Welchen Einfluss hat die soziale Umwelt auf die Entstehung, Prävention und Behandlung von Krankheiten? Nicht nur mit dieser Frage beschäftigen sich Fachärztinnen und -ärzte mit der Zusatz-Bezeichnung Sozialmedizin. Sie haben zwar geregelte Arbeitszeiten, doch ein lauer Bürojob ist diese Arbeit auch nicht. Wie die Zusatz-Weiterbildung abläuft und welche Voraussetzungen es dafür gibt, erfahren Sie im Beitrag.
Auf einen Blick: Zusatz-Weiterbildung Sozialmedizin
- Definition: Die Zusatz-Weiterbildung Sozialmedizin umfasst in Ergänzung zu einer Facharztkompetenz die Bewertung von Art und Umfang gesundheitlicher Störungen und deren Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit und die Teilhabe an Lebensbereichen unter Berücksichtigung der Wechselwirkungen zwischen Krankheit, Gesundheit, Individuum und Gesellschaft sowie deren Einordnung in die Rahmenbedingungen der sozialen Sicherungssysteme und die diesbezügliche Beratung der Sozialleistungsträger.
- Voraussetzungen: Facharztanerkennung
- Dauer: 360 Stunden Kurs-Weiterbildung in Sozialmedizin, davon 160 Stunden Kurs-Weiterbildung in Sozialmedizin/Rehabilitationswesen und 160 Stunden Kurs-Weiterbildung in Sozialmedizin. Zusätzlich sind 12 Monate Sozialmedizin gemäß Weiterbildungsinhalten unter Befugnis notwendig.
- Anzahl der Ärzte: In Deutschland sind 9.415 Ärztinnen und Ärzte mit der Zusatzbezeichnung „Sozialmedizin“ bei den Kammern registriert. Von ihnen sind 5.409 berufstätig.
Sozialmedizinerinnen und -mediziner beschäftigen sich besonders mit den Wechselwirkungen zwischen Krankheit, Gesundheit, Individuum und Gesellschaft. Es handelt sich also nicht um ein Fachgebiet der direkten Patientenversorgung. Ein Schwerpunkt des Fachs ist die gutachtliche Tätigkeit im Auftrag von Sozialleistungsträgern und Rehabilitationseinrichtungen. Neben medizinischem Fachwissen benötigen Fachärztinnen und -ärzte mit der Zusatzbezeichnung „Sozialmedizin“ also auch gute Kenntnisse des Sozialrechts, der Organisation der Einrichtungen der sozialen Sicherung sowie der Organisation der Krankenversicherungen. Insgesamt spielt die Sozialmedizin eine gesellschaftlich wichtige Rolle, da sie neben medizinischen auch soziale und wirtschaftliche Aspekte erforscht.
Welche Aufgaben haben Sozialmedizinerinnen und -mediziner?
Im Vordergrund steht bei der Sozialmedizin weniger die Heilung eines Patienten oder einer Patientin, sondern eher die Erforschung von Krankheitsursachen, besonders auch der sogenannten Volkskrankheiten. Darüber hinaus sind auch präventive Maßnahmen und Auswirkungen von Krankheiten auf die Gesellschaft ein wichtiges Aufgabengebiet. Die Sozialmedizin lässt sich in drei Teilbereiche differenzieren:
Angewandte Sozialmedizin
Die Hauptaufgabe in diesem Bereich ist die Erstellung von Gutachten. Medizinerinnen und Mediziner beurteilen, welche Leistungen aufgrund der gesundheitlichen Einschränkungen erforderlich sind. Dabei gehen sie beispielsweise Fragen nach wie:
- Ist der Patient oder die Patientin arbeitsunfähig? Wie lange wird die Arbeitsunfähigkeit andauern?
- Welche Rehabilitationsleistungen fördern den Gesundheitszustand und sind notwendig? Wie lange sollen diese Leistungen bezogen werden?
- …
Häufige Anlässe für Gutachten sind Arbeitsunfähigkeit, Rehabilitationsleistungen, Arbeitslosengeld, Erwerbsminderungsrente, Rente und Schwerbehinderung. Manchmal müssen Fachärztinnen und -ärzte für Sozialmedizin auch selbst körperliche Untersuchungen durchführen, wenn die vorhandenen Unterlagen und Untersuchungsergebnisse nicht ausreichen. Sozialleistungsträger, für die diese Medizinerinnen und Mediziner arbeiten, können Krankenversicherungen, Rentenversicherungen, Gesundheitsämter oder Rehabilitationseinrichtungen sein.
Forschung
Arbeiten Sozialmedizinerinnen und -mediziner in der Forschung, gehört die Erstellung neuer Konzepte der Versorgungsforschung zu ihrem Aufgabengebiet. Derzeitige Schwerpunkte der Forschung liegen auf der Versorgung von Menschen mit Mehrfachbehinderungen, chronisch Kranken und Flüchtlingen.
Lehre
Fortbildungen im Bereich Sozialmedizin führen meist Fachärztinnen und -ärzte durch, die bereits diese Zusatzbezeichnung haben. Die Sozialmedizin ist unter anderem auch ein Pflichtfach im Medizinstudium.
