Kann jeder Arzt und jede Ärztin Traumata erkennen?

11 Juli, 2022 - 06:57
Michael Fehrenschild
Dr. Jan Gysi
Dr. med. Jan Gysi ist Psychiater und Psychotraumatologe.

Der Schweizer Psychiater und Psychotraumatologe Dr. Jan Gysi ist einer der führenden Experten in der Behandlung von Traumata und sexueller Gewalt. Er informiert über die psychischen Folgen von Kriegen, schweren emotionalen Verletzungen und einen faszinierenden Beruf.

Herr Dr. Gysi, kommt wegen des Ukraine-Kriegs eine „Traumawelle“ auf uns zu?

Dr. Jan Gysi: Traumatisierte Kriegsflüchtlinge sind immer eine riesige Herausforderung. Gerade kommen sehr viele Menschen aus der Ukraine, aber nach wie vor auch Geflüchtete aus Afghanistan, Irak und Syrien. Hier ist es wichtig, genügend Therapieplätze anzubieten. Traumasymptome können auch die Integration behindern. Betroffene haben zum Beispiel mehr Mühe, eine Sprache zu lernen. Aber: Nicht alle, die traumatisiert sind, brauchen fachliche Unterstützung. Wir sollten daher allen Geflüchteten in ihrer Muttersprache Informationen über Traumafolgestörungen geben und wie man sie erkennen kann. Denn vieles können sie auch selber tun. Wenn sie die Symptome verstehen lernen, sich untereinander austauschen und ihr Umfeld Verständnis zeigt, hilft das schon viel. Mindestens die Hälfte leidet unter psychischen Problemen.

Seit wann helfen Sie Kriegstraumatisierten?

Dr. Jan Gysi: Seit kurz nach dem Bosnien-Krieg. Ich erinnere mich besonders an eine Frau mit schwerem, dissoziativem Mutismus. Das bedeutet, dass sie wie aus dem Nichts heraus plötzlich nicht mehr sprach. Es gibt keine organische Ursache für diese plötzliche Unfähigkeit. Doch auch meine Vorgesetzten wussten damit nicht so richtig umzugehen – und so begann ich nach Behandlungsmöglichkeiten zu suchen. Insgesamt kamen damals so viele Fälle von Kriegstraumata aus dem ehemaligen Jugoslawien und mir wurde deutlich, dass ich diesen Menschen besser helfen wollte. Der Frau konnte später in Rahmen einer Traumatherapie geholfen werden.

15.03.2024, Niedersächsische Ministerium für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung
Lüneburg

Wie wird man Experte zu diesem Thema?

Dr. Jan Gysi: Ich wollte eigentlich Allgemeinmediziner werden und arbeitete nach dem Studium im Krankenhaus. Danach ging ich für ein Jahr in die Psychiatrie und fand das viel faszinierender. Die Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen berührt viele gesellschaftliche Entwicklungen, auch Themen wie Hirnforschung bis hin zur Soziologie, das hat sogar philosophische Aspekte. Man erfährt viel über das Menschsein und dessen Dynamik. So wurde ich Psychiater.

Seit wann werden Traumata überhaupt als Behandlungsfeld wahrgenommen?

Dr. Jan Gysi: Berichte über die Symptome stammen vor allem aus Kriegszeiten. Die ersten kommen aus dem späten Mittelalter. Sie erzählen von Söldnern, die verändert vom Feldzug zurückkamen. Im amerikanischen Bürgerkrieg existierten schon Asyle für auffällige Soldaten. Man sprach vom „Soldier‘s Heart“ und dachte, sie hätten Herz-Probleme. Im Ersten Weltkrieg gab es die Shell-Shock-Fälle, die „Zitterer“. Viele Veteranen litten darunter und konnten kaum laufen. Die Mediziner glaubten, dass Granatsplitter dies ausgelöst hätten. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen dann die Soldaten ins Blickfeld, die aus den Gefangenlagern zurückkamen. Auch die Traumatisierung von Frauen wegen Vergewaltigungen wurde schon beachtet. Lange dachten die Ärzte, dass es körperliche Gründe für viele Störungen gäbe, aber es war die Psyche, die eben auch auf Hirnebene Veränderungen auslöst. In den 1980ern wurde die posttraumatische Störung zum ersten Mal definiert. Dazu kam die Erkenntnis, dass man vorher nur „einfache“ Traumata erfasst hatte. Neu werden im ICD-11 auch komplexe posttraumatische Störungen nach Mehrfachtrauma erfasst. Das ist ein Meilenstein.

