Zusatz-Weiterbildung Manuelle Medizin: Dauer, Inhalte, Voraussetzungen

10 Mai, 2024 - 07:42
Stefanie Hanke
Manuelle Therapie: Arzt behandelt Rücken eines Patienten

Mehr als 20.000 Fachärztinnen und -ärzte in Deutschland haben sich auch im Bereich "Manuelle Medizin" qualifiziert. Damit gehört dieses Gebiet zu den beliebtesten Zusatz-Bezeichnungen in Deutschland. Wie die Weiterbildung abläuft, wie lange sie dauert und welche Voraussetzungen es dafür gibt, erfahren Sie im Beitrag.

Auf einen Blick: Zusatz-Weiterbildung Manuelle Medizin

  • Definition: In der manuellen Medizin werden Diagnose und Therapie allein mit den Händen durchgeführt. Sie wird vor allem zur Behandlung von Funktionsstörungen des Bewegungsapparats eingesetzt. Sie baut in Teilen auf Methoden der Osteopathie und der Chiropraktik auf.
  • Voraussetzungen: Facharztanerkennung in einem Gebiet der unmittelbaren Patientenversorgung
  • Dauer: 320 Stunden Kurs-Weiterbildung, davon 120 Stunden Grundkurs und anschließend 200 Stunden Aufbaukurs. Die Kurs-Weiterbildung kann durch 12 Monate Weiterbildung unter Befugnis an Weiterbildungsstätten ersetzt werden.
  • Anzahl der Ärzte: In Deutschland sind 22.153 Ärztinnen und Ärzte mit der Zusatzbezeichnung "Manuelle Medizin / Chirotherapie" bei den Kammern registriert. Davon sind 17.507 berufstätig. 12.888 arbeiten ambulant in einer Praxis, 3.191 sind stationär in einer Klinik tätig.

Medikamente verschreiben oder operieren? Die manuelle Medizin bietet für einige Krankheitsbilder noch eine weitere Möglichkeit: Die Ärztinnen und Ärzte setzen ihre Hände ein – und zwar sowohl bei der Diagnose als auch bei der Therapie. Hauptsächlich kommt die manuelle Medizin bei Störungen des Bewegungsapparats zum Einsatz – beispielsweise, wenn die Beweglichkeit der Wirbelsäule oder von Gelenken, Muskeln und Faszien eingeschränkt ist.

Im Bereich manuelle Therapie können sich neben Fachärztinnen und -ärzten aus Gebieten der unmittelbaren Patientenversorgung auch Physiotherapeutinnen und -therapeuten weiterbilden. Nach der Zusatzweiterbildung dürfen Ärztinnen und Ärzte die Zusatzbezeichnung „Manuelle Medizin / Chirotherapie“ führen oder sich für einen der beiden Begriffe entscheiden. Der Begriff „Chirotherapie" wird häufig eher dem Bereich der Alternativmedizin zugeordnet und ist in der evidenzbasierten Medizin umstritten. Für Laien sind die einzelnen Bezeichnungen schwer zu unterscheiden. So ist der Begriff „Chiropraktiker" nicht geschützt und wird häufig von Heilpraktikern verwendet. Die manuelle Medizin versteht sich dagegen als tief verwurzelt in der akademischen, evidenzbasierten Medizin.

5.000 Jahre Erfahrung: Vom alten Ägypten zur modernen Medizin

Methoden der manuellen Medizin tauchen schon in schriftlichen Quellen aus dem alten Ägypten auf. Auch der antike griechische Arzt Hippokrates beschäftigte sich mit dem Thema. Jahrhundertelang nutzten heilkundige Menschen diese Methoden, um ihre Patientinnen und Patienten – mehr oder weniger fachkundig – zu behandeln. Erst im 17. und 18. Jahrhundert wurde die manuelle Medizin zunehmend von neuen medikamentösen und chirurgischen Methoden in den Hintergrund gedrängt. Im 19. Jahrhundert entwickelten sich dann von den USA ausgehend parallel die Methoden der Osteopathie und der Chirotherapie. In Europa wurden diese Methoden dann nach und nach auf ein akademisches Fundament gestellt und wissenschaftlich erforscht. Die Wirksamkeit der manuellen Medizin konnte inzwischen durch Erkenntnisse aus der Hirnforschung, der Biochemie und den Neurowissenschaften wissenschaftlich belegt werden. 1975 wurde die Zusatz-Weiterbildung manuelle Medizin in die (Muster-)Weiterbildungsordnung der Bundesärztekammer aufgenommen. Seit 2009 wird auch die Osteopathie als Teil der manuellen Medizin anerkannt. Das gibt Ärztinnen und Ärzten die Möglichkeit, sich in zertifizierten Seminaren zum Thema weiterzubilden.

