Ein glücklicher Zufall: Weil die Klimaanlage des Kreiskrankenhauses Freiberg mit Luft aus dem darunter liegenden Bergwerk versorgt wird, unterliegt die Klinik dem Bergrecht. Daher kam die Grubenwehr auf den Leiter der dortigen Notaufnahme, Prof. Andreas Fichtner, zu, mit der Bitte, die medizinische Hilfe unter Tage gemeinsam zu optimieren. Das Ergebnis: Ein weltweit einmaliger, validierter Kurs, der mittels speziell abgestimmter Ausrüstung Laien in nur zwei Tagen fit für eine erweiterte Erstversorgung macht – auch über Tage.
In modernen Bergwerken und Tagebauen ist es zwar nicht mehr immer dunkel, feucht und kalt – dennoch arbeiten die Bergleute weit vom Ausgang entfernt. Daher sind sie üblicherweise erst in einem Mehrfachen der gängigen Hilfsfristen des öffentlichen Rettungsdienstes von 12 bis 15 Minuten erreichbar. Wenn dann die Alarmsirene losheult, weil ein Kumpel verunglückt ist, stellt dies die Notfallrettung oft vor große Herausforderungen. Um überhaupt zum Verunfallten zu gelangen, müssen Helfer vielleicht durch einen engen Schacht kriechen, sich abseilen oder in nicht atembare Atmosphäre begeben. Daher hätten berufsgenossenschaftlich versicherte Arbeiter von Bergbauunternehmen einen Versorgungsnachteil gegenüber der Normalbevölkerung – bei gleichzeitig deutlich höherer Rate an traumatologischen Notfällen.
„Diese Versorgungslücke wollen wir schließen“, sagt Prof. Andreas Fichtner, Leiter der Notaufnahme des Kreiskrankenhauses Freiberg. Mit dem Leiter der Grubenwehr des dortigen Forschungs- und Lehrbergwerks, Diplom-Ingenieur Frank Reuter, entwickelte der Notfallmediziner einen einzigartigen Kurs: ein spezielles Rettungskonzept mit zahlreichen neu kombinierten Elementen aus der taktischen Medizin und eine eigens darauf abgestimmte miniaturisierte Ausrüstung, die dennoch ein breites notfallmedizinisches Spektrum abdeckt. Das Besondere: Dieses Training vermittelt Nichtmedizinern innerhalb von zwei Tagen alle nötigen praktischen Fertigkeiten für die schnelle Erstversorgung eines medizinischen Notfalls bis zum Polytrauma, um schnellstmöglich Transportfähigkeit zur Übergabe an den öffentlichen Rettungsdienst zu schaffen.
Wundversorgung, Schmerztherapie, Beatmung und Senkrecht-Transport
„Wir konzipierten einen Behandlungs-Algorithmus, der ganz einfache Entscheidungswege beinhaltet und leicht anwendbar ist“, schildert Fichtner. Auf dem Stundenplan stehen Wundversorgung und Blutstillung, kardiorespiratorische Stabilisierung, Reposition sowie Schienung von Frakturen und Luxationen, Intraossärzugang, Medikamenten- und Flüssigkeitsgabe, Thoraxentlastungspunktion und invasive Beatmung bis zur Reanimation mit Defibrillation – aber auch nicht mehr. Der Notfallmediziner erklärt: „Die Teilnehmenden sollen sich keine differentialdiagnostischen Gedanken machen, die sie am Ende verunsichern würden, sondern nach einem klaren Wenn-Dann-Algorithmus handeln“.
Für die Umsetzbarkeit wurde unter anderem der übungsintensive intravenöse Zugang durch einen sternalen intraossären ersetzt. Die Wirkstoffeinheiten der wenigen essentiellen Medikamente wiederum sind so kombiniert, dass immer eine ganze Ampulle aufgezogen und verabreicht wird. Und die Beatmung erfolgt über ein umluftunabhängiges druckgesteuertes halbautomatisches Gerät, das bei den Grubenwehren ohnehin vorhanden ist. Extra dafür hat das sächsische Team einen extrem kleinen Rettungsrucksack mit den Maßen 47x36x26 Zentimeter zusammengestellt, welcher die komplette Ausrüstung bis auf eine Roll-Schleif-Trage enthält. Rucksack und Inhalt funktionieren unter mechanischer Belastung ebenso wie bei schlechten Lichtverhältnissen, Nässe, Feuchtigkeit und Dreck. „Damit lässt sich eine Erstversorgung bis zur Transportfähigkeit regelmäßig in weniger als 15 Minuten durchführen“, informiert Fichtner.
Zudem umfasst die Schulung die ausgetüftelte Lagerung auf einer Roll-Schleif-Trage mit aktiver Wärmung in einer speziell konstruierten elektrischen wasserdichten Wärmematte, um hypothermie-bedingten Gerinnungsstörungen zu begegnen. In dieser werden die Patienten transportsicher eingepackt, wobei die medizinischen Materialien mitverwendet werden. „Die Sauerstoffflasche dient beispielsweise zur Schienung der Unterschenkel. Für den intraossären Zugang gibt’s einen Zuspritzhahn in Sternumnähe. Dort haben wir auch unser Pulsoximeter und das Beatmungsgerät fixiert“, führt der Mediziner aus. Auf diese Weise ist es möglich, einen komplett bewegungsunfähigen Patienten während des Transportes noch zu überwachen, eine Infusion ohne Schwerkraft laufen zu lassen, Medikamente zu applizieren und am Ende so auch einen bewusstlosen und invasiv beatmeten Schwerverletzten senkrecht nach oben zu bekommen.
Tendenziell steigende Unfallzahlen im Bergbau
Retter mit diesen Fertigkeiten auszustatten, ist zwingend notwendig. Früher hatten die großen Bergbaubetriebe noch Betriebsärzte und Werkssanitäter, die mit einfuhren. Doch in den letzten Jahrzehnten wurden viele Zechen stillgelegt. Inzwischen nimmt der Bergbau über und unter Tage wieder zu – mit rund 2.800 Betrieben allein in Deutschland. Es geht allerdings nicht mehr um Erze oder Kohle, sondern um seltene Erden, wie Lithium. Hinzu kommen Forschungen in der Tiefe zu Endlagerung oder Sprengstoffversuche. Auch der Kalibergbau wird hierzulande noch in großem Umfang betrieben.
Doch für eine Rettung unter Tage ist weder der öffentliche Rettungsdienst noch die Feuerwehr ausgebildet oder ausgerüstet. Dadurch können Bergungszeiten von mehreren Stunden entstehen. Fichtner schildert: „Erstretter müssen sich zunächst umziehen, auch brauchen sie eine Lampe und einen Sauerstoffselbstretter oder sogar Kreislaufgerät. Dann fahren sie mit dem Fahrkorb vielleicht in 700 Meter Tiefe. Jetzt ist schon mindestens eine halbe Stunde vergangen. Dann geht‘s mit einem Auto mit 50 km/h eine Dreiviertelstunde bis zum Vortrieb, um überhaupt zum Patienten zu gelangen.“ Zahlen aus Österreich zeigen, dass Unfälle keineswegs abnehmen. Dabei verläuft jeder dritte schwer. Meist kommt es dabei zu traumatologischen Notfällen, verursacht durch Arbeitsmittel, Steinfall oder Strom.
Ein Zufall führte zum Curriculum
„Das ist eine unhaltbare Situation, zumal sich die Notfallmedizin für die Normalbevölkerung deutlich verbessert hat“, betont Fichtner, der rein zufällig zum Thema kam: Die Klimaanlage seines Arbeitgebers wird aus dem darunter liegenden Lehr- und Forschungsbergwerk der TU Bergakademie Freiberg gespeist, in dem bis vor gut 100 Jahren Silber geschürft wurde. „Vor vier Jahren kam der Chef der Grubenwehr auf mich zu und erklärte, dass unsere Klinik deswegen ein Bergbauunternehmen ist und wir sie unterstützen müssen. Er bat uns, das Dilemma der unzulänglichen medizinischen Versorgung gemeinsam zu lösen“, erinnert er sich.