Gibt es aktuelle Erkenntnisse?

Dr. Jan Gysi: Zur Behandlung von posttraumatischen Störungen fand in den letzten 20 Jahren, besonders nach 9/11, viel mehr Forschung statt. Es wurden große Studien zu Therapiemöglichkeiten gemacht. Inzwischen gibt es gute Techniken mit EMDR oder prolongierte Exposition, um Traumata aufzuarbeiten. Die sind viel effizienter, als nur über die Erlebnisse der Patientinnen und Patienten zu sprechen. Daher könnte man auch den Zitterern aus dem Ersten Weltkrieg heute besser helfen. Wichtig ist es für Ärztinnen und Ärzte aller Fachrichtungen, grundsätzlich an diese Möglichkeit zu denken und im Zweifelsfall einfach mal sensibel nachzufragen.

Welche Alarmsignale können Ärztinnen und Ärzte in Klinik oder Praxis erkennen, auch wenn sie nicht auf das Thema spezialisiert sind?

Dr. Jan Gysi: Leider gibt es keine standardisierten klaren Anzeichen für Traumata. Wie sie sich äußern, hängt davon ab, in welchem Alter und Kontext die Traumatisierung geschieht. Ein 11-jähriges missbrauchtes Mädchen hat ganz andere Symptome als zum Beispiel ein Arzt, der während der Arbeit Dinge sieht, die ihn ebenfalls traumatisieren. Der muss sich fragen: Auf welche Zeichen muss ich bei mir selbst achten? Es können völlig unterschiedliche körperliche Hinweise und Verletzungen sein, aber auch psychische Anzeichen. Allerdings gilt die Tendenz: Wer traumatisiert ist, hat ein höheres Risiko etwa für Ess- und Suchtstörungen.

05.03.2024, LWL-Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt
Lippstadt
29.03.2024, Clienia Littenheid AG
Sirnach

Müssen Medizininnen und Mediziner auch auf sich selber aufpassen?

Dr. Jan Gysi: Absolut! Manch ein Arzt sagt: „Das betrifft mich nicht, ich habe keine Symptome“, obwohl diese klar da sind. Gewisse Situationen, etwa ein schlimmer Unfall, können in Gedanken, Bildern und auch in Geräuschen wiederholt auftauchen. So ist es möglich, dass man immer wieder ein Schreien hört, das sich einfach nicht stoppen lässt. Dazu kommen Schreckhaftigkeit, Entspannungsprobleme, Störungen beim Ein- und Durchschlafen sowie Albträume, in denen einem diese Situation begegnet. Das dritte Symptom ist die Vermeidung. Man versucht absichtlich nicht daran zu denken und Wege zu finden, sich abzulenken. Auch Sucht- und Schlafmittel oder Medikamente werden oft benötigt, was bei Medizinerinnen und Medizinern ein großes Thema ist.

Welche Formen von Traumata gibt es?

Dr. Jan Gysi: Der Begriff des Traumas wird tendenziell inflationär verwendet. Dennoch ist das Spektrum riesig. Sprechen wir über Symptome nach einem Verkehrsunfall, Traumatisierung am Arbeitsplatz oder Kinder, die sexuelle Gewalt erleben? Wir unterscheiden in der Fachwelt drei Typen. Der erste ist ein einmaliges Ereignis wie ein Lawinenunglück, ein Tsunami oder ein Terroranschlag. Typ II ist etwas, dass sich mehrfach wiederholt, wie sexualisierte Gewalt über einen längeren Zeitraum. In meinem Buch habe ich noch Typ III vorgeschlagen. Das sind organisierte schwere Verbrechen, etwa in den Missbrauchsfällen von Bergisch Gladbach.

