
Eine Studie des Uniklinikums Ulm zeigt erstmals, dass Notärzte im Rettungsdienst häufiger zur Narkosespritze greifen als ihre Kolleginnen – zumindest bei psychiatrischen Notfällen. Grund: Frauen setzen auf empathische Kommunikation. Dr. Benedikt Schick, selbst Notarzt und Erstautor gibt Auskunft.
Herr Dr. Schick: Was sind die Ergebnisse der Studie?
Dr. Benedikt Schick: Wir konnten zeigen, dass männliche Notärzte in psychiatrischen Notfallsituationen mehr als doppelt so häufig intravenös Hypnotika verabreichen als weibliche. Zudem verzichten Notärztinnen deutlich öfter bewusst auf die Messung von Vitalparametern, um die Situation a priori nicht eskalieren zu lassen. Im Vergleich zu anderen Einsätzen ist diese bei psychischen Ausnahmesituationen gar nicht so einfach. Hier hält kaum ein Patient freiwillig seinen Arm hin.
Woran liegt das? Brauchen Männer eher harte Fakten?
Dr. Benedikt Schick: Männliche Ärzte scheinen dazu zu neigen, sich auf einer messbaren Basis wohler zu fühlen. Sie handeln nach dem Motto „das ist mein Schema, das muss ich abarbeiten, ich brauche das, um eine Risikoeinschätzung treffen zu können“. Die Messung von Vitalparametern, die Anlage eines intravenösen Zugangs oder auch nur die Blutzuckermessung wird dann im Einzelfall auch gegen den expliziten Patientenwillen durchgesetzt. Dies ist letztendlich ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte und kann zu einer Eskalation des Einsatzes beitragen. Ärztinnen wiederum versuchen, mehr mit den Betroffenen zu reden. Durch eine empathische, angepasste Kommunikation schaffen sie es schneller, Vertrauen zu gewinnen. Dadurch lassen sich Patientinnen und Patienten, trotz anfangs ablehnender Haltung, mitunter zur Mitarbeit bewegen.
Wie relevant sind diese Unterschiede? Wie viele Einsätze sind davon betroffen?
Dr. Benedikt Schick: Psychiatrische Notfälle machen in Deutschland ungefähr jeden dritten Einsatz aus. Allein an den drei Notarztstandorten in Ulm haben wir pro Jahr bis zu 7.000 Notfalleinsätze. Das kommt schon eine relevante Anzahl zusammen.
Was sind das für Fälle? Welche sind am gefährlichsten?
Dr. Benedikt Schick: Fast die Hälfte betreffen Alkoholvergiftungen oder Misch-Intoxikationen, wobei das klinische Bild extrem variabel ist. Es reicht von tiefkomatösen bis zu massiv aggressiven Zuständen. Da muss man mitunter die Polizei dazu holen. Weitere rund zehn Prozent machen „psychische Ausnahmesituationen“ aus, wenn Menschen durch Lebensumstände wie Trauerfälle oder Trennungen außer sich sind. Treffen wir hierbei zum Beispiel auf jüngere Männer, kann das ganz schnell in verbale Aggressivität umschlagen. Viele lassen sich aber schon durch unsere bloße Anwesenheit beruhigen.
Welche Fälle gibt es noch? Wann hilft empathische Kommunikation besonders?
Dr. Benedikt Schick: Bei knapp 17 Prozent handelt es sich um Suizide oder -versuche. Je nach Methode kann man da auch einen Schwerstverletzten vor sich liegen haben. Das lässt sich als Notarzt allerdings ganz gut handhaben, weil der Arbeitsauftrag klar ist. Komplizierter wird es, wenn jemand „nur“ eine Suizidabsicht geäußert hat. Meist wurde die Polizei oder die Rettungsleitstelle dann von Verwandten oder Freunden gerufen. Wir als Nicht-Psychiater müssen nun vor Ort einschätzen, inwieweit tatsächlich akute Suizidgefährdung besteht. Das ist extrem schwierig, denn selten sagt derjenige „jawohl, ich will mich umbringen“. Stattdessen muss man viel zwischen den Zeilen interpretieren. Gerade hier kommt es sehr auf die Kommunikationsstrategie an, ob man diese Menschen durch gutes Zureden dazu bringen kann, ohne Zwangsmaßnahmen mitzukommen. Weitere knapp zehn Prozent betreffen Agitiertheit, also sehr aufgeregte Stimmungslagen, wie Angst- oder Panikstörungen. Gerade in diesen Fällen stand bei den Kolleginnen signifikant öfter das Gespräch im Vordergrund, während die Kollegen darauf bestanden, Vitalparameter zu erheben.
Hat die rein physische Präsenz möglicherweise auch einen Einfluss?
Dr. Benedikt Schick: Wenn ich mich selbst betrachte – in Notarztstiefeln bin ich 1,95 Meter groß – und ich dann noch mit zwei durchtrainierten Notfallsanitätern in der Tür stehe, kann das schon etwas bedrohlich wirken. Auch kann die bloße Anwesenheit eines Manns einen männlichen Patienten triggern. Da habe ich subjektiv manchmal schon das Gefühl „okay, der will uns jetzt zeigen, was er kann“ – nach dem Motto „ihr habt mir gar nichts zu sagen“. Und der sucht dann auch gerne die Konfrontation. Im Gegensatz dazu scheint es bei vielen Patienten eine Hemmschwelle zu geben, auf eine Frau loszugehen. Selbst, wenn sie schwer intoxikiert sind.