Ziele und Zukunft des Fachgebiets
Die Sozialmedizin widmet sich unter anderem den Zielen:
- die Gesundheit von Individuen, Teilgruppen und der Bevölkerung insgesamt zu verbessern
- die Krankheitslast einschließlich der sozialen Folgen zu verringern
- die Wirksamkeit, Wirtschaftlichkeit und gerechte Verteilung von Solidarleistungen zu stärken
- die Kompetenz in der Vertretung gesundheitlicher Interessen in der Gesellschaft zu fördern
Wie viele andere Fachbereiche auch, wird sich die Sozialmedizin künftig mit einigen Herausforderungen konfrontiert sehen, welche die Gesellschaft beeinflussen werden:
- Gerechtigkeit im Gesundheitswesen: neben gesundheitlicher Ungleichheit (arm vs. reich) auch Geschlechtergerechtigkeit in der Versorgung
- Demografischer Wandel mit seinen (sozial-)medizinischen Folgen
- Gesundheitliche Folgen der Globalisierung und deren Bewältigung
- Die Balance zwischen präventiven, kurativen und rehabilitativen Bereichen des Gesundheitswesens
Sozialmedizin: Die Zusatz-Weiterbildung im Überblick
Dauer der Zusatz-Weiterbildung Sozialmedizin
- 360 Stunden Kurs-Weiterbildung in Sozialmedizin, davon
- 160 Stunden Kurs-Weiterbildung in Sozialmedizin/Rehabilitationswesen und
- 160 Stunden Kurs-Weiterbildung in Sozialmedizin.
- Zusätzlich sind 12 Monate Sozialmedizin gemäß Weiterbildungsinhalten unter Befugnis notwendig.
Inhalte der Zusatz-Weiterbildung Sozialmedizin
Gemeinsame Inhalte für die Zusatz-Weiterbildungen Sozialmedizin und Rehabilitationswesen
Übergreifende Inhalte der Zusatz-Weiterbildung Sozialmedizin:
- Ethische und juristische Aspekte für die Tätigkeit als Sachverständiger
- Anwendung des biopsychosozialen Modells der WHO bei der Beurteilung von Funktionsfähigkeit unter Berücksichtigung von Kontextfaktoren sowie Erstellung von Funktionsdiagnosen
- Begriffsbestimmung und Konzepte der Sozial- und Rehabilitationsmedizin einschließlich der Behindertenrechtskonvention der UN
- Begriffsdefinitionen und Abgrenzung der Gesundheitsstrategien Prävention, Kuration, Rehabilitation und Pflege
Soziale Sicherungssysteme und Versorgungsstrukturen:
- Prinzipien des Gesundheits- und Sozialsystems und deren Interaktion
- Anwendung des trägerübergreifenden Teilhabebegriffs und Steuerung von trägerspezifischen und trägerübergreifenden Teilhabeleistungen
- Epidemiologie, Dokumentation, Statistik und Gesundheitsberichterstattung
- Sozialleistungsträger und ihre Aufgaben und Schnittstellen gemäß Sozialgesetzbuch
- Anwendung der gesetzlichen Vorschriften und leistungsrechtlichen Begriffe im gegliederten System der sozialen Sicherung
- Strukturen und Aufgaben privater Versicherungen zur sozialen Absicherung
Gesundheitsförderung, Prävention und Rehabilitation:
- Leistungsarten und Leistungsformen einschließlich Modellen der Prävention und Gesundheitsförderung
- Organisationen und Institutionen in der Rehabilitation einschließlich Einrichtungen der medizinischen, beruflichen und sozialen Rehabilitation
- Theoriemodelle der Rehabilitation und Grundlagen der internationalen Richtlinien und Empfehlungen zu Behinderung und Rehabilitation
- Begehung von Einrichtungen, davon (Richtzahl 6)
- Betriebe
- Rehabilitationseinrichtungen (Richtzahl 2)
- Berufsförderungswerke
- Einrichtungen der sozialen Rehabilitation
Spezifische Inhalte der Zusatz-Weiterbildung Sozialmedizin:
Arbeitsmedizinische Grundlagen:
- Grundlagen und Aufgaben der Arbeitsmedizin
- Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Erkrankungen
- Anforderungsprofile häufiger beruflicher Tätigkeiten
- Beratung von Leistungsgewandelten im Zusammenhang mit ihrer beruflichen Tätigkeit
Sozialmedizinische Begutachtung:
- Grundlagen ärztlicher Begutachtung unter Berücksichtigung sozialmedizinisch relevanter leistungsrechtlicher Begriffe und Vorgaben
- Trägerspezifische und trägerübergreifende Begutachtung
- Sozialmedizinische Begutachtung und Beratung für Sozialleistungsträger sowie für Privatversicherungen im Zusammenhang mit Fragestellungen aus dem jeweiligen Rechtsgebiet, z. B. zur Arbeitsunfähigkeit, zum erwerbsbezogenen Leistungsvermögen, zu Teilhabeleistungen, zur Pflegebedürftigkeit, davon (Richtzahl 500)
- sozialmedizinische Gutachtenerstellung mit Befragung/Untersuchung (Richtzahl 100)
- ausführlich begründete sozialmedizinische Gutachtenerstellung nach Aktenlage (Richtzahl 100)
- sozialmedizinische Stellungnahmen (Richtzahl 100)
- Rehabilitationsentlassungsberichte und/oder Leistungsbeurteilungen (Richtzahl 100)
- Fallbezogenes Schnittstellenmanagement bei Zuständigkeitswechsel des Sozialleistungsträgers
- Unterscheidung kausaler und finaler Gutachten
- Rechtliche Vorgaben bei der Erstellung von Gutachten insbesondere zum Datenschutz, Haftungsrecht, Mitwirkung des Versicherten, Aufbau und Zuständigkeit in der Sozialgerichtsbarkeit
- Eintägige Teilnahme an öffentlichen Sitzungen beim Sozialgericht oder Landessozialgericht
Beurteilungskriterien bei ausgewählten Krankheitsgruppen:
- Relevante diagnostische Verfahren für die Leistungsbeurteilung bei ausgewählten Krankheitsgruppen
- Sozialmedizinische Beurteilung der Funktionsfähigkeit einschließlich Beratung von Versicherten und Leistungsträgern
Quellen: Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer 2018, Ärztestatistik der Bundesärztekammer 2023, Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung