Ärztinnen und Ärzte in Führung: Impostor Phänomen leichter überwinden

12 Dezember, 2022 - 07:21
Prof. Dr. med. Sonja Güthoff, MBA
Ärztinnen und Ärzte in Führung: Prof. Dr. Sonja Güthoff
Prof. Dr. med. Sonja Güthoff, MBA ist Ärztin, Führungskräfte-Trainerin, Professorin für Health Care an der AKAD University sowie Stress- und Burnout-Coach und Leiterin der Leaders Academy Augsburg - Garmisch Partenkirchen.

Kennen Sie Kolleginnen und Kollegen, die sich im Verhältnis zu ihrer Kompetenz wenig zutrauen? Die ihre Erfolge herunterspielen und Selbstzweifel zeigen? Oder haben Sie vielleicht selbst manchmal das Gefühl, dass Sie Ihre Position gar nicht verdient haben und Ihre Inkompetenz jeder Zeit auffliegen könnte? Lesen Sie in diesem Artikel, was das Impostor Phänomen ist, dass ein beträchtlicher Anteil Medizinerinnen und Mediziner davon betroffen sind und wie Sie selbst damit umgehen bzw. Ihr Team stärken können.

Was ist das Impostor Phänomen?

Die beiden klinischen Psychologinnen Pauline R. Clance und Suzanne A. Imes beschrieben in den 70er Jahren als erste das Phänomen, dass sich erfolgreiche Promovierte trotz ausgezeichneter akademischer und beruflicher Leistungen als Hochstaplerinnen (engl. impostor) fühlten. Den Betroffenen kam es vor, als würden sie ihren Erfolg nicht verdienen und sie könnten jeden Moment als Betrügerinnen „auffliegen“, obwohl objektiv gesehen kein Anhalt dafür bestand. Als Zeichen der Selbstunterschätzung berichteten sie zudem, dass ihr Erfolg nur auf Glück, sozialen Fähigkeiten oder (weiblichem) Charme basieren würde (Psychotherapy: Theory, Research and Practice 1978; 15:241-247).

13.01.2025, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Mainz
12.01.2025, Kirinus PsoriSol Hautklinik
Hersbruck

Auch für den Bereich der Medizin zeigte der Literaturüberblick von Mary Thomas und Silvia Bigatti, dass es unter Medizinstudierenden, Ärztinnen und Ärzten eine Prävalenz für das Impostor Phänomen von 22,5 Prozent bis 46,6 Prozent gab. Dabei scheinen Frauen häufiger betroffen zu sein (41 Prozent bis 52 Prozent) als Männer (23,7 Prozent bis 48 Prozent; International Journal of Medical Education 2020; 11:201-213). In diesem Review eruierten die Autorinnen auch, dass in den eingeschlossenen acht quantitativen Studien statistisch signifikante Zusammenhänge zwischen dem Impostor Phänomen und mindestens einem Aspekt im Bereich der mentalen Gesundheit wie Burnout, Depression, Selbstwertgefühl, Angst und psychologischer Distress gefunden wurde.

Neben der Selbstunterschätzung als Schlüssel-Korrelationen des Impostor Phänomens fanden Monika Fleischhauer et al. häufiger einen sozial vorgegebenen Perfektionismus, der auf dem Glauben basiert, dass andere die Perfektion von mir erwarten, während der selbst-erwartete Perfektionismus weniger Einfluss auf die Ausprägung eines Impostor Phänomens hatte (Front. Psychol. 2021; 12:764030).

Merke:

Zwei wichtige Merkmale des Impostor Phänomens sind:

  • Selbstunterschätzung meines Wissens und Könnens, obwohl ich Medizin studiert habe und hervorragend weitergebildet bin
  • Glaube, dass andere Perfektionismus von mir erwarten und ich diesem gerecht werden muss

Die folgenden (Selbst-Coaching-)Methoden können Ihnen helfen, einem Impostor-Phänomen bei sich selbst oder im Team vorzubeugen oder ein bestehendes zu mindern.

Realistische Selbst-Einschätzung fördern

Wir Ärztinnen und Ärzte sind gut ausgebildet. Oft begnügen wir uns nicht mit dem bereits erreichten, sondern machen noch eine zweite Weiterbildung, sammeln Zertifikate und Methoden, absolvieren vielleicht noch ein MBA oder anderes Zweitstudium etc. – trotzdem kann beim Vorliegen eines Impostor Phänomens all das nicht als wertig angesehen werde. Es bleiben Gedanken, dass wir nicht gut genug seien, dass wir erst noch mehr lernen müssen, um uns sicher zu fühlen.

Kleiner Tipp: Legen Sie sich einen „Beweise-Ordner“ an (digital oder besser noch einem zum Anfassen und Durchblättern). In diesem sammeln Sie Ihre Studienabschlüsse, Urkunden (z.B. Promotions-, Habilitations-Urkunde), Zertifikate etc. als Kopien. Gleich als erste Seite können Sie zudem eine Tabelle anlegen, in der Sie Ihre verschiedenen Stärken aufführen wie z.B. dass Sie ausdauernd, zielstrebig, empathisch, teamfähig, lösungsorientiert etc. sind, dass Sie gut operieren, bestimmte Untersuchungen oder Interventionen durchführen können, mehrere Sprachen sprechen, und was auch immer Sie positiv ausmacht. Lassen Sie immer ein paar Zeilen frei, in denen Sie sich für die jeweilige Stärke ebenfalls „Beweise“ notieren. Am Besten sind dies ganz konkrete Situationen, in denen Sie die einzelnen Stärken bewiesen haben.

Wenn wir ein Impostor Phänomen zeigen, können wir häufig nicht unsere Erfolge sehen, geschweige denn diese feiern. Eine hilfreiche Methode ist, täglich ein sogenanntes Erfolgsjournal zu führen. In dieses Heft oder Buch schreiben Sie jeden Tag am Besten etwa zur gleichen Zeit (z.B. als Abendroutine) 3-5 Dinge des aktuellen Tages auf, die Ihnen gut gelungen sind, auf die Sie stolz sein können bzw. die Sie erreicht haben. Sie werden feststellen, dass es Ihnen von Tag zu Tag einfacher fallen wird, Ihre kleinen und großen Erfolge zu sehen. Vielleicht fallen Ihnen auch Komplimente ein, die Sie bekommen haben und die sich ebenfalls gut in diesem „Erfolgsjournal“ machen.

Sowohl den „Beweise-Ordner“ also auch das „Erfolgsjournal“ können und sollten Sie immer wieder mal durchblättern und lesen, wenn Sie das Gefühl von Inkompetenz haben. Hier sehen Sie objektive „Beweise“ für Ihre Kompetenzen, Erfolge und Ihr Wissen, die Ihnen zu mehr Sicherheit verhelfen können.

Tipp:

Nutzen Sie Peer-Groups, um über Ihr Empfinden der Inkompetenz zu reden. Die Wahrscheinlichkeit ist statistisch gesehen sehr hoch, dass andere in Ihrer (Arbeits-)Umgebung auch vom Impostor Phänomen betroffen sind. Es kann helfen, von gut qualifizierten Kolleginnen und Kollegen, deren Können und Wissen wir schätzen, ähnliche Gedanken zu hören. Erstaunlicherweise fällt es uns bei anderen viel leichter, den Mechanismus dahinter zu erkennen. Ziel ist es, diesen dann auch etwas realistischer bei uns selbst einzuschätzen zu können.

Druck aus dem erwartet-geglaubten Perfektionismus nehmen

Haben Sie auch oft das Gefühl, dass Sie die Erwartungen anderer im (Berufs-)Alltag erfüllen müssen? Gerade, wenn wir als Ärztinnen und Ärzte gerne im Team arbeiten, sozial kompetent und interdisziplinär engagiert sind, dazu noch schlecht „Nein“ sagen können, laufen wir Gefahr, uns selbst unter Druck zu setzen (vergleiche auch den unter Ärztinnen und Ärzten häufigen Inneren Antreiber „Mach es allen recht!“). Halten Sie hin und wieder mal im Klinik- oder Praxis-Stress inne und überlegen Sie, ob Sie tatsächlich alles (alleine) schaffen müssen, ob diese Erwartung tatsächlich an Sie von anderen gestellt wird, oder glauben Sie das eventuell nur? Und was würde passieren, wenn Sie ehrlich und wertschätzend zu sich selber sind und auch mal „Nein“ sagen?

Vielleicht möchten Sie sich auch das Pareto-Prinzip vor Augen halten. Der italienische Volkswirt und Soziologe Vilfredo Pareto (1848-1923) erkannte, dass z.B. ca. 80 Prozent des Gesamtvermögens des italienischen Volkes ca. 20% der italienischen Familien innehatten. Er fand diese 80-20 Regel in verschiedenen Zusammenhängen wieder. Sicherlich kennen Sie das auch, dass ca. 80 Prozent der Patientinnen und Patienten in ca. 20 Prozent der Zeit und Energie durchlaufen. Meist sind es die weiteren 20 Prozent, bei denen komplizierte Fälle auftreten, Komplikationen folgen oder komplexere Untersuchungen durchgeführt werden müssen, so dass die restlichen 80 Prozent unserer Zeit und Energie verbraucht werden. In diesen Fällen liegt es nicht an uns und mangelnder Kompetenz unsererseits, wenn es länger dauert. Daher sollten wir uns fragen: Wer kann uns bei diesen komplizierten Fällen eventuell unterstützen?

Übertragen auf unsere alltäglichen Aufgaben können wir auch oft feststellen, dass für einen 80-prozentigen Erfolg meist nur 20 Prozent Energie-Aufwand nötig sind. Um auf die 100 Prozent Perfektion zu kommen, braucht es dann allerdings die anderen 80 Prozent Energie und Zeit. Sobald das Wohlbefinden unserer Patientinnen und Patienten, der Behandlungs- oder Therapieerfolg davon abhängt, ist selbstverständlich 100-prozentige Perfektion notwendig. Wird dies jedoch wirklich z.B. bei Arztbriefen erwartet?

