
Wenn wir über „Medical Leadership“ sprechen, dürfen wir nicht bei Dienstplanung oder Weiterbildung stehen bleiben. Gute Führung bedeutet auch Schutz und Sicherheit. Erfahren Sie in diesem Artikel, wie Sie Ihr Team vor wiederholten Fehlern und vor struktureller Benachteiligung schützen, sowie Psychologische Sicherheit aufbauen können.
Wir arbeiten im Gesundheitswesen in einem Arbeitsumfeld, in dem wir unter chronischer Überlastung, steigender Komplexität und hohem Erwartungsdruck stehen. Dadurch werden wir Ärztinnen und Ärzte in Führung zu einem wichtigem Faktor für Patientensicherheit, Teamkohärenz und Integrität. „Medical Leadership“ bedeutet mehr als Dienstplanung und Weiterbildung, es bedeutet, eine gesunde kulturelle Grundlage für eine sichere Versorgung zu schaffen. Dazu gehören drei Elemente, die untrennbar miteinander verbunden sind: Fehlervermeidung, Chancengleichheit und Psychologische Sicherheit im Team.
Fehlervermeidung beginnt mit Führungskultur
Fehler passieren besonders dort, wo unter Zeitdruck komplexe Entscheidungen getroffen werden. Im medizinischen Alltag ist dies Normalität. Wie wir mit diesen Fehlern umgehen, entscheidet darüber, ob wir aus ihnen lernen können. Daher ist es wichtig, dass wir Ärztinnen und Ärzte in Führung im Team auf Offenheit, Vertrauen und Lernen setzen. Das gelingt uns z. B., indem wir mit dem Team offen über Fehler reden. Dazu können auch Fälle aus Meldesystemen wie dem CIRS-System (Critical Incident Reporting Systems, siehe CIRSmedical der Bundesärztekammer) gemeinsam besprochen werden. Eine Auswertung der anästhesiologischen CIRS-Daten von Neuhaus et al., in der 6.013 Berichte analysiert wurden, zeigte die folgenden Aufteilung: 3.492 Vorfälle („incidents“, 58,1%), 1.734 Beinahevorfälle („near misses“, 28,8%) und 787 „andere“ (13,1%), wobei diese als 21 Konflikte mit Personal (0,4%), 102 allgemeine Beschwerden (1,7%), 89 Stress- oder Belastungsanzeigen (1,5%) und 575 Berichte ohne kritisches Ereignis oder sicherheitsrelevanten Inhalt (9.6%) angegeben wurden (Neuhaus C. et al. Erkenntnisse aus 10 Jahren CIRS AINS : Eine Analyse von Nutzerverhalten und Ausblick auf neue Herausforderungen. Anaesthesist. 2020; 69(11):793-802).
Fehlervermeidung schützt nicht nur Patientinnen und Patienten, sondern auch medizinisches Personal vor „Second Victim“-Phänomenen. Der Begriff wurde von Professor Dr. Albert W. Wu geprägt und betont, dass Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegefachpersonen durch Schuldgefühle, Angst, Blöße, Scham oder Sorgen um rechtliche Konsequenzen bei medizinischen Fehlern oder auch Beinahevorfällen „mitverwundet“ werden können (Medical error: the second victim - The doctor who makes the mistake needs help too. BMJ 2000; 320(7237): 726–727, siehe auch Ärztinnen und Ärzte in Führung - (Sich) Besser durch Second Victim Symptome führen). Eine Metaanalyse von 18 Studien mit über 11.600 Fachkräften im Gesundheitswesen ergab, dass belastende Erinnerungen (81 %), Angst bzw. Besorgnis (76 %), sowie Wut auf sich selbst (75 %) zu den häufigsten Symptomen zählen. Auch Schuldgefühle, Schlafstörungen und Verlust des Selbstvertrauens treten häufig auf. In ausgeprägten Fällen kann sich daraus ein echtes „Second Victim“-Syndrom entwickeln, das in posttraumatische Belastungsstörungen münden kann (Busch I. M. et al. Psychological and Psychosomatic Symptoms of Second Victims of Adverse Events: a Systematic Review and Meta-Analysis. J Patient Saf 2020; 16(1):e61-e74).
Am Beispiel der Belastungen, die für Mitarbeitende im Gesundheitswesen entstehen können, wenn sie in einen (vermuteten) Behandlungsfehler involviert sind, zeigt Prof. Dr. Kurt W. Schmidt die ethische Verantwortung von Organisationen auf, tragfähige Strukturen für den Umgang mit unterschiedlichen „kritischen Ereignissen“ bereitzustellen. Als besonders hilfreich gelten dabei drei grundlegende Maßnahmen:
die Sensibilisierung aller Beteiligten für dieses Thema, das Angebot von vorbeugenden Schulungen und Trainings sowie die Einrichtung von Kriseninterventionsteams beziehungsweise die Bereitstellung psychosozialer Unterstützungsangebote für die Nachsorge (Der Umgang mit belastenden Ereignissen als organisationsethische Herausforderung am Beispiel „Behandlungsfehler“. Ethik Med. 2021; 33(2):233-242). Hier sind vor allem die Führungskräfte gefragt.
Merke:
Ein sensibler Umgang mit dem „Second Victim“-Phänomen beginnt damit, das Thema offen im Team anzusprechen, um Bewusstsein zu schaffen, Symptome frühzeitig zu erkennen und die Hemmschwelle zur Hilfesuche zu senken. Führungskräfte sowie Kolleginnen und Kollegen sollten im Verdachtsfall vertraulich und ohne vorschnelle Lösungen erste emotionale Hilfe leisten sowie gegebenenfalls professionelle Unterstützung hinzuziehen. Wichtig ist zudem die nachhaltige Begleitung nach kritischen Ereignissen, etwa durch Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen („M & M“) oder „Lessons Learned“, mit emotionaler Reflexion, psychosoziale Ansprechpersonen oder auch Rituale zum Abschiednehmen im Falle von Todesfällen.
Chancengleichheit ist Führungsaufgabe
Gleichstellung ist nicht nur ein gesellschaftliches Ziel, sondern eine Voraussetzung für leistungsfähige, resilient agierende Teams. Doch Chancengleichheit entsteht nicht von allein. Sie muss bewusst von den Führungskräften gestaltet werden, die Diskriminierung erkennen, benennen und abbauen können. Strukturelle Benachteiligung ist im ärztlichen und pflegerischen Alltag selten offen, aber oft wirksam. Besonders betroffen sind Ärztinnen in Weiterbildung, Mitarbeitende mit Sorgeverantwortung, mit Migrationshintergrund und sexuelle und geschlechtliche Minderheiten.
Zum Beispiel zeigte sich in einer systematischen Übersichtsarbeit mit 64 analysierten Studien, dass Frauen in der Medizin benachteiligt sind, wobei auf geschlechtsspezifische Diskriminierung, unbewusste Vorurteile, geringere Gehälter, weniger Führungspositionen und höhere Burnout-Raten bei Frauen hingewiesen wird (Winkel A.F. et al. The Role of Gender in Careers in Medicine: a Systematic Review and Thematic Synthesis of Qualitative Literature. J Gen Intern Med. 2021; 36(8):2392-2399).
Eine deutsche Studie mit 251 teilnehmenden Mitarbeitenden an zwei Universitätskliniken zeigte, dass über ein Drittel der Pflegekräfte Diskriminierung vor allem wegen Sprache, Herkunft oder Geschlecht durch Kolleginnen und Kollegen, Mitarbeitende anderer Berufsgruppen oder Patientinnen und Patienten erlebten (Can E. et al. Foreign Healthcare Professionals in Germany: A Questionnaire Survey Evaluating Discrimination Experiences and Equal Treatment at Two Large University Hospitals. Healthcare (Basel). 2022; 10(12):2339).
Für Führungskräfte ist es auch wichtig, Maßnahmen umzusetzen, die inklusive Strukturen und unterstützende Richtlinien zur Gleichstellung sexueller und geschlechtlicher Minderheiten im Gesundheitswesen fördern (Holmberg M. H. et al. Supporting sexual and gender minority health-care workers. Nat Rev Nephrol. 2022; 18(6):339-340).