Hat sie das Ergebnis der Studie eigentlich verblüfft?
Dr. Benedikt Schick: Ja, ich hätte wirklich nicht gedacht, dass sich das Verhalten der Geschlechter so unterscheidet – eher, dass es sich die Waage hält. Das schließt mich übrigens ein, ich bin ja Teil des Datensatzes. Der häufige Einsatz von intravenösen Hypnotika liegt allerdings auch ein bisschen an dem Kollektiv, dass wir analysiert haben. Es bestand ausschließlich aus Anästhesistinnen und Anästhesisten, die im täglichen Umgang mit diesen Medikamenten gut geschult sind. Aber das ist schließlich kein Freifahrtschein, wir wissen um die Nebenwirkungen – und es ändert nichts an dem Gender-Effekt. Keine geschlechterbedingten Unterschiede gab es jedoch bei der Häufigkeit der Durchsetzung einer Krankenhausaufnahme gegen den Patientenwillen. Die Notärzte griffen allerdings auch dabei häufiger zur Spritze.
Haben die Erkenntnisse schon etwas geändert in Ihrer Arbeit?
Dr. Benedikt Schick: Wenn wir eine Kollegin auf dem Rettungswagen dabeihaben, sprechen wir uns öfter im Team ab, ob sie die Ansprache übernehmen sollte. Das kann man als Notarzt durchaus mal einer Notfallsanitäterin übertragen. Man merkt vor Ort dann sehr schnell, ob sich dadurch das Ganze entspannt. Selbstverständlich lassen wir die Kollegin nie allein im Raum, sondern bleiben in der Situation.
Und natürlich bin ich inzwischen selbst sensibilisiert. Wenn ich Begleitdiagnosen wie Depressionen auf dem Arztbrief sehe, versuche ich diese Betroffenen anders anzusprechen – und herauszufinden, ob das Herzklopfen oder die Brustenge vielleicht Ausdruck einer psychiatrischen Erkrankung sind. Gab es vielleicht aktuell ein auslösendes belastendes Ereignis?
Was sind Ihre Schlussfolgerungen aus der Studie?
Dr. Benedikt Schick: Auch andere Erhebungen, gerade im Bereich der allgemeinmedizinischen Versorgung, der Chirurgie und der Gynäkologie haben bereits verdeutlicht, dass die Gesprächsatmosphäre bei Ärztinnen als angenehmer empfunden wird. Dadurch bekommen die Behandelnden auch mehr Informationen von Patientinnen und Patienten. Überhaupt sagen Ärztinnen eher, ich muss noch mehr wissen, um entscheiden zu können. Diese Unterschiede sollten Männer als Ansporn und Chance begreifen. Ein hehrer Wunsch wäre, dies auch in die Aus- und Weiterbildung einfließen zu lassen, was aber so schnell nicht zu erwarten ist. Man kann aber versuchen, seine Kollegen im persönlichen Berufsumfeld zu sensibilisieren nach der Devise: „Schaut doch mal, wie eure Kolleginnen das machen“. Und die Einsätze auch daraufhin besprechen und mehr Supervision durchführen.
Gibt‘s Folgeprojekte?
Dr. Benedikt Schick: Die Studienlage zu diesem Thema ist extrem spärlich, auch weil es kaum möglich ist, Daten während eines Einsatzszenarios zu erheben. Trotzdem sind weitere Untersuchungen wichtig, denn dadurch kann die Patientenversorgung durchaus verbessert werden. Wir haben deswegen etliche Projekte angeschlossen. Ich freue mich am meisten auf die Resultate unserer prospektiven Folgestudie: In Interviews mit Patientinnen und Patienten untersuchten wir, inwieweit sich der Ablauf prähospitaler Notfalleinsätze auf die nachgelagerte Arzt-Patientenbeziehung in der Psychiatrie auswirkt.
Wird dadurch in letzter Konsequenz auch das Vertrauensverhältnis, auf dem die psychiatrische Arbeit maßgeblich basiert, negativ beeinflusst?
Dr. Benedikt Schick: Gerade wer noch keine Psychiatrie- oder Krankenhauserfahrung hat, geht schließlich davon aus, dass medizinisches Personal, insbesondere Ärztinnen und Ärzte, keine physische oder verbale Gewalt zur Durchsetzung medizinischer Maßnahmen anwenden. Im Kontext psychiatrischer Erkrankungen kann dies jedoch bei fehlender Krankheitseinsicht und Eigen- oder Fremdgefährdung notwendig werden. Die vorläufige Datenauswertung zeigt, dass es für Patientinnen und Patienten einen erheblichen Unterschied macht, wer diese Gewalt ausübt. Auf den Punkt gebracht: Übt der Arzt/die Ärztin prähospital Gewalt aus, verschlechtert sich die Arzt-Patienten-Beziehung erheblich. Erfolgt dies dagegen durch Notfallsanitäterinnen und -sanitäter, so sind die Auswirkungen im direkten Vergleich weniger ausgeprägt.