Was ist wichtig bei einem Massenanfall an Verletzten? Das Beispiel München

21 Mai, 2025 - 07:29
Gerti Keller
Zugunfall mit stark beschädigten Lokomotiven und Waggons auf den Gleisen, umgeben von Vegetation und Rettungsarbeiten im Hintergrund.

Ob Amokfahrt, Zugunglück oder Epidemie: Kliniken müssen auf einen „Massenanfall an Verletzten“ (MANV) vorbereitet sein. Damit das im Ernstfall wirklich klappt, sind entsprechende Übungen unerlässlich. Philipp Fischer kümmert sich mit seinem Team hauptberuflich um die Krankenhausalarm- und Einsatzplanung, um das Klinikum bestmöglich auf ein solches Krisenszenario vorzubereiten. Beim Anschlag auf die ver.di-Demo im Februar 2025 war dieser Experte in einer der versorgenden Kliniken vor Ort.

Herr Fischer, wie erlebten Sie den Tag der Auto-Amokfahrt auf die ver.di-Demo?

Philipp Fischer: Das LMU Klinikum zählt mit seinen beiden Münchner Standorten Großhadern und Innenstadt zu den größten Universitätsklinika in Deutschland und Europa. Mein Arbeitsplatz ist das Institut für Notfallmedizin und Medizinmanagement, das zum LMU Klinikum München gehört. Dieses befindet sich am Campus Innenstadt, wo ich am 13. Februar war. Um 10.44 Uhr wurde der „Massenanfall an Verletzten“ (MANV) gemeldet. Zu diesem Zeitpunkt musste mit bis zu 49 Betroffenen am Schadensort gerechnet werden, die eine Versorgung in einer Klinik benötigen würden. Ich konnte live mitverfolgen, wie unsere Konzepte durch das Klinikpersonal angewandt wurden, wie ruhig und strukturiert alles ablief. Sämtliche Prozesse funktionierten reibungslos, alle Notaufnahmen waren einsatzbereit.

Wie sind die Abläufe genau?

Philipp Fischer: Die gesamte Kaskade startet mit der Alarmierung der Notaufnahme durch die Rettungsleitstelle. Bei uns in München läuft das automatisiert über das digitale Versorgungsnachweissystem. Daraufhin werden die initialen Entscheidungstragenden informiert, die sich aus der Dienstmannschaft rekrutieren. Am LMU Klinikum sind das drei Schlüsselpositionen: anästhesiologische/r Oberarzt/-ärztin, chirurgische/r Oberarzt/-ärztin der ZNA und die Triage-Pflegekraft der ZNA. Sie legen im nächsten Schritt die klinikinterne Alarmstufe fest, je nach angekündigter Patientenzahl. Dann wird das anwesende Personal zusammengetrommelt, beispielsweise die ersten Schockraumteams. Bei hoher Alarmstufe mobilisiert man auch das dienstfreie Personal. Das funktioniert ebenfalls über eine Alarmierungssoftware mit Bandansage. Parallel dazu baut sich die medizinische Einsatzleitung auf, die das Ganze koordiniert. Bei sehr großem Ausmaß tritt die Klinikeinsatzleitung als strategische Entscheidungsebene in Kraft. Da sind dann auch Vertreter des Vorstands dabei.

Wie oft trainieren Sie das? Wird das angekündigt?

Philipp Fischer: Ein- bis zweimal pro Jahr pro Notaufnahme. Dies geschieht während des laufenden Betriebs allerdings angekündigt, um die Regelversorgung nicht zu gefährden, auch weil wir dafür zusätzliches Personal brauchen. Hierbei simulieren Studierende und Mitarbeitende die verschiedenen Verletzungsmuster. Zudem „hängen“ wir uns an die großen Katastrophenschutzübungen des Rettungsdienstes und Feuerwehr dran, die jedoch seltener stattfinden. Dann können wir auch mit realitätsnah geschminkten Patientendarstellenden üben, die per Rettungswagen in die Klinik gebracht werden.

Was ist die größte Herausforderung bei einem MANV?