Tipp:
Diskriminierung „passiert“ oft unbewusst (vergleiche auch Ärztinnen und Ärzte in Führung – Mitarbeitende gerecht fördern). Nehmen Sie sich bewusst Zeit für das Thema Chancengleichheit:
- Analysieren Sie systematisch: Wer bekommt Entwicklungsmöglichkeiten? Wer übernimmt Routinedienste? Wer bleibt ungehört?
- Etablieren Sie rotierende Zuständigkeiten für sichtbare und weniger sichtbare Aufgaben.
- Bieten Sie gezielte Förderprogramme für potentiell benachteiligte Gruppen an, z. B. Mentoring für Ärztinnen oder ausländische Mitarbeitende.
- Sensibilisieren Sie sich und Ihr Team für unbewusste Bias in Entscheidungen.
Psychologische Sicherheit als gesunde Basis für Teams
Die US-amerikanische Professorin Dr. Amy C. Edmondson prägte mit ihrer Forschung den Begriff der Psychologischen Sicherheit in Teams (Psychological safety and learning behavior in work teams. Administrative Science Quarterly 1999; 44(2): 350–383). Wenn in Teams Psychologische Sicherheit besteht, teilen die Mitglieder die Überzeugung, dass sie zwischenmenschliche Risiken eingehen können – etwa, ihre Meinung offen zu äußern oder kritisch nachzufragen – ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen; dabei spielen Führungskräfte eine entscheidende Rolle bei der Schaffung psychologisch sicherer Teams (O'Donovan R., McAuliffe E. A systematic review exploring the content and outcomes of interventions to improve psychological safety, speaking up and voice behaviour. BMC Health Serv Res. 2020; 20(1):101).
Eine Studie in einer anästhesiologischen Abteilung einer Uniklinik zeigte, dass eine niedrige Psychologische Sicherheit zu einer hohen Wechselbereitschaft bei ärztlichen (Odds Ratio 6.86; 95% CI 1.38 bis 34.05) und pflegerischen Mitarbeitenden (Odds Ratio 8.93; 95% CI 4.27 bis 18.68) führt und mit hohen finanziellen Kosten verbunden sein kann (Cladis F.P. et al. Psychological safety in the perioperative environment: a cost-consequence analysis. BMJ Lead. 2024; 8(4):305-311). Das Autorenteam dieser Studie betont, dass Psychologische Sicherheit nicht bedeutet, dass jede Meinung automatisch richtig ist oder Verantwortung entfällt, sondern eine Kultur von Offenheit, Ehrlichkeit und Respekt gefördert werde, in der alle voneinander lernen und sich weiterentwickeln können (Cladis F.P. et al. 2024, siehe oben).
Etablieren Sie als Ärztin und Arzt in Führung oder andere Führungskraft im Gesundheitswesen für Ihr Team Gesprächsräume, in denen auch Kritik erwünscht ist. Führen Sie regelmäßige Reflexionsgespräche mit dem gesamten Team. Dabei können Sie auch zum Beispiel die gewaltfreie Kommunikation einführen und gemeinsam nutzen (siehe auch Ärztinnen und Ärzte in Führung: New Work in der Medizin einfach machen). Schaffen Sie jedoch auch Feedbackkanäle, die anonyme Rückmeldungen ermöglichen.
Missstände benennen, ohne Angst vor Konsequenzen
In einem systematischen Review kommen Lever et al. (Health consequences of bullying in the healthcare workplace: A systematic review. J Adv Nurs. 2019; 75(12):3195-3209) zu dem Schluss, dass auch Mobbing (Bullying) in klinischen Kontexten signifikante Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Mitarbeitenden, sowie auch Folgen für die Patientenversorgung hat. Frauen sowie ethnische oder religiöse Minderheiten stellen besonders gefährdete Gruppen dar, die häufig Opfer von Übergriffen werden und aufgrund kultureller Faktoren seltener über solche Erfahrungen berichten oder diese melden (Ullah R. et al. Bullying among healthcare professionals and students: Prevalence and recommendations. J Taibah Univ Med Sci. 2023; 18(5):1061-1064).
