Selbstfürsorge: Wie sich Ärztinnen und Ärzte besser um sich selbst kümmern

24 Oktober, 2023 - 08:16
Dr. med. Matthias Weniger
Herz-Geste

Der ärztliche Alltag ist geprägt von einer hohen Arbeitsfülle mit großer Verantwortung und schlechter Planbarkeit. Trotz fester Zeiten, wie Visiten oder Patientensprechzeiten, ist hohe Flexibilität gefordert, um auf Unvorhergesehenes reagieren zu können. Das führt dazu, dass der Stress bei vielen extrem hoch ist.

Im Wesen der Stressreaktion liegt es, dass die Fähigkeit, in sich selbst hinein zu fühlen und seine eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen, deutlich nachlässt. Dieser Verlust der Selbstwahrnehmung ist aus Sicht der Evolution extrem sinnvoll. Wenn man von einem wilden Tier gejagt wird, ist es sinnvoll, dass Gedanken rund um die eigene Selbstfürsorge wie „Jetzt eine Pause machen, wäre total klasse“ nicht aufkommen und verdrängt werden. Geschieht dies aber dauerhaft, verlieren Menschen ihre Selbstwahrnehmung und die Selbstfürsorge leidet.

Paradoxe Stressreaktion kann krank machen

Hinzu kommen weitere Faktoren, die es schwerer machen, sich selbst zu spüren. In Zeiten von Stress aktiviert der Körper den „Kampf-, Flucht- oder Schockstar-Modus“. In diesem Zustand werden Hormone wie Cortisol und Adrenalin ausgeschüttet, die kurzfristig die Energie und den Fokus erhöhen sollen, um mit der Bedrohung umzugehen. Diese Reaktion kann jedoch zu impulsivem Verhalten und verringerter Selbstkontrolle führen, was wiederum ungesunde Gewohnheiten wie übermäßiges Essen, Alkohol- oder Tabakkonsum oder übermäßigen Medienkonsum zur Folge haben kann. Das Gehirn ist darauf programmiert, positive Reize zu suchen und sich in stressigen Situationen zu belohnen. Ungesunde Gewohnheiten wie Fernsehen, Junkfood oder Alkohol können vorübergehend ein angenehmes Gefühl vermitteln und als Bewältigungsmechanismus dienen, um Stress abzubauen. Das Belohnungssystem verstärkt diese Verhaltensweisen, was in einen Teufelskreis führen kann. Insgesamt kann man von einer „paradoxen Stressreaktion“ sprechen. Je größer der Stresspegel, desto weniger gut füllt man die eigenen Ressourcen auf gesunde Art wieder auf. In der Folge führt dies auch zu dauerhafter Erschöpfung und Erkrankungen wie Burn-out und Depressionen.

Um die Akkus wieder aufzufüllen, sollten Ärztinnen und Ärzte zwei Strategien wählen. Regelmäßige Pausenzeiten und die Möglichkeit, während der Arbeit kurz zu entspannen, sowie ein strukturiertes Auffüllen außerhalb der Arbeitszeit. Im Arbeitsalltag fällt es extrem schwer, Pausen zu machen, um besser „auf die Bremse treten zu können“. Feste Rituale können dabei helfen, beispielsweise kann man den Moment, in dem man die Hände am Desinfektionsspender desinfiziert, dafür nutzen, kurz innezuhalten, drei tiefe Atemzüge zu nehmen und sich auf den Moment zu konzentrieren. Oder man kann die ersten drei Treppenstufen in Achtsamkeit gehen, ohne dabei an die anstehenden Themen zu denken. Auf diese Weise lernt der Geist aus dem „Funktionieren-Modus“ in den „Sein-Modus“ umzuschalten. So trainiert man die innere Bremse, den Parasympathikus.

Auffüllen der Energie-Akkus in der Freizeit

Das Auffüllen in der Freizeit sollte, je enger der Arbeitsalltag getaktet ist, umso strukturierter geplant werden. Dabei können Ärztinnen und Ärzte folgende Fragen reflektieren:

  • Was tut mir gut? Welche Aktivitäten geben mir Kraft, was macht mir Freude und Spaß?
  • Was habe ich in der Vergangenheit bereits gemacht und was hat mir gut getan, was ich derzeit nicht mehr oder nicht mehr regelmäßig mache?
  • Welche neuen Ideen habe ich? Wovon geh ich aus, dass es mir guttun könnte?

Beispielsweise könnte auf der ersten Ebene Folgendes stehen: Mit dem Hund jeden Tag regelmäßig spazieren gehen, zweimal in der Woche schwimmen oder vorwiegend vegetarisches Essen genießen. Beim Betrachten der Faktoren, die bereits in der Vergangenheit geholfen haben, stehen beispielsweise: Lauftreff mit Arbeitskollegen, Intervallfasten, regelmäßige Saunabesuche, Spieleabend mit der Familie oder Freunden oder qualitative Zeit mit den eigenen Kindern verbringen. Grundsätzlich können folgende Themen helfen, die eigenen Akkus wieder aufzufüllen: Bewegung und Sport, kreative Ausdrucksformen, Entspannung und Meditation, Zeit mit sich selbst, soziale Kontakte pflegen, digitale Auszeiten nehmen, gesunde Ernährung, genügend Schlaf oder Dankbarkeit praktizieren.

Aktivitäten konkretisieren und einschätzen

Um einen konkreten Plan zu entwickeln, hilft es, die Themen zu konkretisieren und zu überlegen, welche Aktivitäten einfach in der Umsetzung sind und hoch in der persönlichen Wirksamkeit.

Dabei helfen folgende Fragen:

  • Wie einfach oder schwer ist es, diese Aktivität in meinen persönlichen Alltag zu integrieren und wie viel Kraft und Energie erhalte ich, wenn ich aktiv werde?
  • Was brauche und benötige ich, um die Aktivität konkret in meinem Alltag umzusetzen?
  • Wie sieht ein konkreter Plan aus und was ist meine Motivation?
  • Warum sollte ich überhaupt aktiv werden?
  • Was habe ich davon?

Dabei kann es helfen, die eigene Motivation auf einer Skala zwischen 1 (eigentlich interessiert es mich wenig) und 10 (ich bin voll und ganz motiviert) einzuschätzen. Um Dinge anzugehen, sollte man sich auf der Skala mindestens bei 7–8 befinden. Anschließend ist es hilfreich, mindestens vier bis fünf Schwierigkeiten und Hindernisse einzuplanen, die einen davon abhalten, das Ziel zu erreichen. Berufliche oder private Termine, regnerisches Wetter, die innere Demotivation oder auch mangelnde Energie sind Beispiele für solche Hindernisse. Dafür sind konkrete Wenn-dann-Pläne hilfreich. Dabei überlegt man im Vorfeld, was man konkret machen kann, wenn man beispielsweise joggen gehen möchte und es regnet.

Schutz der eigenen Gesundheit

Insgesamt ist das Auffüllen der Energie-Akkus ein zentrales Instrument, um nicht nur die eigene Gesundheit zu schützen, sondern auch die Patientenversorgung zu verbessern. Falls es bereits Anzeichen einer möglichen Beeinträchtigung gibt, wie ausgeprägte Schlafstörungen, Interessensverlust oder das Gefühl, dass Dinge, die einem früher Freude machten, dies nicht mehr tun, sollte man auf eine Selbstmedikation verzichten und professionelle Hilfe aufsuchen.

Dtsch Arztebl 2023; 120(43): [2]

Der Autor

Dr. med. Matthias Weniger
Ärztlicher Leiter
Institut für Stressmedizin Rhein Ruhr
45525 Hattingen

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