Philipp Fischer: Ganz klar der Zeitfaktor. Schon im Alltag sind unsere Notaufnahmen randvoll. Wenn dann auf einmal 15 oder 20 Patientinnen und Patienten in kurzem Zeitraum zusätzlich kommen, müssen sehr schnell Entscheidungen getroffen werden. Optimalerweise stehen wir bereit, bevor der erste Betroffene die Klinik erreicht. Das betrifft die räumliche, personelle und organisatorische Umstrukturierung der Notaufnahmen und der Intensivstationen. OPs müssen gestoppt werden, es dürfen keine neuen begonnen werden. Zusätzliches Material muss herbeigeschafft werden. Dafür ist essentiell, dass wir von der Rettungsleitstelle frühestmöglich informiert werden. Ganz wenig Vorbereitungszeit führt zu einem Riesenchaos, wie es beispielsweise 2015 in Paris beim Anschlag auf das Bataclan der Fall war. Dort liefen die Menschen unangekündigt in die nächste Klinik und zwar nicht einer oder zwei, sondern einer nach dem anderen.

Was sind weitere Herausforderungen?

Philipp Fischer: Die ersten Minuten in der Klinik sind die frühsten wesentlichen Herausforderungen. Das hat uns die Erfahrung der letzten Jahre gezeigt. Die Behandlungsdringlichkeit muss durch das systematische Anwenden eines funktionierenden innerklinischen Sichtungsalgorithmus festgelegt werden. Dies geschieht am Sichtungspunkt, der in der Notaufnahme aufgebaut wird. Glücklicherweise sind diese Ereignisse ja absolute Ausnahmesituationen, das führt aber auch zu der Problematik, dass das Personal darin eben nicht routiniert ist. Hinzu kommt das hohe Maß an Fluktuation. Damit „Die ersten zehn Minuten“ dennoch gut gelingen, haben wir ein gleichnamiges Konzept für die initialen Entscheidungstragenden entwickelt, welches im März 2025 in „Die Unfallchirurgie “ publiziert wurde. Dadurch konnten wir in Übungen die Vorbereitungsphase von der Alarmierung durch die Leitstelle bis zur Auslösung des klinikinternen Alarms um 50 Prozent reduzieren. Viele Herausforderung sind aber auch situativ bedingt.

Welche zum Beispiel?

Philipp Fischer: Bei großen, anfänglich unübersichtlichen Lagen, wie Terrorereignissen oder Zugunglücken, kann es durchaus vorkommen, dass sich Kliniken mit einer hohen Anzahl an Selbsteinweisern konfrontiert sehen, die beispielsweise von Angehörigen gebracht werden. Das birgt aber einige Fallstricke. Diese Menschen kommen unangekündigt, medizinisch unversorgt und teils schwerstverletzt in die dem Ereignisort nahegelegenen Notaufnahmen und stellen diese dann vor enorme organisatorische Herausforderungen. Der Regelbetrieb muss umgehend auf Krisenmodus umgestellt werden, was nicht ohne Vorbereitungszeit umzusetzen ist. Hierfür braucht es gute Konzepte.

Wie sieht es aus mit dem Schutz der Klinik?

Philipp Fischer: Auch ein wichtiges Thema. Solche Lagen wie beim Anschlag auf die ver.di-Demo sind anfangs immer unübersichtlich. Wir wussten zunächst nicht, ob noch weitere Amokfahrten hinterherkommen oder noch mehr Attentäter mit Waffen unterwegs sind. Es geistern schnell irgendwelche Falschmeldungen durch die Medien, die für Verunsicherung sorgen. Also müssen wir in so einem Fall auch unsere Klinik, die Patienten und Mitarbeitenden schützen. Wir haben also unsere Zugänge geschlossen und unser Sicherheitspersonal positioniert, wobei deren Anzahl und Schlagkraft begrenzt ist. Bei einer lebensbedrohlichen Einsatzlage wie einem Terroranschlag sind wir daher auch auf die Unterstützung der Polizei angewiesen. Dazu gibt es zumindest hier in München mittlerweile schon konkrete Konzepte.

Ist Ihr Institut bei einem MANV auch involviert?

Philipp Fischer: Unsere Pläne funktionieren vollkommen unabhängig von uns. Sie sind darauf ausgelegt, das wichtige Funktionen aktiviert werden. Das ist nicht an Personen gekoppelt. Gegebenenfalls fahren wir aber natürlich auch in die Notaufnahmen und unterstützen dort. Zusätzlich haben wir am LMU Klinikum ein standortübergreifendes Sofortkrisenteam für die Erstkoordination anderer Ereignisse. Das setzt sich zusammen aus Vertretern der Bereiche Sicherheit, Betriebstechnik, Presse, Vorstand, Katastrophenschutz und Klinik. Dieses Krisenteam wird bei Bedarf in einer Telefonkonferenz zusammengeschaltet und begibt sich je nach Lage auch in die Klinik, um dort die Koordination zu übernehmen.

Ist Ihr Institut ein Vorbild? Trainieren Sie auch andere Kliniken?

Philipp Fischer: Wir sind in der glücklichen Lage, dass sich unsere Klinik ein Team leistet, das sich ausschließlich dieser Thematik widmet. Wir sind zwar nur für uns zuständig, gehen aber als Übungsbeobachter in andere Häuser, weil wir mittlerweile eine große Expertise besitzen. Generell freuen wir uns, wenn Kliniken unsere Konzepte übernehmen oder wir bei der Erstellung von individuellen Alarmplänen beraten können.  

Wie steht es Ihrer Meinung nach um die Thematik bundesweit?

Philipp Fischer: Große Kliniken leisten sich schon lange Personal, das sich zumindest anteilig dieser Thematik widmet. Wir beobachten, dass mittlerweile auch zunehmend kleinere Häuser Mitarbeitende hierfür anteilig freistellen. Das ist eine sehr gute Entwicklung. Denn wer 100-prozentig als Arzt arbeitet und sich vielleicht als Funktionsoberärztin noch um den Dienstplan kümmern muss, kriegt es nicht „mal eben so“ nebenbei hin, die Klinik auf solche Krisen effektiv vorzubereiten. Leider fehlen gesetzliche Vorgaben, zumal das Ganze dem Föderalismus unterliegt. Es bestehen wenig konkrete Verpflichtungen für Übungen, wobei Regelmäßigkeit und Tiefe wirklich nirgends vorgeschrieben sind. Aber wenn ich einen Plan aufstelle, muss ich den doch auch beüben! Da fehlt teilweise der politische Wille. Dabei gibt es gute Beispiele beispielsweise aus Berlin, wo die Senatsverwaltung die Übungen vorgibt und sogar unangekündigt durchführen lässt.

Aktualisieren Sie denn die Pläne regelmäßig?

Philipp Fischer: Natürlich! Und auch dafür benötigen wir die Übungen. Die Konzepte, die wir zwar in interprofessionellen Arbeitsgruppen erarbeiten, können wir nur durch das Durchexerzieren eines möglichst realen Szenarios überprüfen, um auf potenzielle Fehler zu stoßen. Und jedes Mal gewinnen wir neue Erkenntnisse. Auch in der Wissenschaft tut sich immer mal wieder etwas, das wir in unseren Plänen berücksichtigen müssen.

Wird im Zuge der neuesten politischen Entwicklungen darauf nun mehr Wert gelegt?

Philipp Fischer: Das Bewusstsein der Politik steigt aktuell im Kontext der Bündnis- und Landesverteidigung. Es gibt hierzu verschiedene Aktivitäten. In den letzten Wochen und Monaten sind diverse Positionspapiere von Fachgesellschaften und Zusammenschlüssen erschienen, die auf die Notwendigkeit hinweisen. Auch Corona hatte einiges angeschoben. Was wir bräuchten, wäre eine geregelte Finanzierung für Übungen und einen klaren Auftrag der Politik, um die Resilienz der Kliniken weiter zu stärken. Aktuell sind diese dafür absolut unzureichend bis gar nicht vorbereitet.

Der Experte:

Philipp Fischer

Philipp Fischer arbeitete zunächst als Lehrrettungsassistent und Notfallsanitäter im In- und Ausland und leitete eine Rettungswache in München. Nach dem Studium der Sanitäts- und Rettungsmedizin wechselte er 2018 an das Institut für Notfallmedizin und Medizinmanagement (INM) des LMU Klinikums München. Seitdem arbeitet er dort als stellvertretender Katastrophenschutzbeauftragter. Er ist zusammen mit PD Dr. Stephan Prückner (Geschäftsführender Direktor des INM, der zudem der Katastrophenschutzbeauftragte des LMU Klinikums ist), verantwortlich für den Fachbereich Krankenhausalarm- und Einsatzplanung.

Kontakt: Philipp.Fischer@med.uni-muenchen.de

Bild: © LMU München

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