dass er zu Tode geprügelt worden war. Später wurden weitere Todesfälle aus diesem Pflegeheim exhumiert. Der Täter war ein Pfleger.
Mit wie vielen Fällen von Kindesmisshandlung haben Sie in der Klinik zu tun?
Prof. Wolfgang Kölfen: In großen Kinderkliniken, wie bei uns in Mönchengladbach, werden bei rund 7.000 Patientinnen und Patienten im Jahr fünf bis acht Kinder gebracht, die bei Ankunft bereits verstorben sind und wo sich als Ursache eine Kindesmisshandlung herausstellt. Dann gibt es zehn bis 15 Fälle pro Monat mit Verdacht darauf. Die „weichen“ Fälle, die eher in Richtung Vernachlässigung gehen, zum Beispiel keine U-Untersuchungen, ganz schlechter Zahnstatus, total verschüchtert, sind leider für uns schwer zu erkennen. Zumeist sind die Kinder ja nur drei bis vier Tage in der Klinik. Hier sind andere gefordert, wie Lehrerinnen und Lehrer, das Kita-Team, Sportvereine. Kinder sind doch immer irgendwo mit anderen Menschen zusammen. Alle Beteiligten sollten immer genau hinschauen und -hören. Gibt es Hinweise auf Verletzungen, Verwahrlosung, schlechten Pflegezustand? Ist ein Baby unnatürlich eingekotet, sieht die Haut im Windelbereich scheußlich aus? Oder fällt einer anscheinend immer wieder hin? Da kann jeder unglaublich viel tun, man muss nur hinschauen. Meine steile These lautet, es kann kein vernachlässigtes oder misshandeltes Kind geben, das nicht irgendein Erwachsener vorher zu Gesicht bekommen hat. Aber man hat es nicht richtig gedeutet, kein Know-how gehabt oder weggeschaut.
Sie wollen mehr erfahren?
Es gibt viele Möglichkeiten für Ärztinnen und Ärzte, sich hierzu weiterzubilden, zum Beispiel durch Kurse der Fachgesellschaften oder der Ärztekammern.
Speziell für Medizinstudierende klärt die Initiative "Viola" der Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V. (bvmd) über das Thema Kindesmisshandlung auf.
Die medizinische Kinderschutz-Hotline 0800-1921000 bietet kollegiale Beratung sowie Fallbesprechungen beim Verdacht auf Misshandlung, Vernachlässigung oder sexuellen Missbrauch. Dort arbeiten Medizinerinnen und Mediziner, die von Expertinnen und Experten aus den Bereichen Rechtsmedizin, Pädiatrie sowie Kinder- und Jugendpsychotherapie unterstützt werden.
Der Experte:
Von 1997 bis 2020 war Prof. Wolfgang Kölfen Chefarzt der Klinik für Kinder und Jugendliche der Städtischen Kliniken Mönchengladbach. Jetzt arbeitet er als Berater, Coach und Kommunikationstrainer. Er hält Vorträge und bietet Workshops für externe Ärzte, Geschäftsführungen und Hebammen an – zum Beispiel: „Hören Sie auf Ihr Bauchgefühl“: Zum Thema Kindesvernachlässigung und -misshandlung“.
Mehr Infos: www.wolfgangkoelfen.de
Foto: Städtische Kliniken Mönchengladbach / Detlef Ilgner