Wissen Ihre Patienten, wenn sie kommen, dass sie unter Traumata leiden?

Dr. Jan Gysi: Nicht unbedingt. Da kommt jemand zum Beispiel mit einer schweren Essstörung. Doch dann wird im Verlauf der Therapie deutlich, dass diese die Funktion hat, eine posttraumatische Symptomatik zu regulieren. Dann höre ich nicht selten Sätze wie: „Wenn ich sehr wenig esse, habe ich weniger schlimme Bilder.“ Und dahinter kann sich durchaus eine Missbrauchserfahrung verstecken. Ich darf das nicht suggestiv erfragen, sondern gebe den Betroffenen eine Möglichkeit, darüber zu reden.

Was ist neben den Kriegstraumata aktuell die größte Herausforderung?

Dr. Jan Gysi: Die Materialmenge an Kindesmissbrauch, die im Netz gefunden wird, nimmt jährlich um 50 Prozent zu. Man muss davon ausgehen, dass es immer mehr schwere Gewalt an Kindern gibt, die gefilmt wird. Die Täter tauschen sich im Darknet aus und geben sich Ratschläge, wie man vorgehen kann, ohne aufzufallen.

15.03.2024, Landspitali - The National University Hospital of Iceland
Reykjavík

Sie unterstützen auch die Polizei. Wie tun Sie das?

Dr. Jan Gysi: Eine Herausforderung für die Polizei ist zum Beispiel, das Opfer zu vernehmen. Dieser Mensch hat vielleicht Anzeichen von Scham, ist aufgebracht oder in Panik, aber die Polizei braucht von ihm Informationen, um den Täter anzuzeigen. Doch das Opfer ist in einem Zustand, in dem es diese gar nicht geben kann. Da versuchen wir mit einfachen Ratschlägen zu helfen, wie das Anleiten zur Reorientierung im Raum bei Stress, oder Möglichkeiten im Umgang mit Scham. Auch zur Justiz gibt es Berührungspunkte: Ist eine Therapie vor oder während eines Gerichtsverfahrens möglich? Verändert eine Therapie die Erinnerung? Was bedeutet das für Ermittlungen und für einen späteren Prozess?

Gibt es auch schöne Momente?

Dr. Jan Gysi: Als Ärztinnen und Ärzte müssen wir lernen, uns mit Tod, Krankheit und Ohnmacht auseinanderzusetzen und auch mit der Endlichkeit. Das gehört zu unserem Beruf. Wir können vieles verändern, aber wir haben auch Grenzen. Es gibt viel Schönes auf der Welt, tolle Menschen, die wichtige Arbeit leisten. Aber es gibt leider auch einige, die zu unglaublichen Gräueltaten fähig sind. Zu akzeptieren, dass dies so ist, ist die große Kunst. Doch wenn ich einem Missbrauchsopfer helfe, sich langsam ins Leben zurück zu kämpfen, vielleicht eine Ausbildung zu beginnen oder eine neue Beziehung einzugehen, sind das berührende Momente. Da kann ich diesen Menschen, die viel Dunkles erlebt haben, einen Weg in ein Leben mit mehr Licht zeigen.

Der Experte

Dr. med Jan Gysi
geboren 1971, studierte Medizin in Bern von 1992-1998 und absolvierte viele Weiterbildungen zum Thema Psychotraumatologie. Er veröffentlichte zahlreiche Beiträge dazu. Gerade ist das Basiswerk „Diagnostik von Traumafolgestörungen“ in zweiter Auflage erschienen.

Das könnte Sie auch interessieren: