Ärztinnen und Ärzte in Führung: Der Zeigarnik-Effekt im medizinischen Alltag

7 Mai, 2025 - 07:25
Prof. Dr. med. Sonja Güthoff, MBA
Prof. Dr. Sonja Güthoff
Prof. Dr. med. Sonja Güthoff, MBA ist Ärztin, Führungskräfte-Trainerin, Professorin für Health Care an der AKAD University sowie Stress- und Burnout-Coach.

Kennen Sie das Gefühl, dass wir nach dem Arbeitsalltag in der Klinik oder Praxis glauben, nichts geschafft zu haben? Stattdessen drängen sich die Gedanken auf, dass noch viele Dinge unerledigt geblieben sind? Oder grübeln Sie vielleicht auch bei dem Wunsch einzuschlafen, woran Sie am nächsten Tag denken möchten, oder was Sie hätten besser machen können? Lesen Sie in diesem Artikel, woran das liegen könnte und wie wir damit besser umgehen können.

Die Relevanz des Zeigarnik-Effekts im medizinischen Alltag

Dass wir Aufgaben, die wir noch nicht abgeschlossen haben, besser erinnern als solche, die bereits von uns erledigt wurden, beschrieb die litauische Psychologin Dr. Bluma Zeigarnik bereits in ihrer 1927 veröffentlichten, an der Charité in Berlin erarbeiteten Dissertation (Zeigarnik B., Das Behalten erledigter und unerledigter Handlungen. in Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie III. Lewin K. (Hrg.). Psychologische Forschung. Bd. 9., 1-85). Als Grund gab sie an, dass zum Zeitpunkt der Erhebung immer noch ein unbefriedigtes „Quasi-Bedürfnis“ bei den Probandinnen und Probanden bestanden habe, weshalb sie die Aufgabe weiter erinnern. Dieses „Quasi-Bedürfnis“ könne auch bei einer zwar bereits erledigten Aufgabe bestehen, bei der die Versuchsperson jedoch mit der Erledigung nicht mit sich selbst zufrieden sei bzw. es mehrere Lösungsmöglichkeiten gegeben hätte. Auch diese Aufgaben werden besser erinnert (Zeigarnik B. 1927, siehe oben). Dieses Phänomen erklärt, warum wir auch immer wieder darüber nachgrübeln, was wir im Berufsalltag hätten besser machen können.

Die Relevanz des Zeigarnik-Effektes für Ärztinnen und Ärzte erläutert der Artikel von Naviaux A. F. et al. (Do physicians suffer or benefit from the Zeigarnik effect? Encephale 2021; 47(6):616-617). Diese Arbeitsgruppe beschreibt die Möglichkeit, dass der Zeigarnik-Effekt eine subtile, aber „sanfte“ Kraft darstellen könne, die den Arzt oder die Ärztin schrittweise zum Burnout-Phänomen führen könnte: Diese Kraft fördere eine innere Spannung, Unbehagen und Übelkeit, die nur dann gelindert werden könne, wenn das vollständige Ziel erreicht sei. Erkenntnisse aus diesem Artikel, wie mit den negativen Auswirkungen des Zeigarnik-Effektes umgegangen werden kann, finden sich nachfolgend im Tipp.

Tipp:

  • Identifizieren Sie störende Gedanken, wie zum Beispiel „Ich muss noch…“ und schreiben Sie diese auf (digital oder auf Papier). Nutzen Sie bei digitaler Verwendung automatische Erinnerungsfunktionen. Sortieren Sie die Aufgaben nach ihrer Wichtigkeit und Dringlichkeit (z. B. auf einem kombinierten Eisenhower-Kanban-Board, siehe Toolbox Führung).
  • Vermeiden Sie, dass zu viele Aufgaben gleichzeitig laufen und unerledigt bleiben und nehmen Sie nicht zu viele Aufgaben an.
  • Dazu zählt, auch „Nein“ sagen zu können, wenn es um zusätzliche Arbeit geht, auch wenn es schwierig sein sollte (Tipps zum Nein-Sagen siehe auch Ärztinnen und Ärzte in Führung: Weniger People Pleasing, mehr Selbstführung).
  • Versuchen Sie, Unterbrechungen (z. B. durch Handys, Sprachnachrichten und Kolleginnen und Kollegen) zu begrenzen.
  • Schreiben bzw. ergänzen Sie zum Beispiel Arztbriefe, OP-Berichte oder Befunde direkt nach dem Patientenkontakt, der OP bzw. der Befunderhebung, statt dies aufzuschieben.
  • Wenn Sie lange arbeiten und sich auf eine Aufgabe konzentrieren müssen, planen Sie im Voraus einige Pausen ein (in denen Sie eine ganz andere Aktivität ausüben: Sport, Musik, Zeichnen oder ähnliches), um den Zeigarnik-Effekt nutzen zu können.
  • Versuchen Sie wenn möglich, nur eine Sache zu tun, diese jedoch so gut wie möglich.
  • Manchmal dürfen wir auch akzeptieren, einfach „loszulassen“.

