So geht Hierarchie-Abbau in der Klinik: das Beispiel Siegen

17 April, 2024 - 08:28
Gerti Keller
Neurospace Klinikum Siegen
Der Neurospace ist ein interdisziplinärer, dynamischer, modern eingerichteter Besprechungsraum.

Vom Dienstmodell über Entlass-Management bis zum optimalen Patientenzimmer: In der Neurologie des Klinikums Siegen wurden zahlreiche Abläufe verbessert – und zwar von den Mitarbeitenden, die diese Jobs dort auch erledigen. „Wir haben jeden Stein umgedreht“, sagt Prof. Dr. Martin Grond und erklärt wie das „Neurologie-Projekt“ gelaufen ist.

Herr Prof. Grond, was war der Startschuss für das "Neurologie-Projekt"?

Prof. Dr. Martin Grond: Den Anfang machte ein Brainstorming-Tag im Oktober 2022. Alle Mitarbeitenden der Neurologie waren eingeladen, ihre Wünsche für den optimalen Arbeitsplatz auf einen Zettel zu schreiben. Egal was es war, ob mehr Geld, Anerkennung oder Freizeit – alles durfte und sollte sogar genannt werden. Das hatte wirklich großen Zulauf. Die Ergebnisse haben wir anschließend nach Kategorien geclustert und dazu Arbeitsgruppen gebildet, die die Themen Stück für Stück abgearbeitet haben. Mit Hilfe einer externen Supervision wurde das dann auf bestimmte Punkte komprimiert, die zu ganz konkreten Veränderungen führten. Das Interessante war, dass jeder anfangs dachte, dass alle vor allem mehr Geld wollen. Doch das spielte am Ende die kleinste Rolle. 

Können Sie das Vorgehen näher erläutern? 

Prof. Dr. Martin Grond: Wir haben alles projektbezogen unter die Lupe genommen, so wie es in der Wirtschaft längst üblich ist. Dabei beruhte das Prozedere auf zwei Prinzipien: Erstens sollten die Mitarbeitenden ihre Arbeitsbedingungen selbst gestalten. Sie sind ja auch diejenigen, die das täglich leben. Zweitens wurden alle beteiligten Berufsgruppen eingebunden. Ich als Ärztlicher Direktor und Chefarzt habe nur auf die rechtlichen Vorgaben hingewiesen, wie das Arbeitsschutzgesetz, und nachher überprüft, ob das Ergebnis auch funktioniert.

Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?

Prof. Dr. Martin Grond: Die Mitarbeitenden haben die Dienstmodelle geändert, sodass sie besser zu ihren Arbeitszeitvorstellungen passen. Dadurch ergaben sich sogar Win-win-Konstellationen, an die wir vorher gar nicht gedacht haben. So wollten bei uns die Kolleginnen und Kollegen aus der Ergo-, Logo- oder Physiotherapie immer morgens von 8 bis 12 Uhr die Patientinnen und Patienten behandeln und sind ihnen in dieser Zeit hinterhergelaufen. Denn die waren oft nicht da, weil die Untersuchungen ebenfalls vormittags stattfinden. Ab 13 Uhr lagen alle wieder im Bett. Dann kamen die Angehörigen und sagten: „Hier passiert ja gar nichts“. Das haben wir jetzt entzerrt. Die Therapien gehen nun ebenso in den Nachmittag rein, auch wenn die Angehörigen da sind. Die Therapierenden nutzen jetzt Gleitzeit. Es wurden aber auch für die ärztlichen Kräfte gute Modelle entwickelt. Jetzt können wir auch ihnen anbieten, bei einer 50-Prozent-Stelle wirklich nur vier Stunden am Tag zu arbeiten.

Welche anderen Projekte gibt es noch?

Prof. Dr. Martin Grond: Von 20 Projekten laufen derzeit noch fünf. Im Moment beschäftigt sich eine Arbeitsgruppe mit der Raumgestaltung der Arztzimmer. Eine andere optimiert das Entlass-Management, damit nicht immer alle gleichzeitig freitags um 13 Uhr entlassen werden. Es soll zudem direkt bei der Aufnahme geprüft werden, was der Patient oder die Patientin für zu Hause braucht, damit schon Hilfsmittel besorgt werden können. Auch schauen wir uns aus dem Blickwinkel aller beteiligten Berufsgruppen an, wie das optimale Patientenzimmer aussehen kann. Das beginnt bei der Auswahl der Mülleimer, die für die Reinigungskräfte am besten zu leeren sind. Weiter geht es mit der Frage, wie die Betten stehen sollten, damit die Therapeutinnen und Therapeuten gut arbeiten können, bis zur Überlegung, wie die Schränke angeordnet sein sollten, so dass die Pflege optimal an ihre Utensilien kommt. Darüber hinaus haben wir viele strukturelle Änderungen angestoßen.

Was wäre da zu nennen?

Prof. Dr. Martin Grond: Über unser Talentmanagement bieten wir nun durchgehend optimale Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten für alle Berufsgruppen an. Zudem haben wir das Onboarding neu aufgezogen. Jetzt hospitieren neu eingestellte Ärztinnen und Ärzte bei allen Therapieberufen für jeweils einen Tag. Auch neue Pflegekräfte verbringen einen Monat auf jeder der vier Stationen, damit sie das Tätigkeitsfeld dort kennenlernen. Und wir haben nun auf allen Stationen eine Verwaltungskraft, um die ärztliche und die pflegerische Seite von administrativen Aufgaben, wie den QS-Bögen, zu befreien. Sie sorgen auch dafür, dass alle Entlass-Briefe den Patientinnen und Patienten nachgeschickt werden. Als weiteren Effekt haben wir die alte Abgrenzung zwischen Ärzteschaft und Pflege überwunden, sodass sich beide Disziplinen nun gegenseitig helfen.