Vorgehensweise in der Manuellen Medizin

Wie in anderen Bereichen der Medizin auch, steht am Anfang einer Behandlung in der manuellen Medizin ein ausführliches Anamnesegespräch mit dem Patienten oder der Patientin. Der behandelnde Arzt oder die behandelnde Ärztin sammelt dabei Informationen über die konkreten Beschwerden, aber auch über die Lebensumstände und die Biographie. Bei der anschließenden Untersuchung wendet der Arzt bzw. die Ärztin bestimmte Handgriffe an, um beispielsweise Verspannungen, Bindegewebsveränderungen oder Temperaturunterschiede zu erkennen.

Bei der Behandlung kommen verschiedene Techniken zum Einsatz:

  • Mobilisation: Durch sanfte Bewegungen der Gelenke, die im Verlauf der Behandlung mit mehr Geschwindigkeit und Druck ausgeführt werden, soll die Beweglichkeit verbessert werden.
  • Manipulation: Durch kleine, ruckartige Bewegungen wird ein Gelenk über die Bewegungsgrenze hinaus gedehnt. Dadurch können hartnäckige Blockaden aufgelöst werden
  • Muskel-Energie-Technik: Hierbei spannt der Patient bzw. die Patientin bestimmte Muskelgruppen gezielt an. Durch sanften Gegendruck können Verspannungen gezielt aufgelöst werden.
  • Weichteiltechniken: Unter diesem Begriff werden verschiedene Techniken zur Behandlung von Sehnen, Muskeln, Bindegewebe und Faszien zusammengefasst. Durch Streichen, Dehnen und gezielten Druck kann beispielsweise überschüssige Gewebeflüssigkeit abgeleitet werden.
  • Counterstrain-Techniken: Die zu behandelnden Körperteile werden bei dieser Methode in eine bestimmte Position gebracht und so für ca. 90 Sekunden gehalten. Dadurch soll die Spannung an so genannten Tenderpoints in Muskeln, Faszien, Bändern und Sehnen reduziert werden.

Neben der akuten Behandlung von Beschwerden des Bewegungsapparats sind Ärztinnen und Ärzte mit der Zusatz-Bezeichnung Manuelle Medizin häufig auch im Bereich der Rehabilitation und der Vorbeugung aktiv. Dort entwickeln sie beispielsweise Empfehlungen für die Gestaltung von Arbeitsplätzen und die richtige Schlafunterlage.
 


Manuelle Medizin: Die Zusatz-Weiterbildung im Überblick

Dauer der Weiterbildung

320 Stunden Kurs-Weiterbildung gem. § 4 Abs. 8 in Manuelle Medizin, davon

  • 120 Stunden Grundkurs und anschließend
  • 200 Stunden Aufbaukurs

Die Kurs-Weiterbildung kann durch 12 Monate Weiterbildung unter Befugnis an Weiterbildungsstätten ersetzt werden.

Inhalte der Weiterbildung

Übergreifende Inhalte der Zusatz-Weiterbildung Manuelle Medizin

  • Indikation und Kontraindikation manualmedizinischer Maßnahmen
  • Stellenwert der manuellen Medizin in der ärztlichen Tätigkeit, z. B. in der Allgemeinmedizin, Anästhesiologie, Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Innere Medizin, Innere Medizin und Rheumatologie, Kinder- und Jugendmedizin, Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, Neurologie, Orthopädie und Unfallchirurgie, Sportmedizin
  • Manuelle Medizin in Bezug auf Alter und Entwicklung