Nach Naviaux A. F. et al. Do physicians suffer or benefit from the Zeigarnik effect? Encephale 2021; 47(6):616-617.

Unnötiger Stress durch Unterbrechungen

In vielen interprofessionellen Teams, sowohl im Krankenhaus als auch in der Arztpraxis, entsteht unnötiger Stress, wenn Kolleginnen und Kollegen sich gegenseitig unterbrechen bzw. von anderen Fachkräften oder auch Angehörigen aus ihren Aufgaben gerissen werden, vor allem wenn sie versuchen, mehrere Aufgaben gleichzeitig zu erledigen. Dies kann nicht nur die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen, sondern auch zu einer Überforderung und damit verbundenen Stressreaktionen führen (Baethge A. und Rigotti T. Arbeitsunterbrechungen und Multitasking. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2010).

Zum Beispiel deckte eine multizentrische Studie mit 23 Teams aus 17 Institutionen im Bereich Allgemeinmedizin / Innere Medizin und Chirurgie eine durchschnittliche Frequenz von 10,5 Unterbrechungen pro Stunde pro Fachkraft auf. Mehr als die Hälfte der Unterbrechungen (58,7 Prozent) waren Face-to-Face Anfragen, die in 72,5 Prozent nur maximal 30 Sekunden dauerten. Davon wurden 57,4 Prozent der Unterbrechungen als vermeidbar angegeben (Teigné D. et al. Improving care safety by characterizing task interruptions during interactions between healthcare professionals: an observational study. Int J Qual Health Care. 2023; 35(3): mzad069).

Eine andere Studie zeigte, dass Ärztinnen und Ärzte einer Notaufnahme durchschnittlich 6,6 Mal pro Stunde unterbrochen wurden, wobei 18,5 Prozent der unterbrochenen Aufgaben nicht wieder aufgenommen wurden. Unterbrechungen führten primär zur Verlängerung der Aufgabenspanne, jedoch zu einer Verkürzung der eigentlichen Aufgabenbearbeitungszeit, wovon die Autorinnen und Autoren eine potenzielle Patientengefährdung ableiten (Westbrook J. I. et al. The impact of interruptions on clinical task completionBMJ Quality & Safety 2010; 19: 284-289). Auch unter Pflegefachkräften und medizinisch-technischen Assistentinnen und Assistenten verlängerten Unterbrechungen deutlich die Pflegeinterventionen von durchschnittlich 296 Sekunden auf 682 Sekunden (Cole G. et al. The impact of interruptions on the duration of nursing interventions: a direct observation study in an academic emergency department. BMJ Qual Saf. 2016; 25(6): 457-65). Das kann in Summe wertvolle Zeit bedeuten, die uns gerade in Zeiten des Fachkräftemangels für die Patientenversorgung fehlt.

Überlegen Sie daher gemeinsam im Team, an welchen Stellen Arbeitsunterbrechungen und Multitasking vermieden werden können. Könnten weniger dringliche Themen gesammelt und zu gezielten Besprechungs- / Visitenzeiten eingeplant werden? Ist es möglich, feste Sprechzeiten für Angehörige einzurichten, um eine bessere Planbarkeit des Stationsalltages zu ermöglichen? Zudem könnte das Arztzimmer in bestimmten Phasen geschlossen bleiben, um nur bei dringenden Notfällen Unterbrechungen zuzulassen. Das könnte z. B. Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung die Möglichkeit geben, in Ruhe Arztbriefe, OP-Berichte oder andere Dokumente zu verfassen. Ebenso sollte erörtert werden, wie die Pflegekräfte unterstützt werden können, um nicht ständig durch ärztliche Anfragen oder andere Unterbrechungen aus ihrer Arbeit herausgerissen zu werden. Solche Maßnahmen könnten dazu beitragen, die Arbeitsabläufe im interprofessionellen Team zu verbessern und Stress zu minimieren.