Und es hat geklappt – und sogar viel besser, als zunächst gedacht. „Wir konnten in einer Studie zeigen, dass die von uns ausgebildeten Grubenwehr-Teilnehmer im Vergleich zu mehreren Kohorten des öffentlichen Rettungsdienstes in diesem schmalen Spektrum nach dem zweitägigen Kurs genauso gut sind, wie erfahrene Rettungsassistenten und Notfallsanitäter“, so Fichtner. Diese handeln als Ersthelfer im Rahmen der Notkompetenz, um das im Vergleich zur Normalbevölkerung typischerweise verlängerte Intervall bis zum Beginn der professionellen Notfallversorgung zu überbrücken.
2021 wurde das weltweit einmalige Curriculum im Rahmen des Hans-Werner-Feder-Preises der Deutschen Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA) ausgezeichnet, ein Jahr später in einer Konsensuskonferenz mit den Berufsgenossenschaften, Gewerkschaften und Landesbehörden nach umfassender Prüfung auch juristischer Aspekte in die Leitlinien des Grubenrettungswesens aufgenommen.
Training in 1.000 Metern Tiefe
Rund zwanzig dieser nahezu ausschließlich praktisch aufgebauten Tactical Medical Mining Rescue-Kurse (TMR®) wurden bislang durchgeführt. Sie finden mit maximal sechs Teilnehmenden in realistischen Szenarien statt, heißt: direkt in der Arbeitsumgebung, teilweise in über 1.000 Metern Tiefe. Manchmal werden Hintergrundinformationen in laminierten A3-Folien gezeigt, da sich die Atmosphäre in Salzbergwerken nicht mit Beamern verträgt. Geübt wird zunächst an Dummies, dann an Schauspielpatienten, so realistisch wie möglich. Die Szenarien werden von Außenstehenden kaum als Übung erkannt. Die Kursleitung obliegt stets einem Instruktoren-Duo aus einem erfahrenem Notarzt und einem versierten Grubenwehr-Truppführer, welche zuvor speziell – auch medizindidaktisch – ausgebildet wurden. Am Ende erfolgt eine Prüfung, die Absolventen erhalten ein Universitätszertifikat der TU Bergakademie Freiberg.
Das Wissen kam übrigens schon zum Einsatz: „Mehrere Tage nach dem Kurs ereignete sich ein schwerer Unfall in einem von uns geschulten Werk. Der Patient ist initial unter Tage gut versorgt und an die Hubschrauberrettung übergeben worden“, berichtet Fichtner nicht ohne Stolz.
Mittlerweile finden auch Trainings für lokale Trainer statt, die dann das Wissen vor Ort in ihren Betrieben in Übung halten können. An der TU Bergakademie Freiberg wurde inzwischen eine Vorlesungsreihe zu Sicherheit und Rettung in der Rohstoffindustrie implementiert, die auf dem TMR-Konzept basiert. Zunehmend wird das Konzept auch international nachgefragt.
Auch geeignet für die Bergwacht und Wälder
Die Teilnehmenden sind meist Grubenwehren. Es können aber auch andere Interessierte den Kurs absolvieren, der sich zudem für verschiedene übertägige Einsätze eignet. „Wir überlegen gerade, wie wir das Training sinnvoll in die Breite bringen können“, erläutert Fichtner und ergänzt: „Unser Einsatzschema taugt genauso für die Erfordernisse der Bergwacht, wie für entlegene Regionen. Das trifft zum Beispiel zu, wenn ein Waldarbeiter verletzt wird, zu dem kein Hubschrauber und auch kein RTW durchkommt, oder für große Tagebaue und Steinbrüche, in denen der Rettungshubschrauber nicht landen kann.“ Für Freiwillige Feuerwehren wurde das Konzept bereits angefragt.
Der TMR-Notfallrucksack ist zum Kurs erhältlich. „Den kann man gut im Auto verstauen, ohne dass gleich der ganze Kofferraum voll ist, oder auf dem Motorrad“, unterstreicht der 46-Jährige, der mit seinem Team mittlerweile ganz schön rumkommt. So werden sie regelmäßig auf verschiedene nationale und internationale Kongresse eingeladen – etwa von der Colorado School Of Mines und der International Mine-Rescue-Body-Konferenz in Südafrika. Darüber hinaus betreuen sie unter anderem ein neues Industrieminen-Projekt in Grönland.