Dafür ein Beispiel?

Prof. Dr. Martin Grond: Das leidige Thema der Blutabnahmen. Inzwischen macht das auch die Pflege vermehrt. Zudem übernimmt sie bestimmte Dokumentationsleistungen, die früher bei uns eine ärztliche Aufgabe waren. Außerdem haben wir verbindliche Zeiten eingeführt. Nun müssen bei der Übergabe alle Berufsgruppen zugegen sein, inklusive Stationsarzt oder -ärztin. Auch für die Visite gibt es jetzt einen festen Zeitpunkt. Darüber hinaus betreiben wir aktives Teambuilding.

Was passiert dort?

Prof. Dr. Martin Grond: Es finden Events statt. So hatten wir ein großes Sommerfest und neulich ein Treffen in einer Spielekneipe mit Tischfußball und Dart. Da kamen 100 Mitarbeitende nur aus der Neurologie – und da musste auch ich plötzlich im Dart antreten, obwohl ich das noch nie vorher in meinem Leben gespielt habe. Einmal im Monat findet ein Neuro-Stammtisch in einem Lokal statt, völlig niederschwellig und zwangslos. Wer kommen will, kommt. Außerdem haben wir jetzt den Neurospace. Das ist ein interdisziplinärer, dynamischer, sehr modern und schick eingerichteter Besprechungsraum mit Getränken und Projektionstechnik nur für uns. Dafür haben wir richtig Geld in die Hand genommen.

Gab es ein auslösendes Ereignis für all diese Aktivitäten?

Prof. Dr. Martin Grond: Ehrlicherweise wurde das Neurologie-Projekt aus der Not heraus geboren. Früher hatte die Abteilung ein schlechtes Image, die Stellen konnten kaum besetzt werden. Ich musste deswegen sogar vorübergehend eine Station schließen. Die Neurologie ist ohnehin ein pflegeintensives Fach, weil viele Patientinnen und Patienten sich oft nicht selbst helfen können. Also mussten wir schauen, wie wir diesen Arbeitsplatz attraktiver gestalten können. Jetzt sind nicht nur alle Stellen besetzt, wir haben sogar eine Warteliste.

Wann ist das Projekt abgeschlossen?

Prof. Dr. Martin Grond: Unser Neurologie-Projekt darf gar nicht zu Ende gehen. Wir möchten, dass all das, was wir gelernt haben, also wie man miteinander umgeht, arbeitet und kommuniziert, verstetigt wird. Dafür sind nun zwei übergeordnete Projektkoordinatorinnen als Doppelspitze zuständig: eine Ärztin und die Pflegedienstleitung. Statt der früheren klassischen Oberarztbesprechung treffen sie sich jeden ersten Montag im Monat mit den Führungskräften, um alles kontinuierlich weiterzuentwickeln. Zudem kommen verschiedene Kreise mit unterschiedlichen Zusammensetzungen verbindlich und regelmäßig zusammen – und nicht wie früher, wo das nur geschah, wenn ein Problem auftauchte.

20.01.2025, Evangelisches Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge gGmbH
Berlin

Wie ist die Resonanz?

Prof. Dr. Martin Grond: Unser Projekt gewann im November 2023 den Pflegepreis der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Inzwischen hat es auch ein bisschen abgefärbt auf die ganze Klinik. Wir versuchen, es auf die Gesamtstruktur auszuweiten. Die Mitarbeitenden sind zufriedener, auch unsere Ärztinnen und Ärzte. Denn sie sind keine Inselkämpfer mehr. Das ist auch von Vorteil, da sie mittlerweile auch eine sehr heterogene Gruppe bilden, auch was die Herkunft betrifft. Wir leiden alle darunter, dass Medizin heute im wesentlichen Mangelverwaltung ist. Ich habe in dem Projekt gelernt, dass man den Mangel auch gestalten kann.

Was war Ihre Rolle dabei?

Prof. Dr. Martin Grond: Ich bin seit 36 Jahren Arzt und quasi in den hierarchischen Strukturen groß geworden. Ich glaube, ohne Personalmangel wäre das wahrscheinlich immer so weiter gegangen. Aber manchmal hat eine Krise auch was Gutes. Ich habe mich selbst an die Nase gefasst und gefragt: Machen wir jetzt immer so weiter oder erfinde ich mich nochmal neu? Das bedeutet auch für mich ein Umdenken im letzten Drittel meiner Berufstätigkeit. Durch so ein groß angelegtes Projekt kann sich das Gesicht, die Struktur und das Wesen einer Klinik völlig verändern. Aber ich habe entschieden, wir gehen dieses Risiko ein, stellen alles zur Disposition, hinterfragen sämtliche Schnittstellen und gewohnten hierarchischen Ebenen. Kurz gesagt, wir drehen jeden Stein um. Das anzustoßen war auch meine einzige Aufgabe als Chef. Darüber hinaus bin ich nur ein Projektbeteiligter wie alle anderen.

Der Experte

Prof. Martin Grond

Prof. Martin Grond ist Ärztlicher Direktor des Klinikums Siegen und Chefarzt der Neurologie. Zuvor war er Oberarzt und Hochschuldozent an der Klinik und Poliklinik für Neurologie der Universität zu Köln und Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts in Köln.

Bild: © Klinikum Siegen

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