Funktionelle Grundlagen

  • Spezielle funktionelle Anatomie, Physiologie, Pathophysiologie und Biomechanik des Halte- und Bewegungssystems unter manualmedizinischen Aspekten
  • Prinzipien des Tensegrity-Modells in der Medizin
  • Topographische Beziehung peripherer Arterien, insbesondere der Vertebralarterien, und die Wirkung der Bewegung der beteiligten Strukturen auf diese Gefäße
  • Spezielle Anatomie des autonomen Nervensystems und dessen Beziehung zu muskuloskelettalen Beschwerden
  • Anatomische Varianten der neuralen und muskuloskelettalen Strukturen
  • Nozigeneratoren und Neurophysiologie der Nozireaktion und Schmerzverarbeitung
  • Grundlagen der Biomechanik und ihrer Anwendung auf das Bewegungssystem, insbesondere bezüglich der Gelenkbewegung und muskulären Kraftübertragung

Diagnostische und therapeutische Grundlagen

  • Indikationsstellung, Einleitung und Therapiekontrolle physiotherapeutischer, physikalischer, ergotherapeutischer und logopädischer Therapiemaßnahmen sowie von Rehabilitationstraining
  • Interdisziplinäre Indikationsstellung zur weiterführenden Diagnostik einschließlich der Differentialindikation und Befundinterpretation bildgebender Verfahren unter Berücksichtigung der Strahlenhygiene
  • Risiken und Vorteile anderer relevanter Therapieverfahren im Vergleich zur Manuellen Medizin
  • Psychosomatische Grundlagen
  • Biopsychosoziales Schmerzverständnis
  • Placebo- und Noceboeffekte
  • Mechanismen der Chronifizierung
  • Beratung des Patienten über Erfolgsaussichten, Komplikationsmöglichkeiten und Kontraindikationen manualmedizinischer Maßnahmen
  • Individuelle Erarbeitung von Selbstübungen mit dem Patienten im Rahmen der primären und sekundären Prävention

Typische Krankheitsbilder in der Manuellen Medizin

  • Störungen und Dysfunktionen der axialen und peripheren Strukturen, insbesondere von Schädel, kranio-zervikalem Übergang, der Wirbelsäulenabschnitte und deren Übergängen, Sakroiliakalgelenken, Beckengürtel und peripheren Gelenken
  • Funktionelle Verkettungen innerhalb und zwischen den Strukturen des Bewegungsorgans
  • Dysfunktion viszeraler Organe mit Bezug zu biomechanischen Störungen
  • Viszero-somatische, somato-viszerale, psycho-somatische und somato-somatische Reaktionen

Spezielle manualmedizinische Diagnostik

  • Grundlagen spezieller pädiatrischer Untersuchungstechniken und der Beurteilung des Entwicklungsstandes
  • Manualmedizinische Untersuchung und Funktionsdiagnostik, insbesondere unter Einbeziehung orthopädischer und neurologischer Tests
  • Durchführung orientierender und regionaler palpatorischer Untersuchungen der einzelnen Gewebeschichten zur Diagnose einer reversiblen Dysfunktion bzw. einer Kontraindikation unter Berücksichtigung der Schmerzprovokation, veränderter Sensorik und Gewebetextur, des Bewegungsausmaßes und der Charakteristika der Barriere am Bewegungsende
  • Spezielle manualmedizinische Dokumentation der Untersuchungsergebnisse

Spezielle manualmedizinische Therapie

  • Grundlagen osteopathischer Verfahren zur Behandlung viszeraler Organe
  • Grundlagen manualmedizinischer Behandlungstechniken bei Kindern
  • Mobilisationstechniken einschließlich spezieller Techniken der Inhibition oder Relaxation von Muskeln basierend auf postisometrischer Relaxation und reziproker Inhibition sowie Positionierungs-Techniken
  • Segmentale Manipulation an Wirbelsäule und Extremitätengelenken
  • Myofasziale Techniken
  • Triggerpunkt-Behandlung
  • Behandlungsstrategien für funktionelle Verkettungssyndrome
  • Entspannungstechniken

Quellen: Musterweiterbildungsordnung 2018 der Bundesärztekammer, Ärztestatistik der Bundesärztekammer 2023, Deutsche Gesellschaft für Manuelle Medizin

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