Toolbox Führung

Als Ärztin oder Arzt in Führung können Sie bewusst mit folgenden Maßnahmen und Methoden die Ausprägungen eines Impostor Phänomens im Team verringern:

  1. Anerkennen Sie wertschätzend die gute Arbeit Ihrer Mitarbeitenden. Betroffene glauben im Rahmen des Impostor Phänomens, dass sie anderen nur etwas vormachen, also gar nicht wirklich über die gezeigte Kompetenz verfügen. Daher ist es wichtig, dass Sie als Führungskraft nicht einfach nur überschwänglich loben, sondern ganz konkret die „Beweise“ mitliefern, woran Sie die gute Arbeit festmachen.
  2. Seien Sie hellhörig bei abwehrender Haltung, sobald Sie positiv gelaufene Dinge hervorheben. Häufige Bescheidenheit kann ein Hinweis darauf sein, dass hier ein Impostor Phänomen vorliegt. Auch in diesem Fall kann es für innere Sicherheit sorgen, wenn Sie konkret benennen, welchen Anteil die Mitarbeitenden jeweils an diesem Erfolg haben.
  3. Um den erwartet-geglaubten Perfektionismus bei Betroffenen zu mindern, ist eine gelebte, lösungsorientierte Fehlerkultur die beste Basis, in der auch Fehler aller zur Sprache kommen. Schließlich geht es nicht darum, schuldige für einen Fehler zu finden, sondern sich zu fragen, wie der Fehler das nächste Mal im Sinne unserer Patientinnen und Patienten vermieden werden kann (siehe auch "Ärztinnen und Ärzte in Führung: Fehlerkultur leichter verbessern").
  4. Organisieren Sie eine Fortbildung für die Klinik zum Thema Impostor Phänomen, regen Sie Coaching-Unterstützung und Peer-Groups an. Oft ist den Betroffenen gar nicht bewusst, dass sie unter einem Impostor Phänomen leiden. Die Erkenntnis, nicht alleine mit den negativen Gedanken und Gefühlen der Inkompetenz zu sein, trägt bereits zum ersten Verständnis und zur eigenen Zufriedenheit bei.

Der erste Schritt als selbst Betroffene ist es, sich darüber bewusst zu werden, dass ein Impostor Phänomen vorliegen kann. Auch als Führungskraft in der Medizin tun wir gut daran, zu verstehen, dass vermutlich ein nicht geringer Teil meines Teams unter diesem Phänomen leidet, was auch gesundheitliche Auswirkungen bis hin zum Burnout haben kann. Ein offener Austausch über dieses Phänomen, eine gelebte Fehlerkultur und wertschätzender Umgang miteinander kann zu einer besseren Selbsteinschätzung, mehr Zufriedenheit und einer leistungsfähigen Atmosphäre beitragen. Viel Freude dabei.

Beispiel aus der Praxis

Inspiriert durch eine Multicenter-Studie (Anuradha R Bhama et al. J Am Coll Surg 2021; 233:633-638), in der Dreiviertel der chirurgischen Assistenzärztinnen und -ärzte Hinweise auf ein Impostor Phänomen zeigten, organisiert die gynäkologische Chefärztin eines Hauses der Maximalversorgung eine interne Fortbildung für ihre Abteilung.

Die beauftragte Expertin bietet am Ende ihres Vortrages allen Teilnehmenden an, jeweils eine Peer-Group auf der Ebene der Assistenzärztinnen und -ärzte bzw. Oberärztinnen und -ärzte zu vermitteln, wenn Bedarf bestünde. Aus der 48-köpfigen Klinik finden sich drei Oberärztinnen und ein Oberarzt sowie in einer separaten Gruppe fünf Assistenzärztinnen und drei Assistenzärzte zusammen, die unter der Moderation der Expertin in den vertrauensvollen Austausch gehen. Sie entwickeln gemeinsam Strategien, wie sie das Impostor Phänomen leichter überwinden können.

Die Chefärztin, die Oberärztinnen und -ärzte erhalten anschließend ebenfalls gute Hinweise für eine gesunde Führung, die auch Methoden zum Vertrauensaufbau und Stärkung der Sicherheit des Teams beinhaltet und an den Erkenntnissen aus den Peer-Groups orientiert ist.

Die Autorin:

Prof. Dr. med. Sonja Güthoff, MBA ist Ärztin, Führungskräfte-Trainerin, Professorin für Health Care an der AKAD University sowie Stress- und Burnout-Coach. Auf ärztestellen.de gibt sie regelmäßig Tipps zu Führungs-Themen. Als Leiterin der Leaders Academy Augsburg - Garmisch Partenkirchen begleitet sie Ärztinnen und Ärzte, aber auch Führungskräfte aus anderen Branchen dabei, sich und andere besser zu führen.

Sie möchten mehr erfahren? Kontaktieren Sie sie gerne unter info@sonjaguethoff.de und melden Sie sich zur kostenlosen Online-Fortbildung in Führungs-Kompetenzen für Ärztinnen und Ärzte an unter: https://leadersacademymedical.onepage.me/

Mehr Infos unter www.leaders-academy.com.

 

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