Aufgaben planen, um besser abschalten zu können

Der Alltag bringt es mit sich, dass wir nicht alle Aufgaben direkt abarbeiten können. Damit wir möglichst selten an diese unerledigten Aufgaben erinnert und dadurch unnötig gestresst werden, ist es sinnvoll, einen Plan zu machen (Masicampo EJ, Baumeister RF. Consider it done! Plan making can eliminate the cognitive effects of unfulfilled goals. J Pers Soc Psychol 2011; 101(4):667-83). Gerade für eine Station oder auch im ambulanten Bereich kann es zudem hilfreich sein, transparent und für alle im Team sichtbar Aufgaben zu planen. Das ermöglicht zum einen eine gerechte Aufgabenverteilung z. B. bei mehreren Stationsärztinnen und -ärzten. Zum anderen können beispielsweise die Pflege oder die Oberärztinnen und -ärzte den Stand von entsprechenden Aufgaben sehen, ohne die Verantwortlichen immer wieder zu fragen, ob etwas schon erledigt sei. Die im agilen Management häufig im Bereich der Softwareentwicklung genutzte Kanban-Methode hat sich auch im Gesundheitsbereich als vorteilhaft gezeigt (Lanza-León P, Sanchez-Ruiz L, Cantarero-Prieto D. Kanban system applications in healthcare services: A literature review. Int J Health Plann Manage. 2021; 36(6):2062-2078).

Die einfache Form des Kanban-Boards wird in drei Kategorien unterteilt:

  • TO-DO: Hier werden alle Aufgaben z. B. auf Klebezetteln (z. B. Post-it) gesammelt.
  • DOING: Wenn sich jemand der Aufgabe annimmt, wird der Klebezettel in die Kategorie „DOING“ verschoben (am besten mit Namen, damit die Zuständigkeit eindeutig ist).
  • DONE: Sobald die Aufgabe erledigt ist, wird der Zettel unter „DONE“ (erledigt) eingeordnet. Gerade bezogen auf den Zeigarnik-Effekt ist es positiv, die erledigten Aufgaben auf diese Weise weiter ersichtlich zu machen. Das kann das positive Gefühl am Abend bestärken, dass man doch etliches am Tag geschafft hat.

Das Eisenhower-Prinzip nach dem amerikanischen General und späteren Präsidenten Dwight D. Eisenhower hilft, Aufgaben zu priorisieren (siehe auch Ärztinnen und Ärzte in Führung: Sich leichter in der vorhandenen Zeit managen). Es werden vier Kategorien eingeteilt:

  • A: Wichtig und dringend – sofort erledigen.
  • B: Wichtig, aber nicht dringend – nach A abarbeiten bzw. terminieren.
  • C: Dringend, aber unwichtig – wenn möglich delegieren, z. B. an Studierende.
  • D: Weder wichtig noch dringend – aufschieben oder streichen.

Die Kombination eines Kanban-Boards mit dem Eisenhower-Prinzip ist in der Toolbox Führung beschrieben.

Toolbox Führung:

Die beiden Methoden Kanban-Board und Eisenhower-Prinzip lassen sich auch gut in einem Eisenhower-Kanban-Board (siehe pdf) kombinieren. Im Arzt- oder Stationszimmer, dem Praxisaufenthaltsraum oder ähnlichem aufgehangen, können hier die zu bewältigenden Aufgaben mit Klebezetteln (z. B. Post-it) zuerst unter „TO-DO“ gesammelt und auch direkt nach Wichtigkeit und Dringlichkeit sortiert werden. Diese Einteilung kann als Führungsunterstützung genutzt werden, so dass z. B. Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung zuerst die Einteilung vornehmen und dann zusammen mit erfahren(er)en Kolleginnen und Kollegen diese überdenken und somit gemeinsam priorisieren können. Zudem bleibt es gerade für Oberärztinnen und Oberärzte ersichtlich, was die jungen Kolleginnen und Kollegen alles leisten, was man normalerweise im Alltag übersieht.

Anhand der Priorisierung können die Aufgaben dann ausgewählt bzw. zugeteilt und Verantwortlichkeiten sichergestellt werden, so dass sie im Kanban-Prozess nach rechts zum „DOING“ und nach der Erledigung in die Kategorie „DONE“ rutschen.