Gesundheitsskandale zeigen zudem international, dass Hinweisgebende im Gesundheitswesen trotz berechtigter Bedenken oft unzureichend geschützt werden, ihre Meldungen ignoriert oder entwertet und sie in manchen Fällen sogar gezielt von Führungskräften isoliert oder sanktioniert werden (Mannion R, Davies HT. Cultures of Silence and Cultures of Voice: The Role of Whistleblowing in Healthcare Organisations. Int J Health Policy Manag. 2015; 4(8):503-5). Daher ist es für Führungskräfte wichtig, über rechtliche Rahmenbedingungen wie das Hinweisgeberschutzgesetz, das seit 2023 auch für deutsche Krankenhäuser verbindlich ist, Bescheid zu wissen (Dann M. Das neue Hinweisgeberschutzgesetz und seine Bedeutung für das Gesundheitswesen. MedR 2023; 41: 705–711) und aktiv auf entsprechende anonyme Meldestellen hinzuweisen.
Toolbox Führung:
Fördern Sie gezielt Fehlervermeidung, Chancengleichheit und Psychologische Sicherheit im Team, z. B. durch nachfolgende Maßnahmen:
- Fehlervermeidung – Wer über Fehler spricht, vermeidet Wiederholungen.
- Offene Fehlerkultur etablieren: Besprechen Sie regelmäßig kritische Ereignisse oder Beinahefehler im Team. Vermeiden Sie Schuldzuweisung und achten Sie auf Hinweise des „Second Victim“-Phänomens.
- CIRS & Lernsysteme nutzen: Verwenden Sie anonymisierte Fallbeispiele aus CIRSmedical oder anderen Meldesystemen als Lernanlässe.
- Vorbild sein: Sprechen Sie eigene Fehler offen an, das schafft Vertrauen und senkt die Hemmschwelle für andere.
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Chancengleichheit – Gleichbehandlung bedeutet faire Chancen für unterschiedliche Lebensrealitäten.
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Transparenz schaffen: Prüfen Sie regelmäßig, ob Aufgaben, Dienste, Weiterbildungen und Beförderungen fair verteilt sind.
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Diversität fördern: Erkennen Sie Vielfalt als Ressource und fördern Sie Mitarbeitende unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Lebensform.
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Mentoring & Sichtbarkeit: Unterstützen Sie insbesondere Ärztinnen, internationale Mitarbeitende und Teilzeitkräfte durch gezielte Mentoring- oder Coachingprogramme.
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Bias erkennen: Schulen Sie sich und Ihr Team in der Wahrnehmung unbewusster Vorurteile (Unconscious Bias).
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Psychologische Sicherheit – Voraussetzung für Patientensicherheit und Teamleistung
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Offene Kommunikation fördern: Fragen Sie regelmäßig nach Meinungen und Kritik, besonders von ruhigeren Teammitgliedern.
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Sicherheitsräume schaffen: Signalisieren Sie, dass Fehlermeldungen und Hinweise keine Konsequenzen, sondern Wertschätzung erfahren.
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Hinweisgeberschutz ernst nehmen: Weisen Sie aktiv auf interne Hinweisstellen hin und behandeln Sie alle Meldungen vertraulich und respektvoll.
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Unterstützung bei Belastung: Reagieren Sie sensibel auf Hinweise des „Second Victim“-Phänomens und stellen Sie Peer- oder psychosoziale Unterstützung bereit.
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Die Autorin:
Prof. Dr. med. Sonja Güthoff, MBA, ist Ärztin, Führungskräfte-Trainerin, Professorin für Gesundheitsmanagement, Medical Leadership und Digital Health an der AKAD Hochschule Stuttgart, Stress- und Burnout-Coach sowie unter anderem TÜV zertifizierte KI Trainerin. Auf ärztestellen.de gibt sie regelmäßig Tipps zu Führungs-Themen. Als Leiterin des Instituts für ein gesundes Arbeitsleben im Gesundheitswesen (INSTGAG) begleitet sie Ärztinnen und Ärzte, Pflegefachkräfte und andere Zusammenarbeitende im Gesundheitswesen dabei, sich und andere besser zu führen. Kontaktieren Sie Sonja Güthoff gerne unter info@sonjaguethoff.de.
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