
Gewalt gegen medizinisches Personal ist ein zunehmendes Problem in deutschen Krankenhäusern und Praxen. Jessica Odenthal, Dipl. Sportwissenschaftlerin und Stabstelle Gesundheitsmanagement und Therapiekoordination am Klinikum Leverkusen, und Prof. Marc N. Busche, Chefarzt der Plastischen und Ästhetischen Chirurgie, bieten spezielle Gewaltpräventionsschulungen an, die Mitarbeitende auf kritische Situationen vorbereiten. Im Interview sprechen sie über die Hintergründe, die Dringlichkeit ihres Angebots und die Herausforderungen im Klinikalltag.
„Respekt ist einer Anspruchshaltung gewichen“
Herr Prof. Busche, Frau Odendahl, warum sind Gewaltpräventionsschulungen für Mitarbeitende im Krankenhaus heute so wichtig?
Prof. Marc N. Busche: Die Zeiten haben sich geändert. Früher hatte der Arztkittel oder die Kleidung des Pflegepersonals eine schützende Wirkung. Der Respekt war einfach da. Heute sehen viele Patientinnen und Patienten medizinisches Personal primär als Dienstleistende, die funktionieren müssen. Wenn das nicht der Fall ist, schlagen Frustrationen schnell in Beleidigungen oder sogar körperliche Gewalt um.
Jessica Odenthal: Hinzu kommt, dass die Hemmschwelle, aggressiv zu werden, deutlich gesunken ist. Viele Menschen sind nicht mehr in der Lage, ihre Emotionen zu regulieren, und lassen ihre Frustrationen an Mitarbeitenden aus. Unser Ziel ist es, medizinisches Personal darauf vorzubereiten, solche Situationen frühzeitig zu erkennen und sich effektiv zu schützen.
Von der Theorie zur Praxis
Wie sehen die Schulungen konkret aus?
Jessica Odenthal: Die Basis-Schulung dauert acht Stunden und legt den Schwerpunkt auf praktische Techniken. Wir trainieren einfache und effektive Methoden, um sich in einer kritischen Situation zu schützen und sicher aus der Gefahrensituation zu kommen. Deeskalierendes Auftreten und Kommunikation werden unterrichtet, aber wenn jemand bereits handgreiflich wird, funktioniert das oft nicht mehr. Dann müssen sich unsere Kolleginnen und Kollegen auch physisch schützen können. Die Schulungen richten sich nicht nur an Ärztinnen und Ärzte oder Pflegepersonal, sondern auch an Mitarbeitende in der Verwaltung oder im Patientenmanagement. Gerade in diesen Bereichen entladen sich oft Frustrationen, beispielsweise bei langen Wartezeiten.
Welche Rolle spielt eigentlich die Prävention?
Prof. Marc N. Busche: Eine überaus wichtige. Wir schärfen das Gefahrenradar der Teilnehmenden, sodass sie problematische Situationen frühzeitig erkennen und deeskalieren können. Wer Gefahren frühzeitig erkennt, kann diesen im Vorfeld oft ausweichen. Das Training umfasst zudem regelmäßige Auffrischungseinheiten, die in 90-minütigen Sitzungen alle sechs Monate stattfinden sollten.
Ein langfristiger Schutz für Mitarbeitende
Welche Rolle spielt die Unterstützung durch die Klinikleitung?
Jessica Odenthal: Sie ist essenziell. Eine Klinik muss sich klar positionieren und eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Gewalt kommunizieren. Das schafft Sicherheit und stärkt das Vertrauen der Mitarbeitenden. Gewaltprävention darf nicht nur eine Einzelmaßnahme bleiben. Es braucht ein ganzheitliches Schutzkonzept, das auch Nachsorge und juristische Konsequenzen einschließt. Wenn Mitarbeitende nach einem Vorfall allein gelassen werden, führt das schnell zu Frustration oder innerer Kündigung.
Genau hier setzen wir an. Unser Programm sensibilisiert nicht nur für Gefahren, sondern gibt den Teilnehmenden auch das Gefühl, dass sie von ihrer Institution unterstützt werden. Das ist gerade in Zeiten des Fachkräftemangels entscheidend, um Mitarbeitende langfristig im Beruf zu halten.
Wenn das Thema so wichtig ist, sollte dann nicht eine Person installiert werden, die sich darum kümmert?
Prof. Marc N. Busche: Unbedingt! Gewaltprävention muss in einer Einrichtung fest verankert sein, genauso wie es beim Brandschutz der Fall ist. Niemand würde heutzutage eine Klinik ohne eine Brandschutzbeauftragte oder einen Brandschutzbeauftragten betreiben. Genauso wichtig ist es, jemanden zu haben, der das Thema Gewaltprävention kontinuierlich im Blick behält. Diese bzw. dieser Beauftragte könnte als zentrale Ansprechperson fungieren, Schulungen koordinieren, Mitarbeitende sensibilisieren und sicherstellen, dass nach Vorfällen angemessene Maßnahmen ergriffen werden. Ein solcher Ansatz schafft nicht nur ein Bewusstsein für das Thema, sondern gibt dem Personal auch das Gefühl, dass ihre Sicherheit ernst genommen wird. Es wäre ein weiterer Schritt, um Gewaltprävention nachhaltig in den Klinikalltag zu integrieren.
Der Bedarf ist riesig
Wie groß ist die Nachfrage nach diesen Schulungen?
Prof. Marc N. Busche: Enorm. Wir könnten unsere Arbeit in der Gewaltprävention theoretisch in Vollzeit ausüben, so groß ist der Bedarf. Kliniken, medizinische Versorgungszentren und sogar niedergelassene Praxen fragen an. Besonders in der Zentralen Notaufnahme und in der pädiatrischen Ambulanz erleben wir immer wieder Hotspots für Gewalt. Lange Wartezeiten oder hohe emotionale Belastung der Patientinnen und Patienten sind hier oft Auslöser für aggressive Situationen.
Jessica Odenthal: Es sind aber nicht nur die „großen“ Vorfälle, die problematisch sind. Tagtägliche Beleidigungen und Respektlosigkeiten gehören leider mittlerweile zum Klinikalltag.
Fazit
Die Gewaltpräventionsschulungen von Jessica Odenthal und Prof. Marc N. Busche bieten Mitarbeitenden im Klinikum Leverkusen eine praktische und effektive Vorbereitung auf herausfordernde Situationen im Klinikalltag. Sie kombinieren Prävention, praktische Techniken und Nachsorge, um die Sicherheit und das Wohlbefinden des Personals zu gewährleisten. Besonders in Zeiten zunehmender Arbeitsbelastung und des Fachkräftemangels können solche Schulungen ein wichtiger Baustein für den Schutz der Mitarbeitenden und die langfristige Stabilität im Gesundheitswesen sein.
Gewaltpräventionsschulungen im Überblick
- Zielgruppe: Ärztinnen, Ärzte, Pflegekräfte, Verwaltungspersonal und Mitarbeitende im Patientenmanagement
- Inhalte: Prävention, Gefahrenradar, einfache Selbstschutztechniken, Nachsorgekonzepte
- Dauer: Basis-Schulung (8 Stunden), Auffrischungskurse (90 Minuten alle 6 Monate)
- Ziele: Frühzeitige Gefahrenerkennung, effektive Deeskalation, Erhöhung der persönlichen Sicherheit
- Besonderheiten: Praxisorientiertes Training, geeignet für alle körperlichen Voraussetzungen