Den Zeigarnik-Effekt positiv nutzen

Die Ärztin Anne-Frédérique Naviaux und ihre beiden Kollegen zeigen in ihrem Artikel (2021, siehe oben) jedoch auch die positiv nutzbare Methode des Zeigarnik-Effektes für uns Ärztinnen und Ärzte auf: Die Unterbrechung einer laufenden Aktivität könne auch als sogenannter Erinnerungsreiz die Leistung des prospektiven Gedächtnisses fördern. Das erklärt auch, dass wir unsere Patientinnen und Patienten, deren Krankengeschichte und aktuelle Befunde gut erinnern, obwohl, oder gerade weil die Patientenversorgung immer wieder mit Unterbrechungen aufgrund der anderen Patientinnen und Patienten erfolgt. In der Regel vergessen wir sie jedoch schnell, sobald sie in gutem Zustand entlassen wurden.

Das deckt sich mit den Erkenntnissen der Gruppe Augenstein T. et al. durch Studien von Ärztinnen und Ärzten in der Notaufnahme (Multitasking behaviors and provider outcomes in emergency department physicians: two consecutive, observational and multi-source studies. Scand J Trauma Resusc Emerg Med. 2021; 29(1): 14). Multitasking, also parallel laufende Aufgaben, die sich immer wieder gegenseitig unterbrechen, machten in den Studien 13–18,7 Prozent der Arbeitszeit aus. Die Ärztinnen und Ärzte beschrieben jedoch, dass das Multitasking die situative Aufmerksamkeit verbessere und als notwendige Fähigkeit angesehen werde, um mit dynamischen Anforderungen in Notaufnahmen umzugehen. Gleichzeitig erhöhe häufiges Multitasking jedoch den Stress (Augenstein T. et al. 2021, siehe oben).

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09.05.2025, Klinik Dr. Winkler
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Beim Lernen im Medizinstudium oder auf die Facharztprüfung kann der Zeigarnik-Effekt zum Beispiel auch positiv genutzt werden. Man kann beim Lernen bewusst nicht ein komplettes Kapitel oder ähnliches abschließend lernen, sondern dieses bis zum nächsten Tag unbearbeitet lassen. So habe auch der Autor Ernest Hemingway absichtlich, solange er noch Energie hatte, sein Schreiben mitten in einem Absatz bis zum nächsten Tag pausiert, um dann erst seine schon überlegte Handlung weiter aufzuschreiben (Naviaux A. F. 2021, siehe oben). Sicherlich ist es eine Gratwanderung, wie viel innere Spannung und damit auch verbundener Stress ausgehalten werden kann und möchte.

Wir sollten uns in der Klinik, Praxis oder Ambulanz Unterbrechungen und Multitasking bewusst machen, dort nutzen, wo es uns hilfreich erscheint und vor allem an vielen Stellen minimieren, wo es uns zusätzlichen Stress macht und Zeit raubt.  

Merke:

Der Zeigarnik-Effekt stellt einen relevanten Faktor dar, dass wir grübeln oder nicht gut einschlafen können. Wichtig ist jedoch auch, dass wir aufmerksam bleiben, ob es sich vielleicht auch um Gedankenkreisen im Sinne einer Depression oder um Belastungssymptome eines Second Victim Phänomens handeln könnte (siehe Ärztinnen und Ärzte in Führung: (Sich) Besser durch Second Victim Symptome führen).

Die Autorin:

Prof. Dr. med. Sonja Güthoff, MBA Prof. Dr. med. Sonja Güthoff, MBA ist Ärztin, Führungskräfte-Trainerin, Professorin für Gesundheitsmanagement, Medical Leadership und Digital Health an der AKAD Hochschule Stuttgart, Stress- und Burnout-Coach sowie unter anderem zertifizierte persolog® Trainerin. Auf ärztestellen.de gibt sie regelmäßig Tipps zu Führungs-Themen. Als Leiterin des Instituts für ein gesundes Arbeitsleben im Gesundheitswesen (INSTGAG) begleitet sie Ärztinnen und Ärzte, Pflegefachkräfte und andere Zusammenarbeitende im Gesundheitswesen dabei, sich und andere besser zu führen. Kontaktieren Sie Sonja Güthoff gerne unter info@sonjaguethoff.de.

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